Alice Charlotte von Rothschild (1847–1922). Foto: F. Weisbrod, Quelle: The Rothschild archives, Wikimedia commons, gemeinfrei: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Alice_Charlotte_von_Rothschild_(1847-1922).png
Alice Charlotte de Rothschild wurde als achtes Kind von Anselm Rothschild (1803–1874) aus der Wiener Linie der Familie und Charlotte de Rothschild (1807–1859) aus der Londoner Linie am 17. Februar 1847 in Frankfurt am Main geboren. Aufgewachsen in Wien, blieb sie unverheiratet und lebte ab ihrem 19. Lebensjahr bei ihrem Bruder Ferdinand de Rothschild (1839–1898) in England.
Waddesdon Manor, Gartenanlage. Foto: T. Walzer, mit freundlicher Genehmigung.
Ein weiterer ihrer Brüder, Nathaniel Meyer von Rothschild (1836–1905), legte in den 1860er Jahren den botanischen Garten auf der Hohen Warte an („Rothschildgärten“, mit deren Erträgnissen die Wiener Freiwillige Rettungsgesellschaft unterstützt wurde; 1938 enteignet, heute Parkanlage der Stadt Wien) und installierte daneben auf Wunsch seiner englischen Gärtner 1894 den First Vienna Football-Club samt Stadion.
Ferdinand erbaute unter anderem 1874 Waddesdon Manor im südenglischen Buckinghamshire. Das Anwesen war zum Empfang von Gästen gedacht und beherbergte neben exquisiten Möbeln – viele darunter aus dem früheren Besitz der französischen Königin Marie Antoinette – auch alle anderen Sammlungen Ferdinands. Seine Kunstkammer lässt Besucher heute noch staunen: von atemberaubender Schönheit sind die dort versammelten Kleinodien. Ebenso beeindruckend wie das Innere des Schlosses sind dessen ausgedehnte Gartenanlagen.
Villa Victoria, Grasse, vor 1922. Quelle: http://apieddansgrasse.free.fr/?page_id=27
Dass all dies heute noch so erhalten ist wie vor bald 150 Jahren, ist Alice de Rothschild zu verdanken. Selbst ebenfalls eine bedeutende Kunstsammlerin, betreute sie nach dem frühen Tod ihres Bruders als dessen Erbin den Nachlass mit Umsicht und enormem Sachverstand. Die von ihr zum Zweck der langfristigen Erhaltung der Sammlungsgegenstände und Baudenkmäler festgelegten Regeln bewährten sich derart, dass Miss Alice’s Rules sogar zur Handlungsanleitung des National Trust1 wurden. Alice de Rothschild vererbte Waddesdon Manor an den Sohn ihrer Lieblingsnichte und Präsidenten der Palestine Jewish Colonization Association2, James Armand de Rothschild (1878–1957); dieser übergab dann testamentarisch Waddesdon Manor an den National Trust. Seither stehen die Räumlichkeiten mit ihren Kunstschätzen, aber auch der weitläufige Park dem Publikum offen. Die Gartenanlagen wurden in den letzten Jahren originalgetreu restauriert und präsentieren sich nun wieder als Spiegelbild des viktorianischen Zeitalters – damit sind sie als Gartenanlagen, wie das hauseigene Guidebook schreibt, in ganz England einzigartig. Zu den Gärten gehörte auch ein Aviarium wo seltene Vögel aufgezogen wurden und werden. Bis heute trägt diese zoologische Zucht und Sammlung zur Rettung vom Aussterben bedrohter Arten auf der ganzen Welt bei. All dies ist Alice de Rothschild zu verdanken, die ihr Leben der Erhaltung dieser einzigartigen Anlagen widmete.
Im Park der Villa Ephrussi, St. Jean-Cap Ferrat, Côte d‘ Azur, Frankreich. Foto: T. Walzer, mit freundlicher Genehmigung.
Alice de Rothschild zog in späteren Jahren gesundheitlich das mildere Klima Südfrankreichs während der kalten Monate vor und fand sich dort zugleich in der Nähe Verwandter wieder: im nahen Cannes bewohnte ihre Cousine Laura Thérèse von Rothschild die Villa Rothschild. Nahe der Parfumstadt Grasse erwarb Alice ein ausgedehntes Grundstück aus Olivenhainen für sich selbst. Ihre neu errichtete Villa Victoria verfügte, so wie Waddesdon Manor, über grossartige Gartenanlagen. Alice als passionierte Spezialistin für Landschaftsgärten und Botanik hatte diese selbst entworfen und beschäftige zeitweise bis zu einhundert Gärtner. Ihre Sammlung seltener Pflanzen, Kakteen und Aloe-Varianten, Zitronen- und Orangenhaine wie auch Mimosen aller Art erblühten zwischen Oktober und März, bis unter den Olivenbäumen Blumenteppiche aus abertausenden Parma-Veilchen erschienen, um vom Abschied der Hausherrin Richtung England zu künden. Selbst die Queen Victoria war in der zu ihren Ehren benannten Villa zu Gast (ebenso wie in Waddesdon Manor), um die exotische Kunstlandschaft zu besichtigen, und wurde von der energischen Alice für unachtsames Niedertreten von Pflanzen gerügt: „Get out“, soll diese zur Monarchin gesagt haben. Bei ihr hatte Alice, wenn man der Anekdote Glauben schenken darf, fortan den Spitznamen „The All-Powerful One“.
