Lange Zeit war der Name Rothschild im Kontext unserer jüngeren Geschichte weitgehend vergessen und verdrängt. Sowohl Antisemitismus als auch Antikapitalismus waren hier treibende Faktoren. Erst in jüngster Zeit ist durch eine Monographie über die österreichische Linie1 und einen Rechtsstreit die Familie wieder in den Fokus des allgemeinen Interesses gerückt.
Auch von der umfangreichen Hinterlassenschaft an Bauwerken, die im Kontext der Rothschilds stehen – angefangen von den diversen Familienpalais über zahlreiche karitative Einrichtungen bis zum Wiener Nordbahnhof – ist sehr viel vernichtet, geradezu ausgelöscht worden. Die Liste wäre umfangreich. Von den wenigen Landsitzen, die noch existieren, ist einer breiteren Öffentlichkeit kaum bekannt, dass sie ehemals Rothschild-Besitz waren. Eines der wenigen noch erhaltenen Relikte in Wien, wo die Familie sozusagen noch physisch präsent ist, ist die Familiengruft in der alten israelitischen Abteilung des Wiener Zentralfriedhofes. Am Rande der Anlage an der Friedhofsmauer situiert, wo auch viele andere Honoratioren ihre Grabstätten haben, vermittelt die Gruft in ihrer würdevoll noblen Schlichtheit den gesellschaftlichen Status der Familie. Das Grabmal ist ein auf einen Sockel gestellter kleiner Tempel, der von einem Sarkophag bekrönt wird, umrahmt von vier Urnen mit Trauertüchern als Todessymbole. An der Stirnseite des Sarkophags ist das Wappen der Rothschilds mit den fünf gekreuzten Pfeilen – in Anspielung an die fünf Söhne Mayer Amschels – angebracht, die mit ihren fünf Niederlassungen in Europa den sagenhaften Reichtum der Familie begründeten.
Die Rothschild-Gruft am Wiener Zentralfriedhof.
Der Anlass zur Errichtung des Grabmales war der Tod der kleinen Charlotte Rothschild, ein Töchterchen von Albert Rothschild (damals Chef des Wiener Bankhauses und einer der reichsten Männer Europas) und seiner Frau Bettina im März 1885. Das Ereignis war umso tragischer, als die kleine Charlotte, die nur sechs Wochen alt wurde, das erste Mädchen des Ehepaares nach vier Söhnen war.2 Da die Familie Rothschild in der erst rund zehn Jahre zuvor errichteten neuen Anlage des Wiener Zentralfriedhofes noch über keine Grabstätte verfügte, sah man sich genötigt, eine Familiengruft errichten zu lassen. Der Auftrag erging an den Architekten Wilhelm Stiassny, der damals die Funktion des Obmannes des Friedhofkomitees der Kultusgemeinde innehatte und als solcher sowohl für die Planung der israelitischen Abteilung als auch für zahlreiche Grabmäler verantwortlich war.3 Darüber hinaus war Wilhelm Stiassny schon lange mit den Rothschilds eng verbunden. Noch blutjung und erst am Anfang seiner Karriere, wurde er als einer der ersten jüdischen Absolventen der Akademie der bildenden Künste 1869 seitens der Familie mit dem Bau des Rothschild-Spitals betraut – ein Projekt, das damals höchst fortschrittlich war und den jungen Architekten international bekannt machen sollte. In der Folge führte er auch immer wieder weitere Adaptionen und Ausbauten der Krankenanstalt aus.4 Wilhelm Stiassny, der späterhin zu den führenden Architekten der Ringstrassen-Ära zählen sollte und als Wiener Gemeinderat auch in der Stadtpolitik engagiert war, blieb auch über die Jahre in engem Kontakt mit den Rothschilds – wobei die gemeinsame Positionierung für ein selbstbewusstes Judentum einzutreten, aber dennoch einen offenen, liberalen Umgang mit Nichtjuden zu pflegen, sicherlich dazu beigetragen hat. Nicht nur, dass Stiassny privat mit der Familie verkehrte,5 wurde er auch weiterhin mit zahlreichen Bauaufträgen seitens der Rothschilds betraut.
