Ausgabe

Geschichte ist keine Festung, Sondern ein Flughafen Carlo Ginzburg über die Mikrohistorie und seinen beruflichen Werdegang Interview, Teil II

Tina Walzer

Carlo Ginzburg ist einer der bekanntesten italienischen Historiker unserer Zeit. Angetrieben von der erfahrenen Verfolgung als Kind regimekritischer jüdischer Intellektueller im faschistischen Italien des Zweiten Weltkriegs, entwickelte er das Forschungskonzept der Mikrohistorie. Seinen Interessen folgend, begann er damit, Opfern der Inquisition eine Stimme zu verleihen. Quellen gegen den Strich zu lesen erlaubt ihm seine intellektuelle Freiheit; so legt er überraschend verborgene Inhalte frei – die in der Folge ein Eigenleben gewinnen.

Inhalt

Tina Walzer: Sie betonen im ersten Teil dieses Interviews auf die Frage hin, was Sie definiert, das Wort Identität sei dafür ungeeignet; Sie wollten es auf gar keinen Fall verwenden. Was impliziert der Begriff für Sie?

Carlo Ginzburg: Das Wort Identität mag ich nicht. Es ist ein Begriff, der heutzutage vor allem als politische Waffe benutzt wird. Leute sprechen über die italienische, die deutsche, die europäische, die jüdische Identität – als wäre sie jeweils in sich geschlossen, statisch, unübertragbar. Diese Vorstellung enttäuscht mich ungeheuer, und ich kämpfe gegen sie an. 2010 habe ich einen kleinen Essay verfasst, The Bond of Shame [dt. Die Verbundenheit der Schande]: damals war mir klar geworden, dass wir jenem Land angehören, für das wir uns schämen. Mit Freunden aus den unterschiedlichsten Ländern habe ich darüber diskutiert, aus Grossbritannien, Israel, Italien, Frankreich: nach einem Moment der Ungewiss- heit sagten sie mir allesamt, ja, da stimmen wir Dir zu. Zuvor, es ist schon eine Weile her, Silvio Berlusconi war gerade Italiens Ministerpräsident, hatte ich mir selbst die Frage gestellt: „Wieso schäme ich mich wegen Berlusconi?“ Und zwar nicht für ihn, sondern wegen seiner. Diese Haltung, die ich damals an mir wahrnahm, wurde zum Ausgangspunkt meiner Betrachtungen über die Grenzen des eigenen ego. Schon viele Jahre lang hatte ich mich damit beschäftigt, dem ego nachzuspüren. Das ego ist ja nichts von vorne herein Fest- gelegtes; es hat etwas Konstruiertes an sich, es beinhaltet den Aspekt der Auslegung, indem es einem übergestülpt wird. Der Ursprung der Scham aus einer Verpflichtung heraus wurde zum Ausgangspunkt meiner Überlegungen in The Bond of Shame. Ich kam dabei zu dem Schluss, dass jedes Individuum als Knotenpunkt der verschiedensten Verpflichtungen verstanden werden kann. Ich gehöre einer Tierart, dem homo sapiens, an, ich gehöre einer männlichen Welt an, ich gehöre einer Gruppe pensionierter Professoren aus Turin an, et cetera. Dann gibt es aber auch die Reihe, in der es nur einen einzigen Teilnehmer gibt, und die basiert auf meinem Fingerabdruck. Die Vorstellung, dass Identität mit einem Fingerabdruck verbunden ist, mag in bestimmten Zusammenhängen sinnvoll sein. Als Historiker benütze ich aber viel komplexere Abfolgen von Vorstellungen, die implizieren, dass das, was gemeinhin Identität genannt wird, in Wirklichkeit auf der wechselseitigen Beeinflussung und dem Zusammenspiel von etwas Individuellem mit etwas weniger Indi- viduellem, Gattungsmässigem basiert, und so weiter. Das ist, denke ich, nicht sofort augenfällig. Mit ist klar geworden, dass ich Jude bin: das stand aber der Vorstellung, dass ich Italiener bin, nicht entgegen, und auch nicht jener, Europäer zu sein: diese Elemente stehen also mit einander in einer Wechselbeziehung, sie interagieren miteinander, sie wirken zusammen. Dies steht also der Vorstellung entgegen, Identität sei etwas mit fest umrissenen, endgültigen Begrenzungen, etwas, was definiert werden könne. Gegen diese Vorstellung bin ich wirklich ganz stark eingestellt.

