Ausgabe

Von der Düne zur Stadt Der Rothschild Boulevard

Werner Winterstein

Die Geschichte der eigenständigen jüdischen Siedlungsbewegung in Palästina ist mit dem Namen ihres grossen Förderers und Gönners Edmond James de Rothschild ebenso untrennbar verbunden wie mit jenem des Visionärs des „Judenstaates“, Theodor Herzl.

Inhalt

Bis in das Jahr 1856 waren die jüdischen Emigranten besonders in Jaffo gezwungen, unter den dort ansässigen Muslimen und Christen ein trostloses, mit den räumlichen und hygienischen Bedingungen ihrer Herkunftsländer keineswegs vergleichbares Fortkommen hinzunehmen. Als jedoch nun ein Erlass der osmanischen Behörden es gestattete, als Ausländer Land zu erwerben, und 1870 die Stadtmauer fiel, entstanden die ersten jüdischen Vororte wie 1887 Neve Tzedek, heute ein beliebter Hotspot von Tel Aviv.

1891 gründete Baron Maurice de Hirsch die Jewish Colonisation Association (JCA), um den in Osteuropa, und hier   besonders im  zaristischen Russland von Pogromen und Entrechtung bedrängten Juden eine Massenauswanderung zu ermöglichen, und sie in landwirtschaftlichen Kolonien auf von ihr erworbenem Land – auch im osmanischen Palästina – anzusiedeln.

Bereits vorher entstanden dort unabhängige jüdische Bauerngemeinden, sogenannte moschavot. Diese kamen jedoch sehr bald in Bedrängnis; die Bodenverhältnisse waren meist problematisch, die medizinischen und hygienischen Bedingungen unzureichend, die Infrastruktur nur sehr mangelhaft, und die örtlichen osmanischen Behörden feindselig. Edmond de Rothschild jedoch bewahrte diese Orte durch grosszügige Zuwendungen vor dem wirtschaftlichen Zusammenbruch, kaufte rund 500 Quadratkilometer zusätzliches Land, und gründete darauf mehr als vierzig neue Ansiedlungen. 1899 überliess er 25.000 Hektar Agrarland und auf ihr befindliche Ansiedlungen der JCA und übertrug dieser im Jahr 1900 die Verantwortung über all seine Siedlungen in Palästina.

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Verlosung der Parzellen 1908. Foto: Avraham Soskin 1908. Quelle: Bauhaus Center Tel Aviv, mit freundlicher Genehmigung.

Auch die Stadterweiterung von Jaffa war nicht aufzuhalten. 1908 gründeten sechzig jüdische Familien den Verein Ahuzat Bait. Dieser verfolgte das Ziel, eine ruhige und qualitätsvolle jüdische Wohnsiedlung ausserhalb und unabhängig von Jaffo zu errichten. Dafür erwarb er drei Kilometer nordöstlich von Jaffa ein Sanddünenterrain von ca. 85.000 Quadratmetern. Der Standort wurde wegen seiner Nähe zur bereits bestehenden Vorortesiedlung Neve Tzedek, der Anbindung an das bestehende Strassennetz und der Eisenbahnlinie Jaffa – Jerusalem, sowie der Getreidemühle am Fluss Yarkon, gewählt. Die Teilnehmer beschlossen, zuerst einen verbindlichen Bebauungsplan erstellen zu lassen. Gefordert war eine „Wohngemeinde mit Einfamilienhäusern und Gärten, eine öffentliche Parkanlage und als Zentrum eine höhere Bildungsanstalt“. Zu diesem Projekt wurden unter anderen auch die Wiener Architekten Wilhelm Stiassny (siehe auch DAVID Heft 81 - 06/2009) und Oskar Marmorek, dem Theodor Herzl in seinem Werk Altneuland als Architekt Eckstein ein Denkmals gesetzt hat, eingeladen.

