Ausgabe

Die Stumperschul Prototyp einer Wiener Hinterhofsynagoge

Hanns Christian Baldinger

Die Stumperschul erfüllte sämtliche Merkmale einer Hinterhof-Synagoge, war sie doch an allen vier Seiten von wesentlich höheren Baukörpern umgeben, sodass ihr die strassenseitige Sichtbarkeit gänzlich fehlte und der Zugang nur durch die Einfahrt des „Vorderhauses“ gegeben war. Die Ausführung war äusserst schlicht, was wohl auf nur gering zur Verfügung stehende Mittel zurückzuführen ist.

Inhalt

Die Stumperschul fungierte als Vereinssynagoge des „Thora und Bethausverein im 6. Bezirk“. Ihren Namen erhielt sie nach ihrer (seinerzeitigen) Lage im Hinterhof des Gebäudes Stumpergasse 42 im 6. Wiener Gemeindebezirk, und zwar im Innenhof eines U-förmig angelegten Eckgebäudes am Schnittpunkt der Stumpergasse mit der Schmalzhofgasse. Dieses dreigeschossige Wohnhaus wurde bereits im Jahr 1841 errichtet, und zwar unter der Konskriptionsnummer 315 Grosse Steingasse (1862 in Stumpergasse umbenannt). Der Zugang zu Haus und Innenhof befand sich in der Mitte der zur Stumpergasse gelegenen Hausfront, der Innenhof war ursprünglich unverbaut und wurde nach Norden durch das anschliessende Gebäude Schmalzhofgasse Nummer 21 begrenzt. Die Stumpergasse verläuft ausgehend von der Mariahilferstrasse ziemlich exakt von Nordwest nach Südost, die an das Haus Schmalzhofgasse angrenzende Schmalseite des Hofes lag somit in nordöstlicher Richtung.

 

Trägerverein

In unmittelbarer Nähe lag die in den Jahren 1883/84 vom prominenten Architekten Max Fleischer errichtete, wesentlich grössere Vereinssynagoge des „Tempelvereines für die Bezirke Mariahilf und Neubau“, die zwar ebenfalls in einer Art Hinterhofsituation gelegen war (der Zugang erfolgte von der Schmalzhofgasse durch das Haus Nummer 3), deren nach Südost gelegene Längsfassade allerdings vom anschliessenden Loquaiplatz gut einsichtig war, weshalb diese Synagoge in dem für die Fleischer-Synagogen typischen, an den zeitgenössischen Kirchenbau angelehnten, neugotischen Stil errichtet wurde. Die Bezirke Mariahilf und Neubau wiesen um 1890 einen relativ geringen Anteil jüdischer Bevölkerung auf (jeweils 3,9 Prozent), wobei sich nicht ausmachen lässt, wie hoch der Anteil der Orthodoxen war.
    Im Jahre 1893 legte Leopold Werter als Proponent des „Talmud, Thora und Bethaus-Vereines im 6. Bezirke“ entsprechende Statuten vor, welche mit Zustimmung des Vorstandes der israelitischen Cultusgemeinde vom 10. April 1893 an die k.k. niederösterreichische Statthalterei übermittelt und von dieser am 18. April 1893 genehmigt wurden. Statutengemässer Zweck des Vereines war "die Erhaltung eines israelitischen Bethauses im 6. Bezirke Wiens für die ordnungsgemässe Abhaltung des israelitischen G‘ttesdienstes nach dem orthodoxen Ritus in demselben …" (Statut, §1); ferner "die Errichtung einer Religionsschule (Talmud, Thora), um in derselben den Kindern der Vereinsmitglieder unentgeltlich Unterricht im Hebräischen erteilen zu lassen" (§2). Mitglied des Vereines konnte „jede in Wien domicilierende, volljährige Person israelitischer Religion werden“ (§4). Die Mittel des Vereines sollten "aus den Jahresbeiträgen der Mitglieder, dem Erlös der Verpachtung der Sitze im Bethaus, ferner aus freiwilligen Spenden, Legaten, Stiftungen, Spenden in die Sammelbüchse und Subventionen sowie sonstigen Einnahmen des Vereines" gebildet werden (§3). Am 29. Oktober 1896 wurde vom Vorstand der Kultusgemeinde die Namensänderung in „Israelitischer Tempel- und Schul-Verein“ genehmigt.