 

Tina Walzer: Was, glauben Sie, hat Ihre Persönlichkeit am stärksten geformt, abgesehen von den Erfahrungen Ihrer Kindheit?

Carlo Ginzburg: Das wäre eine sehr lange Liste; lassen Sie mich nur eine kleine Anekdote erwähnen: Meine Mutter hat im Jahr 1950 wieder geheiratet, wir sind nach Rom umgezogen. Einer meiner damaligen Mitschüler war Leone Paserman. Er und ich sprachen einmal darüber, dass wir beide jüdisch sind, damals war er bereits Präsident der jüdischen Gemeinde Roms. Als Geschenk überreichte er mir einen kleinen Davidstern, und ich steckte ihn mir an. Als ich dann später Paolo Milano traf, einen jüdischen Schriftsteller, der Italien 1938 verlassen hatte und in die U.S.A. gegangen war, sah er den Davidstern an meinem Jackenaufschlag und war überrascht. Es ist nur ein kleines Detail, das aber sicherlich ein Zugehörigkeitsgefühl voraussetzt. Die Schlussfolgerungen daraus traten hingegen nur sehr langsam zutage.

 

Tina Walzer: Können Sie sich noch erinnern, was Sie bei Ihrer Berufswahl am stärksten beeinflusst hat?

Carlo Ginzburg: Als ich zwanzig Jahre alt war, studierte ich in Pisa an der Scuola Normale, einer Zwillingseinrichtung der École Normale in Paris, beide Gründungen Napoleons. Ich arbeitete in der Bibliothek der wunderschönen Scuola (einem von Vasari erbauten Palazzo) und blickte gerade auf ein Bücherregal, als ich eine dreifache Entscheidung traf: ich würde versuchen, erstens Historiker zu werden, zweitens über Hexenprozesse zu arbeiten, und drittens die Stimmen der Opfer zu retten, indem ich sie überlieferte. Damals waren es Bücher, die mir bei meiner Entscheidung halfen: Zu allererst Cristo si è fermato a Eboli [1945; dt. Christus kam nur bis Eboli] von Carlo Levi – Levi war nicht nur ein enger Freund meines Vaters und genauso wie er in der Verbannung ge- wesen (tatsächlich in einem noch viel abgeschiedener gelegenen Dorf als wir). Sein Buch hinterliess in mir einen tiefen Eindruck, weil es gleichermassen durch Respekt und Distanz gegenüber dem Volksglauben der dortigen Bauern gekennzeichnet war. Levi schrieb sein Buch von einer Position der Aufklärung aus, entfaltete aber ein tiefes, leidenschaftliches Interesse daran, die Einstellungen der Bauern gegenüber der Zauberkunst zu rekonstruieren. Zweitens war da Ernesto de Martino, ein Anthropologe, der 1948 ein Buch über die Wirklichkeit zauberischer Kräfte geschrieben hatte, Il mondo magico. Zwar habe ich, anders als de Martino, nie an sie geglaubt, aber Il mondo magico ist ein sehr beeindruckendes Buch. Ich habe wiederholt über de Martino geschrieben (neuerdings steigt übrigens das Interesse an seinen Arbeiten: erst im heurigen Frühjahr wurde in Paris eine Neuausgabe von Il mondo magico veröffentlicht). Und drittens, Antonio Gramsci mit seinen Quaderni del carcere [1929-1935; dt. Gefängnishefte], und was er über “la cultura delle classi subalterne“, die Kultur unselbständiger Klassen sagte.

 

Tina Walzer: War Ihnen denn damals klar, aus welchem speziellen Grund Sie Sympathie mit Opfern der Inquisition empfanden, und hat das Ihre Entscheidung mit beeinflusst?

