Monika Kaczek
Siegfried Abeles: Tams Reise durch die jüdische Märchenwelt. Fünfundzwanzig Kindermärchen nach jüdisch-volkstümlichen Motiven von Friedrich Abeles. Illustriert von Victor Kosak. (= Historische Kinder- und Jugendbücher jüdisch-deutschsprachiger Autorinnen und Autoren, Band 2)
Berlin: Gans Verlag 2022.
151 Seiten, kartoniert, Paperback, Euro 20,60.-
ISBN: 978-3-946392-18-7
Neben seiner Tätigkeit als Lehrer für geistig beeinträchtige Kinder war Siegfried Abeles auch als Publizist tätig. So gestaltete er unter dem Pseudonym Onkel Ben Nathan die Kinderseite der Zeitung Menorah. Jüdisches Familienblatt für Wissenschaft, Kunst und Literatur. Als diese Zeitschrift 1932 eingestellt wurde, nahm Siegfried Abeles an einem Preis- ausschreiben teil, das jüdische Kinderliteratur förderte. Für seine Kunstmärchen erhielt er im März 1921 die ausgelobten Preise – 1. Platz, 2. Platz, 3. Platz – des Kulturamts des Jüdischen Hochschulausschusses Wien. Seine drei eingereichten Märchen wurden in den Band Tams Reise aufgenommen, der 1922 veröffentlicht wurde. Ulrich Leinz vom Berliner Gans Verlag ist es zu verdanken, dass ein wunderschöner Band von Tams Reise unter dem Titel Tams Reise durch die jüdische Märchenwelt heuer erschienen ist. Hundert Jahre nach der Veröffentlichung wurden der von Bettina Darsow erfasste Text und die von Amichai Green digital restaurierten Illustrationen von F. Victor Kosak erneut herausgegeben.
Die Märchen sind in drei Abschnitte gegliedert: Märchen, die der Bauer Jehuda beim Lesen der Bibel gesehen hat, Märchen, die der Bauer Jehuda im alltäglichen Leben gesehen hat und Märchen, die der Bauer Jehuda an Festtagen gesehen hat. Die LeserInnen erfahren über jüdisches Leben im Alltag und Tams Wunsch, nach Palästina auszuwandern. In ihrem Nachwort befasst sich Gabriele von Glasenapp, Professorin für Literaturwissenschaft und Literaturdidaktik mit Schwerpunkt Kinder- und Jugendliteratur an der Universität zu Köln, mit dem Entstehungskontext des Werks. Bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren Märchen in der deutsch-jüdischen Literatur praktisch nicht existent:
„Die Gründe für diese ablehnende Haltung sind vielfältig: Märchen, so wurde argumentiert, widersprachen mit ihren non-realistischen Elementen den von der jüdischen Seite verinnerlichten rationalen Prinzipien der Aufklärung.“ (S. 134)
Darüber wären Märchen mit der Romantik verknüpft worden, wo LiteratInnen oft antisemitische Haltungen gezeigt hätten. Deshalb ist Siegfried Abeles‘ Buch ein wichtiger Meilenstein und die Illustrationen des polnischen Künstlers F. Victor Kosak (1887 – 1968), die sich an den Werken von Ephraim Moses Lilien orientierten, steigerten die Attraktivität des Märchenbuchs. Bei Tams Wunsch, nach Palästina zu gelangen, zeigen sich auch Ideen des Zionismus:
„Zionistisches Gedankengut, das jedoch in ein märchenhaftes Umfeld eingebettet ist, und jüdische Tradition bilden auf diese Weise eine unauflösliche Einheit […].“ (S. 139)
Zum Autor
Der Pädagoge und Schriftsteller Siegfried Abeles wurde am 15. Jänner 1884 in Wien geboren und wuchs im mährischen Ort Nikolsburg (tschech. Mikulov) auf. Als junger Mann zog er wieder in seine Geburtsstadt, wo er an einer jüdischen Schule als Lehrer für geistig beeinträchtigte Kinder tätig war und Aufsätze zu gesellschaftlichen Themen veröffentlichte. Während des Ersten Weltkriegs arbeitete er in einem Heim für Kriegsblinde und publizierte Aufsätze über hebräische Blindenschriftsysteme. In der Republik Österreich war er als Inspektor der Kindergärten und Heimstätten des Vereins der Jüdischen Kinderfreunde pädagogisch tätig. Sein letztes nachweisbares Projekt war das Periodikum Benjamin. Zeitung für das jüdische Kind, wo er als Verleger und Herausgeber fungierte. Siegfried Abeles beging am 1. Juli 1937 Selbstmord.¹ Seine Frau Sabine Abeles geb. Griffel wurde 1943 nach Minsk deportiert, wo sie ermordet wurde. Ihr 1923 geborener Sohn Norbert, der am 17. September 1923 geboren wurde, konnte im Dezember 1938 mit einem Kindertransport nach Grossbritannien gerettet werden.
Anmerkung
1 https://www.nationalfonds.org/detailansicht/980