 

Liegenschaftsverhältnisse

Die Grundbücher der innerstädtischen Bezirke gingen bedauerlicherweise beim Brand des Justizpalastes im Jahre 1927 verloren, sodass eine verlässliche Rekonstruktion der Eigentumsverhältnisse betreffend die Liegenschaft Stumpergasse 42 nicht möglich ist. Bekannt ist, dass das Haus im Jahre 1921 von den Ehegatten Leo und Martha Ehrlich erworben wurde. Die Vorbesitzer jedoch können nicht eindeutig identifiziert werden. Bereits im Jahre 1891 wurden Pläne zur Errichtung einer Synagoge im Hof des Hauses Stumpergasse 42 beim Magistrat Wien eingereicht und auch genehmigt. Diese Pläne tragen – ohne Hinweis auf die Funktion des Unterfertigenden – die Unterschrift von David Marle. Dieser dürfte Bauwerber und somit Eigentümer der Liegenschaft gewesen sein, nicht aber der Planverfasser. Dieser Schluss ist eindeutig daraus zu ziehen, dass einer Todesanzeige vom 11. Jänner 1902, veröffentlicht von der Witwe Carola Marle, zu entnehmen ist, dass David Marle, Privatier und Hausbesitzer, am 9. Jänner 1902 im 62. Lebensjahre verstorben sei, wobei als Adresse des Trauerhauses 1060 Wien, Stumpergasse 42 angegeben wird. Der Proponent des Errichtervereines und der Eigentümer der Liegenschaft sind somit nicht ident, ungeklärt muss daher die Frage bleiben, auf Grund welcher rechtlichen Konstruktion der Eigentümer die Hoffläche zur Errichtung der Synagoge zur Verfügung stellte. Eine Abtretung der Grundfläche kam aus rechtlichen Gründen nicht in Frage, da die Bildung sogenannter Fahnengrundstücke auch nach der damals geltenden Bauordnung nicht genehmigungsfähig war, sodass am ehesten anzunehmen ist, dass die Synagoge trotz Errichtung in Massivbauweise als sogenanntes Superaedifikat (Bauwerk auf fremdem Grund) zu betrachten ist, vergleichbar etwa mit Marktständen, Praterhütten oder Schrebergartenhäusern.

Planung und Ausführung

Nach den im Wiener Stadt- und Landesarchiv vorliegenden Dokumenten sollte ein zweistöckiges Gebäude errichtet werden, welches direkt an den zur Schmalzhofgasse hin gelegenen Gassentrakt des Hauses Stumpergasse 42 angelehnt wurde und mit seiner Rückwand an die Nachbarliegenschaft (Schmalzhofgasse Nummer 21) stiess. Eine ursprüngliche Variante plante eine dreigeschossige Ausführung
mit einem sehr flach von der Hauswand zur Hofseite geneigten Pultdach, die aber nicht umgesetzt wurde. Insbesondere dem Querschnittsplan ist deutlich zu entnehmen, dass hier eine geringe Absenkung gegenüber dem Erdgeschossniveau des angrenzenden Altgebäudes vorlag und die Traufhöhe des Synagogendaches trotz seiner geringen Neigung knapp unter der Fensterunterkante des ersten Stockwerks des vorhandenen Gebäudes lag. Das Ausmass des Gebäudes lag bei 12,7 Metern Länge und 9 Metern Breite, sodass es den allergrössten Teil der Hoffläche einnahm. Darin waren die frontseitig gelegenen Aussentreppen zur Frauenempore noch nicht eingerechnet. An der Nordseite wurde offenkundig die bestehende Aussenwand des vorhandenen Hauses einbezogen, da hier keine eigene Feuermauer vorgesehen war. Die Fenster des bestehenden Gebäudes mussten somit geschlossen werden, hätten sie sich doch ansonsten in den Synagogenraum hinein geöffnet.