Carlo Ginzburg: Was fehlt denn nun noch in dieser Geschichte? Es ist meine Gefühlsbeteiligung an dieser Idee, die Stimmen der Opfer zu bergen. Von den persönlichen Zwischentönen dieser Entscheidung hatte ich zunächst überhaupt nichts gewusst. Freuds Theorien zufolge hat das Unterbewusstsein seine eigene Art von Strategien. Um so stark wirken zu können, hatte dieser emotionale Aufwand unbewusst abzulaufen. Ich schrieb also mein erstes Buch, I Benandanti [1966; dt. Feldkulte und Hexenwesen im 16. und 17. Jahrhundert] und bald darauf mein zweites, Il formaggio e i vermi [1976; dt. Die Welt eines Müllers um 1600]. Mit dem Kunsthistoriker Paolo Fossati unterhielt ich mich, wir standen vor dem Verlagshaus Einaudi, über dieses soeben erschienene Buch. Er sagte, nun ja, das sei ja eine ganz offensichtliche Sache: "Sie, als Jude, arbeiten eben über Hexen und Ketzer". Ich fiel aus allen Wolken; ich war bass erstaunt. Der Zusammenhang war offenkundig: wie also war es möglich, dass ich selbst ihn in all den Jahren niemals bemerkt hatte? Wie auch immer, jedenfalls hat das für mich funktioniert, in vielfacher Weise. Vielleicht hat diese paradoxe Trennung meine emotionale Identifizierung mit den Opfern verstärkt.

 

Tina Walzer: Hat sich durch diesen Schock, den Sie empfanden, als Sie die Parallelen erkannten zwischen Ihrem eigenen Schicksal und jenem der Opfer, deren Stimmen Sie zu bewahren versuchten, Ihre Einstellung Ihrer Arbeit gegenüber geändert?

Carlo Ginzburg: Viele Jahre später fiel mir eine beunruhigende Kontiguität, also eine unmittelbare Nach- barschaft, zwischen mir und den Inquisitoren ins Auge. Also schrieb ich einen Aufsatz, Inquisitor as Anthropo- logist [1986; dt. Der Inquisitor als Anthropologe]. Hier versuchte ich, diese quälende Nähe zu spiegeln, indem ich nachsann über den Inquisitor als Anthropologen, über den Anthropologen als Inquisitor, über den Historiker als Inquisitor, und so weiter. Anfang des neuen Jahrtausends war ich in Moskau, es war das Jahr 2003, um einen Vortrag zu halten, und ich wurde gefragt, ob ich bereit wäre, an einer öffentlichen Diskussion über meinen Aufsatz teilzunehmen. Als ich wissen wollte, wer denn der Frager sei, erfuhr ich, dass er zu einem Verein namens Memorial Orga- nisation gehörte, der Beweismaterial über den Gulag sammelte. Damals kämpfte die Gruppe gerade für die Umsetzung der Menschenrechte in Tschetschenien (der Verein ist übrigens unlängst von Putin „liquidiert“ worden). Ich fühlte mich geschmeichelt, war aber auch überrascht. Es folgte eine sehr berührende Debatte über meinen Aufsatz. Diese Leute hatten ihn gelesen und waren auf folgenden Gedan-ken gekommen: Wäre es möglich, Ginzburgs indirekte Sichtweise auf die Inquisitionsprozesse anzuwenden bei Prozess- akten aus der Stalin-Ära? Zwar weiss ich nicht, ob das dann tatsächlich jemand versucht hat, aber die Debatte war ziemlich herausfordernd. Die persönlichen Wurzeln einer Recherche mögen unvorhersagbar sein, und in meinem Falle habe ich sie lange Zeit nicht bemerkt. Genauso unvorherseh- bar aber sind die Auswirkungen der Ergebnisse. Befunde können in so vielen verschiedenen Zusammenhängen aufgearbeitet und wiederverwendet werden.

 

Tina Walzer: Wie sind Sie denn auf die Idee gekommen, die Forschungsdisziplin der Mikrohistorie zu erschaffen, und wohin hat Sie dieser methodisch neue Ansatz in Ihren Recherchen geführt?

