Ausgabe

Zalman Schneurs verschollene Briefe

Tirza Lemberger

Inhalt

Lilah Nethanel: Hebräische Schreibkultur in Europa. Zalman Schneurs verschollene Briefe. Aus dem Hebräischen von Gundula Schiffer.

Deutsche Ausgabe Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht Verlag 2022.

124 Seiten, Euro 23,00.-

ISBN:978-3-525-33612-0

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Lilah Nethanel wird als Autorin und Wissenschaftlerin bezeichnet. Die vorliegende Schrift ist ein gewisser Beweis für beides. Das Thema lässt eine wissenschaftliche Abhandlung erwarten. In der Ausführung ist das Literarische nicht zu übersehen. Worum geht es hier?

Bereits 2019 hat Nethanel eine Monographie über den Dichter und Schriftsteller Zalman (Zelkind) Schneur veröffentlicht. In der nun vorliegenden Schrift geht es um dessen verschollenen Briefe, persönliche Hinterlassenschaften. Insbesondere handelt es sich um zwei Bündel von Briefen, um die verschollenen Briefe von Zalman Schneur, Briefe, die erst nach Schneurs Tod von seiner Tochter 2018 in Madrid aufgefunden wurden. Im Wesentlichen sind es Briefe seiner 1931 verstorben Mutter, in jiddischer Sprache geschrieben und an ihn gerichtet. Ein anderes Bündel enthält von ihm geschriebene Briefe, gerichtet an eine Bekannte in Berlin. Diese sind in deutscher Sprache verfasst. Es ist allerdings nicht ersichtlich, ob sie je versandt wurden. Antwortschreiben befinden sich nicht unter den Briefen.

 

Gleich zu Beginn wirft Nethanel die Frage auf, ob man persönliche Briefe überhaupt der Öffentlichkeit preis geben soll. Aus diesem Grund untermauert sie ihre Überlegungen bezüglich der Briefe mit einigen Zitaten, manchmal auch kurzen Passagen. Ganze Briefe hingegen werden nicht gebracht. Vielmehr sinniert Nethanel über die Umstände, die zu diesen Briefen geführt haben und über die Gefühle, die diese Briefe wohl auslösten. Briefe und Literatur – Nethanel macht einen auf den wesentlichen Unterschied zwischen beiden aufmerksam. Werke werden nach Plan geschrieben. Ehe man beginnt zu schreiben, sind Ziel, Weg und Verlauf festgelegt. Bei Briefen ist das nicht der Fall. Auch diese spiegeln die Zeit und ihr Geschehen wider, aber der Verlauf, das persönliche Schicksal, sind vom Schreiber nicht vorbestimmt.

Interessant ist der Gedanke, den Nethanel im letzten Teil des Buches äussert. Es geht dort um die jüdische, nicht unbedingt hebräische, Schreibkultur in Europa, allerdings nicht nur dort. Es geht um Literatur, die Juden geschaffen haben, wo auch immer sie lebten und in welcher Sprache sie auch immer schrieben, oder, wie Nethanel sich äussert – Literatur ohne festen Wohnsitz. Zalman Schneur ist ein gutes Beispiel dafür. Geboren in Shklov, heute Weissrussland, begraben in Israel. Stationen seines Lebens waren Russland, Polen-Litauen, Berlin, Frankreich, die U.S.A. und Israel. Seine literarischen Werke sind in Jiddisch und Hebräisch verfasst, die Briefe in Jiddisch, Hebräisch und Deutsch, die Korrespondenz mit seiner Tochter in Französisch.

 

Briefe sind Zeugen, nicht für die Literatur, aber sehr wohl für eine Schreibkultur, die Schreibkultur ihrer Zeit. Sie sind Zeugen des Geschehens, aber, wie alles andere auch, altern und vergilben sie, beginnen auszufransen, und irgendwann waren sie – sie sind nicht mehr. In dieser Schrift bewahrt Nethanel etwas von dieser Schreibkultur, den Briefen, vor dem Verschwinden, dem Vergessen. Sie bewahrt sie für die Zukunft.