Dem Erdgeschossplan ist zu entnehmen, dass an der Eingangsfront in der Mitte eine Eingangstüre bestand, zu der zwei Stufen hinabführten, das Fussbodenniveau des Gebäudes somit gegenüber dem Hofniveau geringfügig abgesenkt war. Links und rechts von der Eingangstüre gab es je eine Fensteröffnung, in der südseitigen Mauer im hinteren Drittel einen Seiteneingang in den Parterrebereich. Der innere Aufbau ist – abgesehen von dem südöstlich gelegenen Seiteneingang – symmetrisch. Der Front vorgelagert war links und rechts je ein einfach gewendelter Freitreppenaufgang, der zu den Eingängen in die Empore führte. Das Plandokument verweist eindeutig auf die Sitzeinteilung für Parterre und Emporium. Der Parterrebereich weist 15 Sitzreihen linksseitig auf, von denen die ersten sieben (jeweils vom Haupteingang gezählt) beidseitig des Mittelganges je sieben Sitze aufweisen, die nächsten zwei nur je fünf – hier ergibt sich ein Rücksprung, weil sich in der Mitte der Bereich der Bima befindet. Linksseitig gab es weitere fünf Fünfer-Reihen und eine abschliessende Vierer-Reihe, rechts ergibt sich eine Unterbrechung durch den hier befindlichen Seiteneingang, dem nochmals zwei Fünfer- und zwei Dreierreihen folgen. Zwei Reihen unmittelbar an der Ostwand sind im Plan von Hand ausgestrichen. An der nicht exakt nach Osten ausgerichteten Rückwand ist ein Aufbau für den Tora-Schrein anzunehmen, der offenbar eine Säulenkonstruktion aufwies, was aus den links und rechts eingezeichneten Kreisen als Aufstandpunkte dieser Säulen zu schliessen ist. Davor, etwa auf Höhe des Seiteneinganges, somit im östlichen Drittel des Raumes, ist eine 2,7x2 Meter messende Fläche für die Bima eingezeichnet.

Das von aussen erreichbare Emporengeschoss war U-förmig ausgebildet. An den beiden Längswänden betrug die Breite laut Plan je 2,4 Meter, an der Stirnwand die Tiefe 2,85 Meter. Die Bestuhlung war hier symmetrisch. Zum offenen Mittelbereich hin befanden sich links und rechts je zwei Reihen zu je zehn Sitzen und nach einem kurzen Zwischenraum zum Durchgehen an der Ostwand je drei Reihen zu je sechs Sitzen. An der Schmalseite gibt es drei Reihen mit je acht Sitzen, ausgerichtet zur Ostwand. Die Dokumente lassen keinerlei bauliche Einrichtung erkennen, welche einen Sichtschutz zwischen den beiden Geschossen annehmen liesse. Im Emporengeschoss gibt es an der Südwand in regelmässigen Abständen vier grosse Fensteröffnungen.  In der Literatur ist von etwa 200 Sitzplätzen die Rede; dem Plan sind jedoch exakt 173 Sitze im Parterre und 100 auf der Empore zu entnehmen. Dem Widmungszweck entsprechend handelt es sich um eine orthodoxe Synagoge. Frauen spielten im öffentlichen Gemeindeleben zwar eine untergeordnete Rolle, nicht zu übersehen ist jedoch die auch an dieser Synagoge von Frauen ausgeübte Vereinstätigkeit. Männer- und Frauenplätze sollten räumlich und optisch voneinander getrennt sein, eine Synagoge sollte auch Fenster haben, da das Vorhandensein vieler Lichtquellen eine wichtige Voraussetzung war. Es ist daher sehr wohl davon auszugehen, dass der schmalen Emporenbrüstung eine optische Trennvorrichtung in Form eines leichten Gitters und Vorhanges aufgesetzt war. Ebenso ist davon auszugehen, dass die nach Süden gerichtete Durchfensterung im Emporenbereich, wie jedenfalls aus den Planunterlagen ersichtlich, vorhanden war, um ausreichend Tageslicht einzulassen.

