Das Jahr 1900 gilt als bedeutender Wendepunkt in der Geschichte der türkischen Aschkenasim.
Rabbiner Dr. David Markus. Foto: unbekannt. Mit freundlicher Genehmigung: R. Schild.
Das Jahr 1900 zeichnete sich durch das Eintreffen des jungen deutschen Rabbiners Dr. David Markus aus, der als Direktor der Goldschmidt-Schule und Rabbiner der neu gegründeten Synagoge bestellt worden war. Ihm gelang es in kurzer Zeit, die unter sich zerstrittenen, diversen nationalen aschkenasischen Fraktionen in eine Gemeinde zu vereinigen. Des Weiteren engagierte er sich innerhalb des 1901 gegründeten lokalen Hilfsvereins Deutscher Juden für humanitäre Unterstützung der teilweise stark verarmten aschkenasischen Bevölkerung Konstantinopels. Dr. Markus war von den zionistischen Ideen Theodor Herzls stark beeinflusst und gründete unter anderem auf der asiatischen Seite Konstantinopels die landwirtschaftliche Schule Messila Hadascha. Ausserdem rief er im Stadtteil Galata eine Thora-Schule ins Leben. Im Jahre 1908 ernannte Oberrabbiner Mosche Levi schliesslich Dr. Markus zum Oberrabbiner der Aschkenasischen Gemeinde, was jedoch keine Gleichwertigkeit beider Titel bedeutete und noch zu einiger Verwirrung beitragen sollte.
Instanbuls Topographie im frühen 20. Jahrhundert zeigt, dass Sefardim zumeist am Goldenen Horn sowie zu beiden Seiten des Bosporus, in den Gemeinden Ortaköy und Kuzguncuk wohnten, während die Aschkenasim vornehmlich den Konstantinopler Stadtteil Galata bevorzugten. Dort entwickelte sich in einer Enklave eine Art ethno-spezifisch aschkenasischen Lebens, ähnlich den Schtetln Osteuropas. So lebte man in den engen Gassen, Haus an Haus, um den Galata-Turm, ging jeden Morgen und Abend in die Synagoge um die Ecke, schickte die Kinder in die Goldschmidt-Schule, frequentierte die gleichen koscheren Restaurants und tanzte bei Hochzeiten zu Klesmer-kapelyes auf den Strassen. Der Westenschneider aus Odessa Yaakov Halevi Goldfeld (mein Urgrossvater mütterlicherseits) schickte seinen Lehrling mit fertig genähten Teilen zu seinem Auftraggeber, dem “alten Tschernowitzer” Aaron Schild (meinem Urgrossvater väterlicherseits), seines Zeichens “Zuschneider”, wobei der Junge unterwegs beim Konditor Landsmann vorbeikam und sich dabei ein Stück Lejkech (Honigkuchen) erschnorrte. 1 Um 1900 lebten in Konstantinopel einige Tausend aschkenasische Juden, denen bei einer Gesamtbevölkerung von etwa einer Million Einwohnern mehr als achtzigtausend Sefarden gegenüberstanden. Die österreichisch-ungarische Konsulargemeinde zählte damals etwa 10.000 Personen, darunter etwa ein Viertel Juden, überwiegend aus den östlichen Gebieten der Donaumonarchie. Manche waren de-facto Habsburgs Untertanen und standen so unter k.u.k. Konsularschutz.
Eine Strasse in Galata - rechts die Neve Schalom Synagoge. Foto: A.Modiano, mit freundlicher Genehmigung R. Schild.
Die Juden am Bosporus waren aufgrund ihres nationalen und sozialen Herkommens kein monolithischer Block. Sefardische und aschkenasische Juden hatten jeweils eigene Tempel und Gemeinden (letztere seit 1912), zudem bestanden innerhalb der Aschkenasim verschiedene Kasten. Schliesst man heute die Augen über einige Galata-Bordellbesitzer aus der Krim, kann man neben vornehmlich ländlichen Juden aus Rumänien und Moldawien auch Handwerker und Hausierer aus Polen, Galizien, der Bukowina und Russland nennen. Die gebildeteren Schichten stammten zumeist aus Österreich-Ungarn und Deutschland.
Zur Crème der Gesellschaft zählten Grosshändler und Bankiers, Importeure sowie Agenten bedeutender westlicher Firmen. Dazu kamen zahlreiche kaufmännische Angestellte. Viele Firmen hatten jüdische Geschäftsführer, da diese von Handelshäusern und Banken nicht zuletzt wegen ihrer Sprachkenntnisse bevorzugt wurden. Auch unter Advokaten, Ärzten, Mittelschullehrern und anderen gehobenen Berufen waren Juden stark vertreten. Viele standen in osmanischen Staatsdiensten.
Zu erwähnen wäre hier etwa das Bankhaus Frank & Adler, die Bankiers Hersch Sagalla und Hermann Klarfeld (Gründungsmitglied der österreichisch-ungarischen Handelskammer und Präsident der österreichisch-ungarischen Gemeinde in Konstantinopel), die Kommissionshäuser unter anderem von Paul Schild aus Czernowitz sowie von Isidor Baumgartner (dem Präsidenten des Ungarnvereins), die Wiener Konfektionsgrosshändler S. Stein und A. Mayer & Co., der aus Galizien stammende, heute als bedeutendster Herausgeber von frühen Ansichtskarten aus dem omanischen Reich bekannte Verleger Max Fruchtermann, der Advokat Wilhelm Ritter von Adler oder der Arzt Dr. Sigmund Spitzer aus Mähren.2
Die beeindruckende Liste darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Mehrzahl der Juden aus Österreich-Ungarn mittellos war und täglich um ihre Existenz kämpfte. Mit Ausnahme der Tabakfabrik von Konstantinopel, „wo Hunderte von jüdischen Mädchen beschäftigt werden, können die Juden keinerlei Fabrikarbeit finden und sind daher auf den kleinen Handel (mit Fischen, Geflügel u. dgl.) angewiesen, der kaum die bereits ansässigen Familien kärglich ernährt. […] Den Oberrabbiner von Konstantinopel (Haham-baschi), welcher der nahezu unumschränkte Herr über die hiesige Judengemeinde ist, trifft der gerechte und schwere Vorwurf, dass er nicht nur nichts zur Hebung der Bildung dieser Armen thut [sic!], sondern alles dazu beiträgt, um die Juden in ihrem Aberglauben und in ihrer geistigen Nacht zu erhalten.“3
Diesen Zuständen setzte die aschkenasische Gemeinde in der Folge allerdings energische Taten im Schulbereich entgegen, wie bereits geschildert.
Anmerkungen
1 Robert Schild: Zwischen Österreichischem Tempel und Schneiderschul – eine mühsame Suche nach österreichischen Juden in Istanbul, in: Österreich in Istanbul II (Hg. E. Samsinger); Wien, 2017, S. 113f.
2 Schild; a.a.O.
3 Neuigkeits-Welt-Blatt vom 7. November 1891, zitiert nach Schild; a.a.O.
Teil I dieses Beitrags ist in Ausgabe 133, Sommer 2022, erschienen.
Teil III folgt in der nächsten Ausgabe, DAVID Heft 135, Chanukka 5783/Dezember 2022.