Nach dem Eintritt von Bosnien und Herzegowina 1918 in das Königreich Serbien (ab 1920 Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen; 1929 Königreich Jugoslawien) brachten die Jahre nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg und die Lage im wirtschaftlich unterentwickelten Königreich schwere wirtschaftliche Existenzkämpfe mit sich.
In dieser Zeit halfen Laura-Luna Papo Bohoreta ihre Sprachkenntnisse, ihre Familie mit Nachhilfestunden in Französisch, Latein und Deutsch (das sie im österreichischen Schulwesen gelernt hatte) zu unterstützen. Luna-Lauras jüngere Schwester Blanka war ebenso begabt und ambitioniert, aber die Eltern förderten – traditionsgemäss – den (weniger begabten) jüngsten Sohn Isak. Die Schwestern Nina, Klara und Rivka eröffneten in Sarajewo einen Hutsalon „Chapeau Chic Parisien“, mit der Überlegung, modebewussten Mitbürgerinnen, die sich Einkäufe im Ausland nicht mehr leisten konnten, „Pariser Chic“ auch in der Heimat zu ermöglichen. Rivka betätigte sich zudem als „Modedesignerin“. Als sie im Jahre 1911 für ihre Schwester Blanka eine Geburtstagsfeier mit Sketches, Klaras Klavierbegleitung, Lauras Gedichten und Ninas Kostümentwürfen veranstalteten, sprachen sich die Talente der Töchter Levi in der Stadt herum, sodass Lauras Stücke von Amateurtheatern übernommen und die Schwestern als Klavierlehrerinnen und „Dramaturginnen“ sowie Kostümschneiderinnen engagiert wurden – eine zusätzliche Hilfe für das Familienbudget. An Theaterstücken in Ladino, der jüdisch-spanischen Sprache, bestand in Sarajewo wenig Interesse. Kleinere Theater in der Provinz zeigten sich dafür jedoch aufgeschlossen: 1919 wurde im Theater des „Jüdischen Nationalvereins“ („Židovsko nacionalno društvo“) in der Stadt Viso das Stück Las hadras de Pesah (Vorbereitung auf Pessah) in Lauras eigener Regie aufgeführt. Ihre Schwester Rivka tanzte, und die jüngste Schwester Blanka begleitete sie auf dem Klavier. Der Erfolg sprach sich bis nach Sarajewo herum, sodass der jüdische Wohltätigkeitsverein „La Benevolencia“ ein Stück bestellte. Laura wagte es in Sarajewo aber nicht, mit ihren Stücken an die Öffentlichkeit zu gehen; so adaptierte sie ein französisches Lied zu einem Dramolett, La molinera i la karvonera (Die Müllerin und die Köhlerin).
Laura Papo Bohoreta. Foto: Mit freundlicher Genehmigung des Jüdischen Historischen Museums (Jevrejski Istorijski muzej), Beograd.
Zu dieser Zeit versuchte sie sich an Zeitungsartikeln über das Leben der Sefardim, an Theaterstücken und Nachdichtungen von Sonetten aus der Literatur der sefardischen Juden in Spanien und schrieb für Lokalzeitungen Kurzgeschichten. Diese, ebenso wie die Theaterstücke, sind eigentlich Dialoge zwischen Müttern und Töchtern. Die Mütter sprechen zwar über ihr Leben, ihre Aufgaben, Wünsche und Sehnsüchte, vermitteln sie den Töchtern, aber nicht zur Ermunterung, sich von den Traditionen zu lösen, sondern zur Aufforderung, sich rechtzeitig darauf vorzubereiten. In diesen – nicht sehr tiefgründigen – Dialogen und Monologen lassen sich Einflüsse von Themen der damals auch in Sarajewo zumindest bekannten, wenn auch nicht besonders populären Frauenbewegung feststellen: In Sarajewo entstand unmittelbar nach dem Ende des Ersten Weltkrieges eine feministische Szene. Ärztinnen, Lehrerinnen, die sich schriftstellerisch betätigten und journalistisch tätige Frauen traten an die Öffentlichkeit. Zofka Kever (Ljubljana 1878 – Zagreb 1926), die als Zeitungskorrespondentin 1900 in Prag, dann in Triest und in Zagreb gearbeitet und Romane zu sozialkritischen Themen veröffentlicht hatte, wirkte zudem als „Antikriegs-Propagatorin“. Die österreichische Sozialdemokratin Martha Tausk (Wien 1881 – 1957 Nijmegen), in der Ersten Republik Mitglied des Grazer Stadtrates und des Steiermärkischen Landtages, Gründerin und Redakteurin der Zeitschrift Frauenrecht der Sozialistischen Arbeiter-Internationale (bis 1934) regte Laura Papo Bohoreta zu Übersetzungen für einheimische Zeitungen an. (Martha Tausk emigrierte vor dem Anschluss nach Nijmegen, Holland, nach der Besetzung der Niederlande weiter in die U.S.A. Sie kehrte aber 1945 wieder nach Nijmegen zurück und vertrat bis 1948 die dort lebenden österreichischen Emigranten.)