In den Planungsunterlagen gut dokumentiert ist die Trägerkonstruktion für Empore und Dach. Die Empore ruhte im Innenbereich auf schlanken, verzierten Gusseisenstützen, die sich dann fortsetzten, um das Dach zu tragen. Diese fächerten sich auf in zarte Bögen, die nach aussen und innen gerichtet waren, jeweils gefüllt mit zwei Ringen, denen sowohl Zier- als auch statische Funktion zukam. Dem Querschnittplan ist darüber hinaus zu entnehmen, dass das Dach über dem „Mittelschiff“ knapp über das Niveau der Pultdächer der Emporen erhöht war, dies jedoch nur im Aussenbereich. Im Inneren ergab sich hingegen eine einheitliche Deckenkonstruktion zwischen Mittelachse und Seitenwänden, es lag also kein basilikaler Aufbau vor, sondern vielmehr eine schlichte Halle. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass es sich um ein reines Zweckgebäude handelte, welches der Zusammenkunft zur Abhaltung der G‘ttesdienste und des Schulunterrichtes diente, aber keinerlei Repräsentationsfunktion hatte, insbesondere von keiner Seite her aussenansichtig war, sodass jegliches Ornament eine unnötige Verschwendung von Mitteln dargestellt hätte. Dieser Umstand wird auch dadurch unterstrichen, dass es von dem Gebäude keinerlei zeitgenössische fotografische Darstellungen gibt.

Die Literatur verweist einstimmig darauf, dass der planende Architekt nicht bekannt sei. Sehr wohl wird aber die Planung durch den Stadtbaumeister Gottfried Berger, ansässig in der Stumpergasse 49 erwähnt,  der die Pläne als Verfasser zeichnete. Das Architektenlexikon des Architekturzentrums Wien nennt ihn als Stadtbaumeister, in der Folge (ab 1901) nur mehr als Hauseigentümer. Auffällig ist, dass Berger lediglich einige Wohn- und Geschäftshäuser errichtete, und zwar ausschliesslich im 6. Bezirk, in welchem er ja auch wohnte (einige davon in der Stumpergasse, weitere in der Hirschengasse und Esterhazygasse). Es handelt sich durchwegs um schlichte Bauten, die vor allem der kostengünstigen Wohnraumbeschaffung dienen sollten. Da Berger selbst als Hausbesitzer geführt wird, ist es denkbar, dass er diese Bauten für eigene Zwecke errichtete. Er war nicht Mitglied der jüdischen Gemeinde, als Bekenntnis wird vielmehr römisch-katholisch angegeben. Es lag aber durchaus nahe, sich an diesen Baumeister zu wenden, der bereits zuvor in unmittelbarer Nähe ohne grossen Kostenaufwand Häuser errichtet hatte und schliesslich auch nur wenige Häuser entfernt wohnte.