Neben diversen Aus- und Umbauten der familieneigenen Palais, war Stiassny insbesondere mit der Ausführung einer Reihe von karitativen Einrichtungen befasst, die die Rothschilds im Sinne der jüdischen Zedaka auf das Grosszügigste finanzierten, wobei auch viele der Institutionen nicht nur für Juden gedacht waren.6 Dies war umso wichtiger, als damals die soziale Fürsorge weitgehend in privater Hand lag. So errichtete Stiassny – neben dem bereits angeführten Rothschild-Spital – 1899 in Gaming im Auftrag von Bettina Rothschild, die wegen ihres grossen karitativen Engagements in der Region als „Wohltäterin“ bekannt war, ein Altersheim für die Arbeiter und Arbeiterinnen der niederösterreichischen Domänen, die im Besitz der Familie waren.7 Geplant war die Heimstätte damals für 40 Pfleglinge beiderlei Geschlechts. Bis heute dient das in seinem Stil der ländlichen Umgebung angepasste Gebäude, das inzwischen von der Gemeinde Gaming übernommen und unter Denkmalschutz gestellt wurde, als Seniorenheim.
Aber nicht nur auf dem Gebiet des heutigen Österreich, sondern über die ganze Donaumonarchie verteilten sich die von den Rothschilds finanzierten karitativen Einrichtungen. Um 1888 war Stiassny mit der Errichtung des „Seehospiz San Pelagio“ in Rovinji im heutigen Kroatien befasst, dessen Finanzierung durch einen Förderverein erfolgte, in dem – neben Mitgliedern des alten Adels und einigen grossen jüdischen Familien – Bettina Rothschild eine der wichtigsten Geldgeberinnen war. Das Hospiz, das von der Gemeinde Wien verwaltet wurde, sollte rund hundert Wiener Kindern, die an Rachitis oder Tuberkulose litten, im milden adriatischen Klima eine medizinische Betreuung bieten.8 Als Wiener Gemeinderat und Vertrauensmann der Rothschilds war Stiassny daher für diesen Auftrag prädestiniert. Er wählte nicht nur das Grundstück aus, das in einer wunderbaren Lage in der Bucht von Rovinji situiert war, sondern entwarf auch das stattliche Hauptgebäude – dem regionalen Ambiente angepasst – in der Art eines italienischen Palazzo. Die Institution, die späterhin erweitert wurde und in den Besitz der Gemeinde Wien überging, durchlief eine wechselvolle Geschichte; dessen ungeachtet steht der ursprüngliche Bau bis heute und dient als orthopädische Klinik.9
Das Altersheim in Gaming.
Eine weitere Einrichtung, die modifiziert bis heute besteht, war ein Waisenheim in Mährisch-Ostrau (heute Ostrava). Durch die „Wittkowitzer Bergbau- und Hüttengesellschaft“, die damals die bedeutendste Eisenhütte der Donaumonarchie war, eng mit dieser Stadt verbunden, finanzierten die Rothschilds 1899 dort ein Waisenhaus für 30 Kinder „ohne Unterschied der Nationalität und des Glaubens“.10 Wiederum wurde Wilhelm Stiassny mit dem Projekt beauftragt und liess ein kleines, schmuckes Gebäude im Stil der deutschen Renaissance errichten. Er konzipierte es dermassen, dass es leicht erweitert werden konnte; ebenso war ein grosser Garten für die Kinder angeschlossen. Auch dieser Bau, der nach einer umfassenden Renovierung zu den Schmuckstücken der Stadt zählt, dient bis heute als Kindergarten.
Eines der letzen Projekte, das sich der Zusammenarbeit der Rothschilds mit Stiassny verdankt, war das „Hospiz für arme Israeliten in Karlsbad“, das um 1903 errichtet wurde. Karlsbad war damals eine der bedeutendsten Kurstädte Mitteleuropas, deren Quellen heilende Kraft bei Leber- und Nierenleiden zugeschrieben wurden. In der Hoffnung, sich eine Kurbehandlung zu erbetteln, bevölkerten auch viele arme galizische Juden die Stadt. Um Abhilfe zu schaffen, beschloss man die Errichtung eines Hospizes, das, neben anderen Förderern, insbesondere von den Brüdern Nathaniel und Albert Rothschild finanziert wurde. Nach dem Ankauf eines geeigneten Areals um 8.000 Gulden errichtete Stiassny ein rundum freistehendes dreistöckiges Gebäude in der Art der französischen Renaissance.11 Auch wenn der Bau formal für die Zeit doch etwas konservativ gestaltet war, verfügte das Spital, das für rund 150 Patienten konzipiert war, über die modernste Ausstattung. Mit einem Betraum im maurischen Stil war für die religiösen Bedürfnisse der Insassen gesorgt. Auch diese Institution durchlief eine wechselvolle Geschichte. In der Zwischenkriegszeit grosszügig ausgebaut, wurde es in der NS-Zeit verwüstet und enteignet. Eine Restitution erfolgte erst nach der Samtenen Revolution von 1989, und heute dient das renovierte Gebäude als Kinderklinik.12
Stiassny war aber nicht nur als Architekt für die Rothschilds tätig, sondern fungierte mehrfach auch als Vertrauensmann der Familie, die es zumeist vermied, offizielle Funktionen zu übernehmen und es vorzog, im Hintergrund zu agieren. Unter anderem wandte man sich 1897, als der Zionismus begann, sich als offizielle Organisation zu konstituieren, bei der Vorkonferenz in Karlsbad an den als Wiener Delegierter anwesenden Architekten, dass er als Vermittler zu den Rothschilds als Geldgeber tätig werden solle.13 Aber selbst in der Kunst- szene wurde diese Vermittlerrolle relevant, da Stiassny bei der Vergabe des Roth- schild-Stipendiums an junge Künstler als Juror eine bedeutende Rolle spielte.