Lauras Interesse an „frauenrechtlichen, feministischen Themen“ drehte sich um das traditionelle Rollenbild der Frauen generell in der bosnischen Gesellschaft und jenes der Sefardin. Dieses konfrontierte sie mit den realen Herausforderungen durch die soziale Not der Nachkriegszeit: Öffentliche Aufmerksamkeit erregte sie mit einer Replik auf einen Zeitungsartikel in der deutschsprachigen bosnischen Zeitung Bosnische Post (1916). Die Autorin dieses Artikels, Jelica Bernadzikowska Belović (Osijek/Esseg 1870 – Novi Sad, Serbien 1946) war eine kroatische Ethnografin, die kroatische Volkskunst sammelte und wissenschaftlich auswertete, aber auch Kinderbücher und Bücher für Jugendliche, pädagogische Abhandlungen und Musikkritiken in den Zeitungen schrieb. Sie hatte im zitierten Zeitungsbeitrag „die Sefardin“ als Hüterin patriarchaler Werte, als demütige, gehorsame Frau ohne besondere Bildung beschrieben. Laura antwortete dieser Autorin eine Woche später, auf Deutsch, unter dem Titel Sephardska žena/Die Sefardin und bestritt temperamentvoll deren Aussagen. „Die Sefardin“ sei als Frau im Rahmen der damals Frauen gewährten Möglichkeiten als durchaus „emanzipiert“ zu betrachten, behauptete Luna-Laura. Keine Sefardin lasse sich nämlich nur auf ihren Platz im Haus beschränken. Sefardinnen hüteten vielmehr das kulturelle Erbe ihres Volkes, ihre Sprache und Sitten, und tradierten diese für die nächsten Generationen. Sie mussten sich jedoch auch in den sozialen Umwälzungen ihrer Zeit bewähren, zwischen der Vergangenheit und einer ganz anderen Gegenwart lavieren und in den wirtschaftlichen Nöten ihrer Gegenwart durch ihre ausserhäusliche Tätigkeit die Familie ernähren. Dabei konnte sie auf ihr eigenes Beispiel und das ihrer Schwester verweisen.
Lauras Schwestern – die fünf Töchter von Leon und Esther Levi, von li.: Riki, Blanka, Nina, Laura, Klara, Sarajevo 1933.
Der Literaturhistoriker Muhamed Nezirović konnte diese Zeitungsreplik nur in Form einer handschriftlichen Notiz, flüchtig hingeschrieben finden, offenbar ein Entwurf des Artikels, dessen Original nicht mehr auffindbar war. Die Ausführungen aus dem mutmasslichen Artikel verwertete Luna-Laura in einem umfangreichen Text, der ebenfalls als Auseinandersetzung mit einem frauenrechtlichen „Traditionalisten“, dem Schriftsteller Avram Romano Buki (1884 Sarajewo – ?) konzipiert war. Es handelt sich um einen „Dialog zweier Nachbarinnen in einem Hof“ (Dos vizinas in el kortiž), veröffentlicht in der Zeitschrift Jevrejski život („Jüdisches Leben“): Die eine Nachbarin, Lea, behauptete, Schulen für Frauen gehörten verboten, denn sie verdürben die jungen Frauen. Diese wollten nicht mehr Hausarbeiten verrichten und auch nicht mehr ihren Männern dienen. Die andere Nachbarin konterte, indem sie Buki „Konservativismus“ vorwarf. Sie wies Buki darauf hin, dass in den neuen Zeiten, in den Zwanzigerjahren die Frauen ihr Überleben nur durch Bildung sichern könnten. Ein solcher „Dialog“ unter dem Titel Majke (“Mütter“) wurde als unveröffentlichtes Manuskript im Nachlass gefunden und vom Literaturhistoriker Muhamed Nezirović in seine Bibliographie der Werke von Laura Papo Bohoreta aufgenommen. Im Dialog verwies Laura auf ihre eigene Biographie, die die Bedeutung von Bildung und Berufstätigkeit für Frauen als unbedingtes Muss, zumal in der Wirtschaftskrise und in familiären Schwierigkeiten, unterstreicht. Auf Anregung eines Sprachwissenschaftlers für jüdisches Spanisch, Dr. Vita Kajon (1888–1941 in Jasenovac ermordet) entstand aus den Notizen zur Auseinandersetzung mit Jelica Bernadzikowska Belović eine richtige „Abhandlung“ über das Leben der sefardischen Frauen in Bosnien und Herzegowina, La mužer sefarda, in Kapitel gegliedert: ihr Verhältnis zu ihren Eltern, Vorfahren und den Angehörigen der eigenen Familie sowie zu den Dienstboten, Freundinnen und Nachbarn bzw. Nachbarinnen, aber auch ihre Lebens-, Ernährungs-, Bekleidungsgewohnheiten – und dies alles in jüdischem Spanisch. Muhamed Nezirović hat diese Schrift aus dem Original ins Bosnische übersetzt und veröffentlicht.
