Ausgabe

Damnatio memoriae in der Terra d’ Otranto1 Lecce und das salentinische Judentum

Sabine Mayr

Salentinische Glossen, mit hebräischen Schriftzeichen verfasst, zählen zu den ältesten Überlieferungen der italienischen Volkssprache. In einer Handschrift der Mischna aus dem 11. Jahrhundert, die in der Biblioteca Palatina in Parma aufbewahrt wird, wurden Kommentare in salentinischem Dialekt eingefügt. Für die Kenner der jüdischen Geschichte des Salento, Fabrizio Ghio und Fabrizio Lelli, zeigt sich hier die intellektuelle Strahlkraft der einstigen jüdischen Gemeinde von Lecce. Die Hauptstadt des Salento wird aufgrund ihrer barocken Bauwerke bewundert, während ihre unter spanischer Herrschaft ausgelöschte jüdische Vorgeschichte mühsam rekonstruiert werden muss.

Inhalt

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Das Jüdische Museum in Lecce wurde im Mai 2016 im Palazzo Taurino eröffnet. Links im Bild die Basilica di Santa Croce.

Nach einer dreihundertjährigen „damnatio memoriae“ wird die Geschichte des Judentums in Apulien nun akribisch erforscht, erklären Fabrizio Ghio und Fabrizio Lelli bei ihrem Rundgang durch das jüdische Lecce. Jüdische Friedhöfe waren beseitigt, Synagogen in Kirchen umgewandelt worden, während Zeugnisse der jüdischen Gemeinden Apuliens in anderen Gegenden Italiens und Europas auftauchten. Bibliotheken weltweit hüten heute mehr als vierzig in der Terra d’ Otranto angefertigte Handschriften mit religiösem, literarischem, philosophischem oder wissenschaftlichem Inhalt. Die Terra d’ Otranto umfasste einst die Gebiete der Provinzen Lecce, Taranto, Brindisi und Matera in der heutigen Basilikata. Von hier aus und in den weiter nördlich liegenden Hafenstädten Bari und Trani traten Pilger und Kreuzfahrer ihre Schiffsfahrten in den Nahen Osten an. Dank der Häfen wuchsen salentinische Städte wie Otranto, Gallipoli, San Cataldo, Taranto und Brindisi zu wichtigen Handelszentren, in denen verschiedene Kulturen zusammenkamen, deren Angehörige sich um sogenannte corti (Höfe) gruppierten. Aus einer solchen corte cittadina entstand die Giudecca, das alte jüdische Viertel in Lecce. Die im Landesinneren liegende Hauptstadt des Salento wird auch „Florenz des Südens“ genannt. Die Gräfin von Lecce, Maria d’Enghien, und ihr Mann Raimondo Orsini del Balzo, Fürst von Tarent, sowie deren Sohn Giovanni Antonio Orsini del Balzo waren jüdischen Einwohnern wohlgesonnen. Erst um 1440 änderte Maria d’Enghien ihre Haltung und verordnete diskriminierende Kleidervorschriften, wie sie bereits im Vierten Laterankonzil von 1215 beschlossen worden waren.

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Darstellungen aus David Nèzer Zahàv ibn Shòhams Sefer ha-hefetz ha-shallem. Quelle: Ghio/Lelli: Guida al Salento Ebraico, Capone Editore, Lecce 2018, S. 149, mit freundlicher Genehmigung.