Carlo Ginzburg: Mein Buch I Benandanti wurde veröffent- licht, als ich siebenundzwanzig Jahre alt war. Es überrascht mich wirklich, wie viele Übersetzungen es seither davon gegeben hat; erst unlängst ist eine neue auf Chinesisch herausgebracht worden. Das Buch basiert auf einer Reihe von Inquisitionsprozessen, die in der Region Friaul während des 16. und 17. Jahrhunderts stattgefunden haben. Es waren lokale Ereignisse, meine Arbeit streicht aber deren überregio- nal gültige Auswirkungen und die über das dort Einheimische hinaus gehenden Schlussfolgerungen heraus. Da befand ich mich damals wohl bereits im Entwicklungsverlauf Richtung Mikrohistorie – der Idee, einen Gegenstand gleich- sam unter dem Mikroskop zu analysieren, unabhängig von seiner buchstäblichen oder symbolischen Grösse. Als Nächstes starteten Giovanni Levi und ich gemeinsam eine Serie im Einaudi Verlag, die wir Mikrostorie [1981-1991; dt. Mikrogeschichten] nannten. Den Anfang der Serie machte ein Buch von mir über Piero della Francesca, einen der grössten Maler, die jemals gelebt haben (ich korrigiere gerade die Druckfahnen einer Neuausgabe mit einem neuen Nachwort).

 

Tina Walzer: Die Fragestellung, wer als Teil einer Gruppe akzeptiert ist, und was, im Gegensatz dazu, als gefährlich weit ausserhalb der Anforderungen einer Gruppenmehrheit erachtet wird, hat Sie in Ihrer Arbeit noch eine ganze Weile begleitet?

Carlo Ginzburg: Noch einmal, in der Einleitung zu I Benandanti strich ich die überregionalen Zusammenhänge dieses Ereignisses heraus. Ich betonte auch die Analogie zwischen den Riten der Benandanti, die sie in Ekstase vollzogen, um für Fruchtbarkeit und gegen Hexen zu kämpfen, und schamanischen Vorstellungen. Viele Jahre später erkundete ich die Möglichkeit, ob eine solche Analogie vielleicht historische Zusammenhänge verschleiert. Schliesslich und endlich verbrachte ich mehr als fünfzehn Jahre damit, an diesem Themenkomplex zu arbeiten, und das Resultat war ein weiteres Buch, Storia notturna. Una decifrazione del sabba [1989; dt. Hexensabbat. Entzifferung einer nächtlichen Ge-schichte]. Die Analogien, von denen ich ausgegangen war, führten mich zu einer Art eurasischer Perspektive. Das Buch beginnt mit der Idee einer Verschwörung und konzentriert sich auf ein Ereignis, das in Frankreich 1321 stattgefunden hatte. Es ging um die Vorstellung, dass an Lepra Erkrankte, sogenannte Aussätzige, eine Verschwörung gegen die christliche Gesellschaft organisiert hätten. Nach einer anderen Version hätte es sich um Leprakranke gehandelt, die von Juden zu einer Verschwörung angeregt worden seien; in einer dritten Fassung war es eine Verschwörung von Juden, dazu inspiriert von Muslimen in Granada. In dem Buch argumentierte ich, das Stereotyp des Hexensabbaths basiere auf dem Zusammentreffen der Vorstellung von einer Verschwörung fremder Gruppen mit einem im Kern schamanistischen Volksglauben.

11_da-carta566-copy.png

Carlo Ginzburg. Foto: Danilo De Marco, mit freundlicher Genehmigung: C. Ginzburg.

Tina Walzer: Haben Sie dieses Thema, die Idee einer Verschwörung von Minderheiten wie der jüdischen gegen die christliche Gesellschaft später in anderen Zusammenhängen weiterverfolgt?