Im gleichen Jahr veröffentlichte die Zeitschrift Jevrejski život die Novelle in Fortsetzungen Morena („Die Schwarze“, auch „Schwarzhaarige“): die Geschichte einer jungen Frau, die sich genau diesen Herausforderungen stellt. Für die damalige Presse waren diese literarischen Veröffentlichungen, namentlich Lunas Reaktion auf Jelicas Artikel und die umfangreiche Porträtierung einer Sefardin neu und ungewöhnlich, denn publizistische Tätigkeit entsprach, trotz der Präsenz von Frauen im Zeitungswesen, noch immer nicht dem Verständnis der Öffentlichkeit von der Position der Frauen. Die kroatische Historikerin an der Universität Osijek und Mitwirkende des Portals Vox feminae, Ana Rajkovic, bescheinigt Luna-Laura aufgrund dieser Studie “feministisches Denken“ und bezeichnet sie ohne Einschränkung als „erste Feministin auf dem Balkan“. Luna-Laura hat jedoch in diesem Text die Lebenswirklichkeit der Sefardin nicht analytisch, sondern deskriptiv dargestellt – weil sie eine ganz andere Absicht verfolgte. Ihr ging es, nach ihren eigenen Worten, darum, die Welt der sefardischen Juden in Bosnien in deren eigener Sprache, in Ladino, dem jüdischen Spanisch zu beschreiben: „La mužer sefarda de Bosna“, sie, die schon seit Jugendtagen spanische Literatur – Poesie, Romanzen, Novellen, Dramolette in spanischer Sprache gelesen und gesammelt hatte, wollte diese Sprache vor dem Vergessen bewahren, die Erinnerung an die Herkunft hochhalten und ihr als Erbin der Iberischen Kultur, wenn auch in einen anderen „Boden“ verpflanzt, weiterhin verbunden bleiben.
Laura Papo Bohoreta mit ihren beiden Söhnen.
Luna-Laura behandelte „Frauenrechte“ zwar kritisch gegenüber der Gegenwart, unkritisch-nostalgisch hingegen im Blick auf die traditionellen Sefardinnen, die liebevollen und geduldigen, weil nicht durch Doppelbelastung zermürbten Ehefrauen und Mütter. Sie verfasste kritische Artikel, die die Benachteiligung der Frauen in der Industrialisierung betraf. Für Frauen in aussserhäuslichen Berufen forderte sie gleichen Lohn für die „gleich harte Arbeit“. Kritik übte sie auch an der in ihren Kreisen üblichen Auffassung von Frauenarbeit: diese würde nur geduldet, wenn die Frauen in der Wirtschaftskrise für die Aussteuer verdienten. Aber nach der Arbeit müssten sie auch noch den Haushalt machen oder der Mutter im Haushalt helfen. Früher hätten die Väter für die Mädchen gesorgt, und ihnen dann auch einen Bräutigam ausgesucht, so dass sie nicht ausserhäuslich arbeiten müssten. Daher konnten sie als Ehefrauen auch so geduldig und liebevoll sein. Dass sie eine entschiedene Gegnerin des traditionellen Rollenverständnisses der Frau generell in der Gesellschaft gewesen sei, lässt sich aufgrund dieser Schrift nicht ablesen. Früher verfasste Dialoge zwischen Müttern und Töchtern, als Dramolette aufgeführt, schwankten nicht so deutlich zwischen dem Realitätsbewusstsein der Autorin und ihrer Nostalgie – dies ist ja auch durch ihr Bemühen um Erhaltung des traditionellen Ladino bekundet. Schon nach der Rückkehr ihrer Familie aus Istanbul (1908) nach Sarajewo glaubte sie ein Versiegen der sefardischen Traditionen in Bosnien bemerkt und den Impuls gefühlt zu haben, noch alle diese Traditionen aufzuzeichnen und zu sammeln, um sie vor dem Vergessen zu bewahren. In ihrer eigenen Familie wurde ihr bewusst, wie wenig jüdisches religiöses Leben gepflegt wurde: Sie und ihre jüngste Schwester Blanka heirateten noch jüdische-sefardische Männer, die älteren Geschwister hingegen Partner aus der kroatischen und serbischen Gesellschaft in Bosnien und Herzegowina. Besonders der Mutter, Ester Levi, schien überhaupt nicht daran gelegen zu sein, dieses Element der Tradition zu erhalten.
Teil I ist in Heft 145, Sommer 2025 erschienen.
Die Fortsetzung, Teil III, folgt in Heft 147, Chanukka 5786/ Dezember 2025.
Nachstehende Fotos stammen aus dem „Literaturbestand“ des Jüdischen Historischen Museums Belgrad (Jevrejski Istorijski muzej, Beograd, JIM), dem auch für die Erteilung des Copyrights gedankt wird.