Berühmte Juden in Lecce

Um 1430 stand David Nèzer Zahàv ibn Shòham der jüdischen Gemeinde in Lecce vor. Er hatte um 1415 in Specchia eine der elegantesten jüdischen Handschriften des Salento angefertigt: die illustrierte Übersetzung eines Teils des Kitàb al-tasrìf, der arabischen medizinischen Enzyklopädie, unter dem Titel Sefer ha-hefetz ha-shallem.2 Ausserdem verfasste er liturgische Texte. Als er in Korfu eine jüdische Gemeinde mitbegründete (noch vor der Vertreibung der Juden aus dem Salento ab 1510), flossen seine Hymnen in den korfiotischen Ritus ein. So blieben sie erhalten. Im deutschen aschkenasischen Ritus finden sich übrigens auch Lobgesänge, die bereits zwischen dem 8. und 12. Jahrhundert in den Schulen von Oria und Otranto komponiert worden waren, erklären Fabrizio Ghio und Fabrizio Lelli. Quellen weisen darauf hin, dass salentinische Juden um das Jahr 1000 vor byzantinischen Repressionen in den Norden Italiens und von dort auch an den Rhein geflohen waren. Avrahàm ben Moshè de Balmes, ein in Lecce lebender jüdischer Arzt katalanischer Herkunft, verschriftlichte in seiner Funktion als Leibarzt Giovanni Antonio Orsini del Balzos die damals gängigen Methoden, die Verbreitung der Pest zu verhindern. Als Giovanni Antonio Orsini del Balzo 1463 starb, kam es in der Giudecca zu einem Pogrom. Avrahàm ben Moshè de Balmes wurde nun Leibarzt des Königs von Neapel, Ferrante oder Ferdinand I. von Aragón und gab die Anfertigung medizinischer, astronomischer, philosophischer und juridischer Handschriften in Auftrag. Sein in Lecce geborener Enkel Avrahàm ben Meìr de Balmes erhielt 1492 von Papst Innozenz VIII. ein Diplom, das ihm als Arzt erlaubte, Christen zu behandeln.

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Die Darstellung zeigt vermutlich Eliyyà ben David ibn Shóham. Quelle: Ghio/Lelli: Guida al Salento Ebraico, Capone Editore, Lecce 2018, S. 4, mit freundlicher Genehmigung.

Vertreibungen

Unter der Herrschaft der Krone von Aragón trat in Apulien zunächst erneut eine Phase wirtschaftlichen Aufschwungs ein, die jüdische Einwanderer anzog, vor allem von der iberischen Halbinsel. Dort hatten 1492 Isabella von Kastilien und Ferdinand II. von Aragón mit dem Alhambra-Edikt die Vertreibung der Juden angeordnet. Drei Jahre darauf wurde die Giudecca von Lecce im Zuge der Bedrohung durch Frankreich geplündert. Ferdinand II. verteidigte Neapel gegen Frankreich (das Haus Anjou und Seitenlinien hatten hier bis 1442 regiert); er wurde 1505 zum König von Neapel gekrönt. Im Jahr 1510 zwang er Juden, nun auch den Salento zu verlassen. Avrahàm ben Meìr de Balmes zog nach Venedig, wo seine Lateinübersetzungen von Werken des Averroes und des Aristoteles aus dem Hebräischen publiziert wurden. 1523 wurde dort auch seine berühmte Grammatik der hebräischen Sprache Miqnè Avram (lat. unter dem Titel Peculium Abrae) gedruckt.3 Viele Juden flüchteten in andere Regionen Italiens, über die Adria nach Korfu oder Thessaloniki in der Hoffnung, bald wieder zurückkehren zu können. Die Hoffnung zerschlug sich, als Kaiser Karl V. 1541 ein zweites Dekret zur Vertreibung der Juden aus Apulien erliess.

 

Jüdischer Alltag

Unter den frühen, im salentinischen Dialekt abgefassten Dokumenten findet sich ein mit 14. März 1399 datierter, im Staatsarchiv Venedig konservierter Brief des Kaufmannes Sabatino Russo, „ebreo di Lecce“, an seinen venezianischen Handelspartner Biagio Dolfin, in dem er seinen Handel zwischen Alexandrien und Venedig beschreibt. In Lecce wohnten Juden in – für damalige Verhältnisse – etwas grösseren Häusern, die mit einem Magazin und einer Werkstatt ausgestattet waren. Sie handelten unter anderem mit Zedernholz, Zitruspflanzen, Bändern und Lumpen, übten das Handwerk der Weberei, Gerberei, Färberei oder Seifensiederei aus. Wie aus den Zeugnissen der aus Lecce vertriebenen Juden hervorgeht, gab es jüdische Ärzte, Literaten, Philosophen und weitere Gelehrte, die zahlreicher Sprachen kundig waren. Die wenigen erhaltenen Grabinschriften, wie jene für einen „Pater Lypiensium“ aus dem Jahr 1521, dokumentieren den Gebrauch von Griechisch, Lateinisch und Hebräisch.