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Der tatsächliche Ausführungsplan weist einen klaren Raster auf: Die zentrale Herzl Strasse führt von der Landstrasse und Eisenbahntrasse nach Norden zum Bauplatz für die geplante Herzlia Schule, sie wird von drei Nebenstrassen und dem Rothschild Boulevard im rechten Winkel gequert. Die so entstehenden Quartiere werden in Parzellen unterteilt, auf welchen freistehende Wohnhäuser und Gartenflächen, getreu dem Vorbild einer „garden city“, vorgesehen waren. Die Besonderheit von Ahuzat Bait liegt unter anderem darin, dass nicht nur nach städtebaulichen Überlegungen geplant wurde, sondern auch Richtlinien festgelegt waren, die die späteren Planungen für Tel Aviv bis heute bestimmen, wie die Reglementierung von bebaubarer Fläche, Geschossanzahl, Grundstücksgrössen, Vorgärten und Abständen, sowie die Strassenbreiten: 12 Meter für die zentrale Herzl Strasse, 24 Meter für den Rothschild Boulevard als Parkanlage und 10 Meter für die Nebenstrassen. Am 11. April 1909 fand vor Ort mittels markierter Muscheln – weisse mit den Namen, graue mit den Nummern – die Verlosung der Parzellen statt. Das Los Nr. 43 zog das aus Russland eingewanderte Ehepaar Meir und Zina Dizengoff, das danach auf der ihr zugelosten Parzelle mit der späteren Adresse Rothschild Boulevard 16 ein Wohnhaus errichtete. Als Nahum Sokolow die Übersetzung des 1902 erschienenen utopischen Romans Altneuland von Theodor Herzl in die hebräische Sprache vornahm, wählte er für den Titel den biblischen Ortsnamen Tel Abib, der in Hesekiel 3/15 erwähnt wird. „Tel“ (antiker Siedlungshügel) stand für „alt“, und (ohne dagesh) „Aviv“ (hebr. Frühling) für „neu“. Einer der Mitbegründer der neuen Stadt, Menachem     Sheinkin, übernahm diesen Namen 1910 für eine Umbenennung von Ahuzat Bait auf „Tel Aviv“.

Bereits 1911 wurde Meir Dizengoff  Vorsitzender des Eigen- tümerkomitees, nach der Erklärung Tel Avivs zur Stadt 1921 bis zu seinem Tod 1936, mit kurzer Unterbrechung, ihr Bürgermeister. Sein Wohnhaus, Rothschild Boulevard 16, liess er 1932 wieder abtragen, um an dieser Stelle das Tel Aviv Museum errichten zu lassen, dem er auch seinen gesamten Nachlass stiftete.

Besondere Bedeutung erlangte dieses Gebäude am 14. Mai 1948, als dort von David Ben Gurion der Staat Israel ausgerufen wurde. Dieses historische Ereignis fand aus Sicherheitsgründen im Souterrain des Hauses statt, denn der neue Staat befand sich bereits im Abwehrkampf gegen den Überfall seiner arabischen Nachbarn. Nach dem Segen von Rabbiner Yehuda Leib Fishman und 33 Minuten Sitzungsdauer verkündete Ben Gurion: „Der Staat Israel ist gegründet, die Sitzung ist geschlossen!“ Das Gebäude heisst seither Beit Haazmaut (Haus der Unabhängigkeit).

Vor 125 Jahren, nach dem Ersten Zionistenkongress in Basel 1897, schrieb Theodor Herzl: „In Basel habe ich den Judenstaat gegründet. Wenn ich das heute laut sagen würde, würde ich mit allgemeinem Gelächter begrüsst werden. In fünf Jahren vielleicht, und sicher in fünfzig Jahren, wird es jeder wahrnehmen.“ Und genau so ist es gekommen.

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Südlicher Beginn des Boulevards im Jahre 1913, im Hintergrund 
Neve Tzedek und dahinter das Meer. Foto: Avraham Soskin 1913. Quelle: 640px-PikiWiki_Israel_49255_Rothschild_.jpg

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Wohnhaus Dizengoff, Rothschild Boulevard 16, 1910 (noch eine Düne).

Foto : Avraham Soskin 1910. Quelle: Bauhaus Center Tel Aviv, mit freundlicher Genehmigung.

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