Carlo Ginzburg: Storia notturna wurde in viele Sprachen übersetzt, und das Buch wurde heftig kritisiert, viel mehr als meine früheren Werke. Damals begann ich, über die Geschichte der Juden im Mittelalter nachzudenken, ein Thema, das nicht Teil meines ursprünglichen Projekts gewesen war. Zwar spreche ich nicht Hebräisch, habe aber über Berei-che der jüdischen Geschichte Europas aus verschiedenen Blickwinkeln gearbeitet. Zum Beispiel gibt es von mir einen Essay mit dem Titel Learning from the Enemy: The French Roots of the Protocols [dt. Vom Feind lernen. Die französi- schen Wurzeln der Protokolle]. Das wiederum ist ein paradoxes Thema, denn bereits im Jahr 1919 war klar, dass die Protokolle der Weisen von Zion, dieses berüchtigte Buch, ein Plagiat darstellen, und zwar eines in Brüssel 1864 anonym publizierten Pamphlets. Der Autor dieses Dialogue aux enfers entre Machiavel et Montesquieu, [dt. Dialog in der Hölle zwi-schen Machiavelli und Montesquieu] hiess Maurice Joly. Angesichts der Tatsache, dass die Protokolle nicht nur schreckliche Auswirkungen hatten, sondern sich auch als sehr vulgäre Art von Text entpuppten, war ich sprachlos. Wie war es möglich, dass ein solch brillanter, origineller „Dialog“ die Quelle der Protokolle war? Also begann ich, an Jolys Text zu arbeiten und näherte mich so einem Kapitel der Geschichte des Antisemitismus von einem unerwarteten Betrachtungs- winkel aus.

 

Tina Walzer: Hat sich Ihre Perspektive auf Ihre eigenen frühen Werke mit der Zeit verändert? Woran arbeiten Sie derzeit?

Carlo Ginzburg: Als ich mein erstes Buch neu herausgab, musste ich eine aktualisierte Einleitung dazu verfassen. Sie basiert auf einem Vortrag, den ich in Pisa an der Scuola Normale gehalten habe, wo ich seinerzeit Student war: I Benandanti 50 anni dopo [2016; dt. I Benandanti 50 Jahre danach]. Es geht um die Idee, aus unseren Erfahrungen zu lernen, aus der Distanz – ein Thema, das mich fasziniert. Ich habe es bei drei oder vier Gelegenheiten untersucht, und inzwischen ist daraus ein Buch entstanden. Morgen werde ich es online vorstellen. Das Buch heisst Aún aprendo, und zwar deshalb: im Jahr 2010 hatte ich den Balzan Preis verliehen bekommen. Anlässlich der Preisverleihung sollte ich einige Worte sagen. Also sagte ich: „In diesem Moment denke ich an eine fantastische Zeichnung von Goya. Man erkennt darauf einen alten Mann mit langem, weissem Bart, der, gestützt auf zwei Stöcke, langsam vorwärts schreitet. Goya betitelte das Bild mit Aún aprendo, Ich lerne immer noch. Dieser alte Mann bin ich.“ Als ich in Santiago meinen Vortrag hielt, beschrieb ich dieses Bild, und währenddessen fand jemand schnell eine Reproduktion und zeigte Dias dazu. Dann schlug man mir vor, Nachworte, die ich anlässlich der Wiederveröffentlichung einiger meiner Bücher verfasst hatte, zu einem Text zusammenzustellen. Daraus wurde ein neues Buch.

 

Tina Walzer: Haben Sie je bereut, Historiker geworden zu sein, oder, so viel Zeit auf die Beschäftigung mit Geschichte verwandt zu haben?