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Gemeinsam mit der Chiesa di Santo Stefano in Soleto gelten die ebenfalls von Raimondo Orsini Del Balzo beauftragte Basilica di Santa Caterina d’Alessandria in Galatina und deren Fresken als spätgotischer Höhepunkt. Im Ausschnitt werden Juden mithilfe spezieller Symbolsprache herabgewürdigt (Profil, Gesichtszüge, Kleidung).

Das Museum von Lecce

Das Jüdische Museum in Lecce befindet sich im Palazzo Personè, nach dem jetzigen Eigentümer auch Palazzo Taurino genannt. Hier, mitten in der einstigen Giudecca, wurde auch eine Synagoge vom Standort her identifiziert und dem sefardischen Ritus zugeschrieben. Als Überrest der Synagoge gilt eine im benachbarten Palazzo Adorno aufgefundene, fein ausgeführte Gebäudeinschrift, die ein Zitat der biblischen Erzählung von Jakob aus dem Buch Genesis 28,17 wiedergibt: „Hier ist nichts anderes als das Haus G‘ttes“. Ferner gibt es noch eine Säule, die für die spätere Kapelle mit dem Bildnis „San Francescos“ aus Paola in Kalabrien versehen wurde, weiters eine Vertiefung in der Mauer für die Mesusa sowie mehrere Becken im Boden, die ursprünglich vermutlich als Mikwe funktionierten, zumal der Karstfluss Idume nicht nur für handwerkliche Tätigkeiten, sondern auch für das Ritualbad genutzt wurde. Ende des 15. Jahrhunderts wurde diese Synagoge in die Kapelle der Santa Maria dell’Annunziata umgewandelt. In den 1570er Jahren gebrauchten Jesuiten die nunmehrige Kapelle, bevor sie ihre Chiesa del Gesù errichteten. Neben dem Palazzo Taurino protzt hingegen die im Laufe des 16. und 17. Jahrhunderts von Jesuiten errichtete Basilica di Santa Croce, ein gegenreformatorischer Kraftakt, Ergebnis der unter Karl V. begonnenen radikalen symbolischen Transformation und Umstrukturierung, die Ghio und Lelli im Hinblick auf die jüdische Geschichte als „damnatio memoriae“ werten.

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Hassrede im Mittelalter: In der von Raimondo Orsini Del Balzo in Auftrag gegebenen, griechisch-orthodoxen Chiesa di Santo Stefano in Soleto, Provinz Lecce, wurden, möglicherweise nach seinem Tod 1406, Fresken nach spätgotischer, lombardischer Schule angebracht. Sie zeigen Gewaltausführende mit einem roten Kreis, der sie für alle deutlich erkennbar als Juden markiert, wodurch Juden christlichem Hass ausgeliefert wurden. Die karikaturartige, hetzerische Darstellung wird auf die ersten Jahrzehnte des 15. Jahrhunderts datiert.

Manduria

Die Giudecca der kleinen Stadt Manduria auf halber Strecke zwischen Taranto und Nardò entstand vermutlich im 13. Jahrhundert in der Zeit antijüdischer Repressalien des Papstes Innozenz III. In den verwinkelten, engen Gassen stehen eine Synagoge und die „Casa del Rabbino“. 1648 wurde die Giudecca mit Toren abgesperrt und zum Ghetto. Laut dem Rechtsanwalt Gianfranco Gigli, dem heutigen Eigentümer des Synagogengebäudes, verdichten bauliche Merkmale die Annahme, dass die Sy- nagoge mit ihrem Mikwe-Becken auch hier in eine Kapelle transformiert worden ist. Es handelt sich dabei um ein oberhalb der Hauseingangstür, rechts der Synagoge, in die Mauer eingraviertes, grosses „C“, weiters linkerhand davon die Kurzformel „IHS“ im Fenstersims, und dazu noch die Darstellung eines Menschenkopfs direkt über der Eingangstür zur Synagoge, wohl angebracht, um das Gebäude dem Judentum zu entfremden.