Die Rothschild- Gruft sollte nur allzu bald als letzte Ruhestätte von weiteren Mitgliedern der Familie dienen, die von zahlreichen Schicksalsschlägen heimgesucht wurde. Nur vier Jahre nach dem Tod der kleinen Charlotte verstarb 1892 Alberts hübsche Ehefrau Bettina, die in der Wiener Gesellschaft sehr beliebt war, mit erst 33 Jahren. Nathaniel, der ältere Bruder Alberts, der unverheiratet geblieben war und auf die Führung des Bankhauses verzichtet hatte, verstarb 1905 und Albert selbst 1911 – mit dessen Tod fand die glanzvollste Ära der Wiener Rothschilds ein Ende. Ein Jahr zuvor, 1910, war auch Stiassny verstorben.14 In der Familiengruft wurden späterhin noch zwei weitere Kinder Alberts bestattet, bis 1938 die Machtergreifung der Nazis die Geschichte der Wiener Linie brutal beendete. Die restlichen Familienmitglieder emigrierten und wurden in alle Welt zerstreut. Der letzte, der hier bestattet wurde, war Louis Rothschild, der nach dem Tod seines Vaters Albert die Führung des Bankhauses übernommen hatte. Noch in Wien im März 1938 bei der Ausreise von der Gestapo verhaftet, verbrachte er rund ein Jahr im Wiener Gestapo-Hauptquartier Hotel Metropol. Erst nachdem ihm sein Vermögen abgepresst wurde, konnte er das Land verlassen und in die U.S.A. emigrieren. Auf einer Reise in Jamaika bei einem Unfall 1955 verstorben, wurde sein Leichnam auf seinen Wunsch hin nach Wien überführt und in der Familiengruft beerdigt.
Das Seehospiz San Pelagio.
Anmerkungen
1 R. Sandgruber, Rothschild, Glanz und Untergang des Wiener Welthauses, Wien/Graz 2018.
2 Siehe Stammbaum der Familie bei: G. Otruba, Die Wiener Rothschilds, in: Wr. Geschichtsblätter 41.1986, S.149ff
3 I. Scheidl/U.Prokop/W. Herzner, Wilhelm Stiassny, Wien 2019, S.155ff.
4 Der bedeutendste Ausbau war die Errichtung des chirurgisch-gynäkologische Pavillons um 1900, der gleichfalls von den Rothschilds finanziert wurde.
5 Stiassny war häufig zu Gast bei den Rothschilds, u. a. bei Bar Mizwa- Feiern und vielen anderen mehr.
6 Die hier angeführten Projekte sind nur ein kleiner Teil der zahlreichen karitativen Stiftungen und Einrichtungen der Rothschilds.
7 NÖLA Allg. Stiftbriefsammlung/ K 182 „Rothschild Bettina“ Stiftungsbrief 8.5.1897.
8 Fremden Blatt 14.12.1885 u. 23.6.1886.
9 K. Marič/T. Ujčiç/A. Weigl, Erinnerungen an das Seehospiz der Stadt Wien in San Pelagio-Rovinji 1888-1947, Wien 2015.
10 Ostrauer Zeitung 4.12.1898, S.2.
11 Karlsbader Badeblatt 28.4.1899, S.3.
12 J. Bořikova/O. Bořik, Hospice, ṡpitaly a nemocnice v Karlových Varech. Dobrichovice 2004.
13 A. Bain, Theodor Herzl, Wien 1934, Wien 1934, S.335.
14 Eine der letzten grossen Stiftungen der Rothschilds, die Heilanstalt für Nervenkranke in Hietzing und Döbling , um die derzeit prozessiert wird, wurde daher nicht von Stiassny sondern von den Architekten Krauss und Tölk 1910-12 realisiert.
Alle Abbildungen: U. Prokop, mit freundlicher Genehmigung.