Geschichtliche Entwicklung

Das Gebäude diente einerseits der Ausübung der G‘ttesdienste nach orthodoxem Ritus, andererseits dem Unterricht der Kinder der Mitglieder. Besondere Räumlichkeiten, die etwa der Verwaltung dienten, sind den Planunterlagen nicht zu entnehmen. Inwieweit von Seiten des Hauseigentümers Räume im Althausbestand zur Verfügung gestellt wurden, ist den Dokumenten nicht zu entnehmen. In späterer Folge wurden zwei wohltätige Frauenvereine gegründet, welche ihren statutenmässigen Sitz an der Adresse der Synagoge hatten, nämlich 1923 der Krankenunterstützungsfrauenverein für den 6. und 7. Bezirk, sowie 1923 der Verein Chewra Kadischa Bikur Cholim, ebenfalls ein Krankenunterstützungsverein. Abgesehen davon, dass diese Organisationen erst nahezu dreissig Jahre nach Errichtung der Synagoge gegründet wurden und somit schon deswegen keinerlei Einfluss auf die bauliche Ausgestaltung des Gebäudes nehmen konnten, handelt es sich um Organisationen, deren Tätigkeiten nicht in der Synagoge oder einem Vereinslokal, sondern vor Ort, also an Krankenbetten oder in Trauerhäusern ausgeübt wurden. Beide Vereine, sowie auch der Thora- und Bethausverein selbst wurden im März 1939 aufgelöst und deren Vermögen nach Abzug erheblicher Steuern und Gebühren an die Kultusgemeinde überwiesen, vor dem endgültigen Aus. Die Aufstellung der Einnahmen und Ausgaben des Tempel- und Schulvereins zum 31. Dezember 1937 – laut Auszug des letzten vollständigen Jahres seiner Tätigkeit – ergab Einnahmen einerseits durch Mittel der Kultusgemeinde von ATS 2.870,00, Darlehen ATS 2.600,00, Verpachtung der Sitze ATS 3.759,00, relativ bescheidene Mitgliedsbeiträge von ATS 420,00 und Spenden von zusammen etwas über ATS 10.000,00. Nach Berücksichtigung der Gesamtausgaben verblieb gerade einmal ein Kassastand von ATS 44,84, was belegt, dass der Verein keineswegs über erhebliche Mittel verfügte. Dasselbe gilt für die dort registrierten Vereine. Im Zuge des Novemberpogroms wurde die Synagoge vollkommen zerstört. Eine Abtragung der Gebäudereste erfolgte allerdings erst zu einem wesentlich späteren Zeitpunkt, nämlich gemeinsam mit der Demolierung des umgebenden alten Baubestandes. Dieses Gebäude und die Reste der Synagoge teilen das Schicksal vieler anderer ehemaliger Wiener Synagogen; sie wurden in den 1970er Jahren durch einen gesichtslosen Gemeindebau der Stadt Wien ersetzt. Lediglich eine Hinweistafel und eines der sogenannten Lichtzeichen erinnern heute noch an den Bestand des „Gebetshauses“ des israelitischen Tempel- und Schulvereins.

 

Conclusio

Angesichts der geringen Anzahl jüdischer Einwohner*innen im Bezirke und des Umstandes des Bestehens eines wesentlich grösseren Tempels einer reformorientieren Gemeinde in unmittelbarer Nähe bestand offenbar kein Bedarf zur Errichtung eines grösseren Bethauses für die vorhandene orthodoxe Gemeinde im näheren Umkreise. Die Entstehung des Vereines und die Errichtung der Synagoge sind der Privat- initiative einiger weniger Personen zu verdanken; hier ist einerseits an den Proponenten des Vereines, andererseits an den Liegenschaftseigentümer zu denken, der die bis dahin freie Hoffläche seines Gebäudes zur Verfügung stellte. Zwar sollte bei Auswahl des Grundstückes zur Errichtung eines Tempels Wert auf den legalen Erwerb des Bodens gelegt werden, der Kauf desselben etwa der Pacht vorgezogen werden, um die Gemeinde vor Willkür des Pächters zu schützen, doch musste diese Variante jedenfalls scheitern.

Der Verein musste somit damit Vorlieb nehmen, dass der Baugrund vom Liegenschaftseigentümer offenkundig unentgeltlich zur Verfügung gestellt wurde und das Gebäude somit auf fremdem Grunde errichtet werden durfte, ohne rechtliche Absicherung, wie bei Bestehen eines Miet- oder Pachtvertrages oder gar Schaffung einer sogenannten Baurechtseinlage im Grundbuch: die erwähnte Einnahmen- und Ausgabenrechnung ergibt keinerlei Hinweis auf allfällige Zahlungen an den Grundstückseigentümer.