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Innenraum der Synagoge in Manduria.

Shabbetày Donnolo in Oria

In Oria führt die Porta degli Ebrei ins mittelalterliche jüdische Viertel von Oria. Die Piazza vor dem Judentor ist nach dem 913 hier geborenen Arzt und Gelehrten Shabbetày Donnolo benannt. Er ist der Verfasser des ersten medizinischen Werkes in Europa, des Sefer ha-mirqahòt (dt. „Buch der Mixturen“). Ausserdem schrieb er auch das Sefer hakemonì (dt. „Buch des Wissenden“). Der literarische Chronist Ahima’atz ben Paltièl aus Oria wurde bereits eingangs erwähnt.

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Gianfranco Gigli, Eigentümer und Bewahrer der alten, in eine Kapelle transformierte Synagoge in Manduria. Im Zuge der Umwandlung der alten Synagoge in Manduria in eine Kapelle wurde eine menschliche Darstellung über dem Eingang angebracht.

Trani und Andria

In der Giudecca von Trani können heute noch zwei Synagogen besichtigt werden: die Scola Nova gilt hier als älteste heute noch genutzte Synagoge Europas, während die Grosse Synagoge als Museum dient. Die Scola Nova wurde noch vor 1327 zur Kirche umgewidmet. Ähnlich erging es zwei weiteren Synagogen der Stadt, aus denen die Chiesa di San Leonardo beziehungsweise die Chiesa di San Pietro Martire entstanden. Wenn sich, wie so oft, ein Pogrom anbahnte, übersiedelten die Juden von Trani nach Andria, jene Stadt nahe dem Castello del Monte Friedrichs II. In den Fresken der Krypta der dortigen Chiesa di Santa Croce sind Juden ausnahmsweise ohne herabwürdigende Symbolik dargestellt. Erst vor wenigen Jahren hat die Historikerin Maria Pia Scaltrito die Lage einer einstigen Synagoge in Andria rekonstruiert.

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Das alte jüdische Viertel in Oria mit dem angenommenen Gebäude der einstigen Synagoge.

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Die Porta degli Ebrei an der Piazza Shabbetày Donnolo in Oria. Aus Oria stammt auch die jüdische Familie Qalonymos, von der sich die Namen Calò und Calimani ableiten. Unweit der Porta degli Ebrei wurden Gräber entdeckt, die auf einen weitläufigen, spätmittelalterlichen jüdischen Friedhof hinweisen.

 

Alle Abbildungen, wenn nicht anders angegeben:

S. Mayr, mit freundlicher Genehmigung.

Anmerkungen

1 Salento, Region der Halbinsel, die den äussersten Südosten Italiens bildet, im Mittelalter als Terra d‘ Otranto bezeichnet; auch „Absatz“ des „Stiefels“ Italien; Anm. d. Red.

2 Dt. "Buch des vollkommenen Besitzes", Specchia 1415. Im Bestand der Österreichischen Nationalbibliothek (Cod. Hebr. 30).

3 Avrahàm ben Meìr de Balmes: Miqnè Avram Peculium Abrae. Impressa in Aedibus Danielis Bombergi, Venedig 1523. Heute im Bestand der Österreichischen Nationalbibliothek (Signatur: 20.R.10).

 

Nachlese

Fabrizio Ghio, Fabrizio Lelli: Guida al Salento Ebraico. Capone Editore, Lecce 2018.

Maria Pia Scaltrito: Puglia. In viaggio per sinagoghe e giudecche. Fonti, personaggi e storie delle più antiche comunità ebraiche italiane. Mario Adda Editore, Bari 2017.