Carlo Ginzburg: Nein, niemals, nie. Ich denke, ich hatte ausserordentliches Glück. Als ich noch ein Teenager war, träumte ich davon, Schriftsteller zu werden, irgendwie äffte ich die Kunstfertigkeit meiner Mutter nach. Als nächstes begann ich zu malen: ich sehnte mich danach, Maler zu werden. Dann wurde mir klar, dass ich kein guter Maler war, aber die Faszination für Bilder blieb mir. Ich habe das Glück, nicht nur Historiker zu sein, sondern auch über Bilder oder literarische Texte zu arbeiten, ohne Kunsthistoriker oder Lite- raturkritiker zu sein. Ich sage immer, Geschichte als Disziplin (ein Wort, das ich nicht leiden kann) sollte man nicht als Fest- ung begreifen, sondern als Flughafen, von dem aus es viele mögliche Flugbahnen gibt. Ich hatte das Glück, in so vielen verschiedenen Richtungen zu arbeiten. Das Wort Disziplin mag ich nicht, denn ich fühle mich frei, ich kann tun, was auch immer ich mag. Und zwar nicht erst jetzt, wo ich seit vielen Jahren in Pension bin, sondern sogar, als ich noch Teil des akademischen Systems war (oder der Systeme, denn ich zog von Italien in die U.S.A.). Ich habe mich immer frei gefühlt. Also nein, meine Entscheidung habe ich nie bereut.

 

Tina Walzer: Diese Freiheit, von der Sie sprechen – über was auch immer Ihnen gerade interessant vorkommt, nach- zudenken und darüber zu arbeiten: entstand diese Freiheit aus Vorstellungen und aus einer Inspiration, die Ihnen Ihre persönlichen Verhältnisse und die Erfahrungen Ihrer Familie boten?

Carlo Ginzburg: Ja, mit Sicherheit. Mir ist sehr wohl bewusst, welch ein Privileg es war, in einer Familie von Intellek- tuellen aufzuwachsen. Mein Gefühl von Freiheit ist sicherlich ein Resultat davon. Wenn man aber bedenkt, was es bedeutet, zu jener Zeit einer Familie jüdischer Intellektueller angehört zu haben, erhält die Vorstellung von Privileg einen bitteren Beiklang. Dennoch, eine soziale Privilegierung war sicherlich gegeben. Sie hat es mir allerdings erlaubt, gegenüber dem akademischen System eine Art Losgelöstheit zu empfinden. Ich liebe es, zu unterrichten, aber das akademische System an sich, die academia als Institution, hat mich nie interessiert. Das war vermutlich eine Schwäche. Aber sie hat mir auch dieses Gefühl einer intellektuellen Freiheit, von der ich zuvor gesprochen habe, möglich gemacht.

DAVID: Vielen herzlichen Dank für dieses spannende Interview!

Werkliste (Auswahl) nach Erscheinungsdaten der Erstausgaben

Die Benandanti. Feldkulte und Hexenwesen im 16. und 17. Jahrhundert. Frankfurt am Main 1980, ISBN 3-8108-0160-7 (ital. I benandanti. Ricerche sulla stregoneria e sui culti agrari tra Cinquecento e Seicento, Torino, Einaudi, 1966; Milano, Adelphi, 2020, mit einem neuen Nachwort)

Der Käse und die Würmer. Die Welt eines Müllers um 1600. Frankfurt am Main 1979, ISBN 3-8108-0118-6 (ital. Il formaggio e i vermi. Il cosmo di un mugnaio del Cinquecento, Torino, Einaudi, 1976; Milano, Adelphi, 2019, mit einem neuen Nachwort)

Erkundungen über Piero. Piero della Francesca, ein Maler der frühen Renaissance. Berlin 1981, ISBN 3-8031-3500-1 (ital. Indagini su Piero. Il Battesimo, il ciclo di Arezzo, La Flagellazione di Urbino, Torino, Einaudi, 1982; Milano, Adelphi, 2022, mit einem neuen Nachwort)

Spurensicherungen. Über verborgene Geschichte, Kunst und soziales Gedächtnis. Berlin 1983, ISBN 3-8031-3514-1 (ital. Miti emblemi spie. Morfologia e storia, Torino, Einaudi, 1986)

Hexensabbat. Entzifferung einer nächtlichen Geschichte. Berlin 1990, ISBN 3-8031-3549-4 (ital. Storia notturna. Una decifrazione del sabba, Torino, Einaudi, 1989; Milano, Adelphi, 2017, mit einem neuen Nachwort)

Der Richter und der Historiker. Überlegungen zum Fall Sofri. Berlin 1991, ISBN 3-8031-2189-2 (ital. Il giudice e lo storico. Considerazioni in margine al processo Sofri, Torino, Einaudi, 1991)