Die Errichtung von Hinterhofsynagogen hat eine lange Bautradition, die einerseits auf die lange herrschende Notwendigkeit der Unauffälligkeit zurückzuführen ist, nach der Emanzipation aber vor allem der Notwendigkeit einer preisgünstigen Errichtung unter Verwendung von vorhandenem, nicht anderweitig genütztem billigen Baugrund geschuldet war. Beides veranlasste vor allem orthodoxe Gemeinschaften zur Errichtung von Bethäusern in Hinterhöfen bestehender Gebäude. Weder hinsichtlich Grösse noch Bauart unterschied sich das G‘tteshaus von sonstigen zeittypischen Hof- einbauten wie Werkstätten und Geschäftsräumen. Es handelt sich somit um einen reinen Zweckbau zur Ausübung des G‘ttesdienstes und des Unterrichtes unter Verzicht auf jeglichen Schmuck oder besondere architektonische Ausgestaltung. Dies wird auch unterstrichen durch den Umstand, dass man eben keinen bekannten Architekten zur Herstellung eines auch nur im geringen Masse als künstlerisch zu bezeichnenden Entwurfes heranzog, vielmehr sich darauf beschränkte, einen nebenan ansässigen Baumeister zu beauftragen, den für die Genehmigung unerlässlichen Einreichplan zu erstellen.

Dessen ungeachtet ist es bedauerlich, dass das Gebäude nach seiner Zerstörung, zeitweiligen Enteignung und schliesslich erfolgten Restitution im Zuge der Bautätigkeit der Stadt Wien gemeinsam mit dem es umgebenden Altbestand zur Gänze abgerissen und, wie in zahllosen Vergleichsfällen, durch einen schlichten Wohnbau ersetzt wurde, ohne auch nur einen Gedanken an eine allfällige Wiedererrichtung zu verschwenden, da hierfür schlicht und einfach kein Bedarf gesehen wurde.

 

Fortwirken

Wenngleich die Gemeinde klein und das Synagogengebäude unauffällig waren, bleibt doch eine nicht zu unterschätzende Fortwirkung bestehen: Als letzter Rabbiner wirkte ab 1913 bis zur Zerstörung Moses David Flesch, der zwar sein Amt im Sinne eines streng orthodoxen, thoratreuen Judentums ausübte, in seinen Vorträgen aber stets die wichtige Rolle der Frau im Judentum hervorhob.

Seine liberale und vor allem frauenfreundliche Haltung beeindruckte seine aus Krakau nach Wien eingewanderte Schülerin Sarah Schenierer (auch Schnierer), die seine Idee weiterentwickelte. Dies führte zur Gründung der noch heute weltweit existierenden, religiös-orthodoxen jüdischen Mädchenschulen Bet Jaakov.

 

Literaturverzeichnis

Architektenlexikon Wien, 1770-1945, Architekturzentrum Wien, 2003-2013, 2017.

Dimitro Inci, Virtuelle Rekonstruktionen dreier Hinterhof-Synagogen in Wien, Dipl.-Arb., TU Wien, Wien 2013.

Katrin Kessler, Ritus und Raum der Synagoge, Schriftenreihe der Bet Tfila-Forschungsstelle für jüdische Architektur in Europa, Band II, Petersberg 2007.

Bob Martens, Die unsichtbaren Synagogen Wiens – Versteckte Sakralbauten im Hinterhof, in: David, Jüdische Kulturzeitschrift Nr. 28/111, Wien 2016, S. 2-7.

Bob Martens, Herbert Peter, Die zerstörten Synagogen Wiens: Virtuelle Stadtspaziergänge, Wien 2009.

Elisheva Shirion, Gedenkbuch der Synagogen und Jüdischen Gemeinden Österreichs, Horn-Wien 2012.

Marsha L. Rozenblit, The Jews of Vienna, 1867– 1914: Assimilation and Identity (Albany: State University of New York Press, 1983).

https://www.geschichtewiki.wien.gv.at/Vereinssynagoge_des_Israelitischen_Tempel-_und_Schulvereins_6,_Stumpergasse_42, abgerufen am 01.09.2021.

 

Alle Abbildungen, soferne nicht anders angegeben, mit freundlicher Genehmigung Wiener Stadt- und Landesarchiv.