Der atemberaubend schöne Garten der Villa Victoria, wie er von Alice de Rothschild angelegt wurde, in Grasse, vor 1922. Quelle: http://apieddansgrasse.free.fr/?page_id=27
Auch eine weitere Cousine, Charlotte Béatrice Ephrussi de Rothschild (1864–1934), die Tochter des Pariser Familienoberhaupts der französischen Linie, Alphonse James de Rothschild (1827–1905) und Ehefrau von Maurice Ephrussi (1849–1916) machte Alice im nahen Grasse ihre Aufwartung. Béatrice hatte sich nach dem Beispiel des verwandten Orientalisten Théodore Reinach3 eine Villa in St. Jean-Cap Ferrat erbauen lassen und sieben Themengärten dazu entworfen, samt einem privaten Zoo exotischer Vögel und anderer seltener Tiere. Villa und Park vererbte Béatrice Ephrussi de Rothschild der Académie des Beaux Arts; auch dieses Rothschild-Anwesen ist seither als Museum der Öffentlichkeit zugänglich. Die Gartenanlagen der Villa Victoria hingegen wurden nach Alices Tod am 3. Mai 1922 der Stadt Grasse geschenkt: sie sollten der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Die Stadtverwaltung liess die weitläufigen Gründe anstatt dessen allerdings parzellieren und von dem prächtigen Ensemble sind heute nur mehr vereinzelte Altbaumbestände und Landschaftseinbauten erkennbar; aus der Villa wurde das Parc Palace Hotel (später Hôtel Provençal). Wenigstens benannte die Stadt Grasse eine Strasse nach ihrer Gönnerin, den an die Avenue Victoria anschliessenden Boulevard Alice de Rothschild.
Die Pariser Wohnungen des Familien-Clans Rothschild–Ephrussi–Reinach–Camondo lagen übrigens allesamt einander benachbart in der Rue de Monceau. Edmund de Waal spürt in seinem jüngsten Werk, einem Briefroman, den Verbindungen zwischen den Familien Ephrussi und Camondo nach. Es ist ein poetischer Brückenschlag in die Vergangenheit der berühmtesten Familien ihrer Zeit, ein Versuch, die Vorfahren im eigenen Kontext emotional zu verorten, und ebenso berührend zu lesen wie die Geschichte der Netsuke-Sammlung von Charles Ephrussi, die bei de Waals Onkel Iggie Ephrussi gelandet war. Edmund de Waal sagte: "Ich habe Wien meine Familie restituiert." Hier hat er uns den ganzen Clan in Erinnerung zurückgerufen und die Geschichte bis in die Gegenwart fortgesponnen. Immer wieder kreist seine Erzählung um das Haus Camondo, heute Musée de Camondo in der Rue de Monceau. Es zählt zu den eindrucksvollsten Ausstellungsräumlichkeiten von Paris und vermittelt, ebenso wie Waddesdon Manor in England, bis heute die erstaunliche Lebenseinstellung dieser europäischen Grossfamilie.
Im Park der Villa Ephrussi, St. Jean-Cap Ferrat, Côte d‘ Azur, Frankreich. Foto: T. Walzer, mit freundlicher Genehmigung.
Edmund de Waals Fortsetzung seiner Familiengeschichte. Paul Zsolnay Verlag 2021.
Anmerkungen
1 britischer nichtstaatlicher Denkmalpflege-Wohltätigkeitsverein mit rund 6 Mio. Mitgliedern, 14.000 Angestellten und 53.000 freiwilligen Helfern, einem Jahreseinkommen von rund 700 Mio. Pfund und mit 250.000 ha Land sowie 780 Meilen Küste einer der grössten Grundeigentümer des Vereinigten Königreichs.
2 James de Rothschild pflegte Zeit seines Lebens enge Verbindungen zu Palästina und zählte zu den massgeblichen Unterstützern der Gründung eines unabhängigen jüdischen Staates. Seine Stiftung stellte jüdischen Siedlern Mittel zur Verfügung, um Land zu kaufen, Häuser zu errichten und eine landwirtschaftliche Infrastruktur zur Nahrungsmittelversorgung aufzubauen; vgl. auch den Beitrag von Werner Winterstein in dieser Ausgabe.
3 vgl. dazu auch Tina Walzer, Jüdisches Leben in Nizza. In: DAVID 129, Sommer 2021, S. 4ff.
Nachlese
Natalie Livingstone, The Women of Rothschild. The Untold Story of the World’s Most Famous Dynasty. John Murray Publishers 2021.
The Waddesdon Companion Guide. National Trust, Waddesdon Manor, 2017.
Edmund de Waal, Camondo. Eine Familiengeschichte in Briefen. Paul Zsolnay Verlag 2021.