Die Venus von Giorgione. Akademie-Verlag Berlin 1998, ISBN 3-05-003217-0

Holzaugen. Über Nähe und Distanz. Berlin 1999, ISBN 3-8031-3599-0 (ital. Occhiacci di legno. Nove riflessioni sulla distanza, Milano, Feltrinelli, 1998; erweiterte Neuausgabe: ital. Occhiacci di legno. Dieci riflessioni sulla distanza, Macerata, Quodlibet, 2019)

Das Schwert und die Glühbirne. Eine neue Lektüre von Picassos Guernica. Frankfurt am Main 1999, ISBN 3-518-12103-0

Die Wahrheit der Geschichte. Rhetorik und Beweis. Berlin 2001, ISBN 3-8031-5165-1 (engl. History, Rhetoric, and Proof. The Menachem Stern Jerusalem Lectures. London and Hanover 1999)

Faden und Fährten. Wahr, falsch, fiktiv. Berlin 2013, ISBN 978-3-8031-5184-1 (ital. Il filo e le tracce. Vero falso finto, Milano, Feltrinelli, 2006)

The Bond of Shame. In: Corinna Caduff/Anne-Kathrin Reulecke/Ulrike Vedder (Hg.): Passionen. Objekte – Schauplätze – Denkstile. Wilhelm Fink Verlag 2010, ISBN 978-3-8467-5006-3, wiederveröffentlicht in New Left Review, Heft 120, Nov/Dec 2019; link: https://newleftreview.org/issues/ii120/articles/carlo-ginzburg-the-bond-of-shame

Paura, reverenza, terrore. Cinque saggi di iconografia politica, Milano, Adelphi, 2017.

Nondimanco. Machiavelli, Pascal. Collana Saggi Nuova serie n.81. Milano 2018, ISBN 978-88-459-3314-1

La lettera uccide. Collana Il ramo d’oro n.71. Milano 2021, ISBN 978-88-459-3620-3

Aún aprendo. Cuatro experimentos de filología retrospectiva. Fondo de Cultura Económica 2021. ISBN 978-9877191967

 

Biografische Randnotizen

Paolo Milano (1904 Rom–1988 Rom), Literaturkritiker und Journalist, emigrierte 1940 in die U.S.A., unterrichtete an der New School for Social Research und am Queens College in New York, Rückkehr nach Italien 1957.

Ernesto de Martino (1908 Neapel–1965 Rom), Anthropologe, Philosoph und Religionshistoriker, unterrichtete Religionsgeschichte und Ethnologie an der Universität Cagliari und begründete die Anthropologische Schule Cagliari; u.a. Il mondo magico: prolegomeni a una storia del magismo, Turin, Einaudi 1948.

Antonio Gramsci (1891 Sardinien–1937 Rom), Schriftsteller, Journalist, Politiker und Philosoph, Mitbegründer der Kommunistischen Partei Italiens, seit 1926 vom Mussolini-Regime permanent inhaftiert; in der Haft schrieb er nicht nur Briefe (Lettere dal carcere, 1926-1937), sondern notierte auch seine Beobachtungen in 32 Quaderni del carcere, Turin, Einaudi 1948 bis 1951 (dt. Gefängnishefte, 1991 bis 2002).

Paolo Fossati (1938 Arezzo–1998 Turin), Kunsthistoriker und Autor, Leiter des Lektorats im Einaudi Verlag, unterrichtete Sozialgeschichte der Kunst und Kunstkritik an den Universitäten Bologna, Pisa, Venedig und Turin.

11_benandanti-copertina-3___.png

Buchcover der neuesten italienischen Auflage im Mailänder Verlag Adelphi, 2022, von Die Benandanti. Feldkulte und Hexenwesen im 16. und 17. Jahrhundert.

 

Teil I dieses Interviews, Tina Walzer: Er war eine Persönlichkeit voll Stärke und Kraft. Carlo Ginzburg über seinen Vater Leone Ginzburg und die Familie, ist in DAVID, Heft 133, Sommer/Juni 2022, erschienen.