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Wie aus Perchtoldsdorf Purkersdorf wurde

Gregor GATSCHER-RIEDL

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Die Traumfabrik Hollywood begann mit einer Gruppe junger mittel- und osteuropäischer Juden, wie die Wiedereröffnungsschau im Jüdischen Museum Wien mit dem Titel „Bigger than life" breit erzählt. Mit dem Aufstieg des Nationalsozialismus in Deutschland ab 1933 folgte eine Welle von Emigranten, die mit unterschiedlichem Erfolg in Kaliforniens Filmindustrie Fuss zu fassen versuchten.

 

Mit dem „Anschluss" 1938 wurde auch die jüdische Film- und Theaterelite Wiens ausgelöscht oder vertrieben. Unter der österreichischen Exil-Community in Hollywood nahm die Volksschauspielerin Gisela Werbezirk eine in doppelter Hinsicht herausgehobene Stellung ein: Sie wurde nicht nur in griffigen Bonmots von Friedrich Torberg literarisch verewigt, sondern schaffte es auch, trotz ihres für US-Zungen beinahe unaussprechlichen Künstlernamens „Werbiseck" an ihre vielseitige Vorkriegskarriere anzuknüpfen. Trotz der rund 20 Filme sowie tausender Auftritte an Bühnen  in Europa und den USA ist Gisela Werbezirk heute fast vergessen.

Die Theaterluft sog die am 8. April 1875 in Pressburg (Pozsony / Bratislava, Slowakei) als Kind einer liberalen, jüdisch-altösterreichischen Familie Geborene von Kindesbeinen an ein. Ihr Vater Ignaz Werbezirk stammte aus Lemberg (Lwiw, Ukraine), hatte 1873 die Pressburgerin Therese Fischer geheiratet und war als Sekretär in der Verwaltung des Pressburger Stadttheaters tätig. Dennoch dauerte es bis 1905, ehe sie auf der Bühne ihrer Heimatstadt an der Seite des gastierenden Josefstadt-Schauspielers Max Pallenberg (1877-1934) debütieren konnte.

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Gisela Werbezirk in einem Rollenfoto aus der Josefstadt um 1930. Foto unbekannt, mit freundlicher Genehmigung Ernst Kieninger, Filmarchiv Austria, Wien.

Josef Jarno, dem Direktor der Josefstadt, war die Pressburgerin aufgefallen und 1906 holte er sie an sein Haus nach Wien. Hier empfahl sie sich für das tragische ebenso wie das komödiantische Repertoire und avancierte bald zum gefragten Publikumsliebling. Die Kammerspiele, das Scala-Theater, das Volks- und Raimundtheater erlebten sie in zahlreichen Rollen, zu denen noch Kleinkunstproduktionen in den Kabaretts Simpl und dem 1920 eröffneten Chat Noir  in der Mariahilfer Strasse kamen.

Steile Karriere an Wiener Bühnen und beim Stummfilm

1912, im Jahr der Geburt ihres Sohnes Heinrich aus der Ehe mit Johann Piffl (1885-1951), einem Verwandten des damaligen Wiener Erzbischofs, sah man sie erstmals auf der noch stummen Leinwand. Nach einer Reihe von Kurzfilmen wurde 1914 „Das Vierte Gebot" nach einem  Stoff von Ludwig Anzengruber produziert, 1917 buchte sie Alexander Graf Kolowrat für seine Sascha-Film in „Viererzug". Den Höhepunkt ihrer Stummfilmkarriere markierte die Rolle der Köchin Kathi in Hans Karl Breslauers expressionistischem Meisterwerk „Die Stadt ohne Juden" nach dem Roman von Hugo Bettauer.

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Porträtfoto mit eigenhändiger Unterschrift der Volksschauspielerin, um 1935. Foto unbekannt, mit freundlicher Genehmigung Ernst Kieninger, Filmarchiv Austria, Wien.

Die ausdrucksstarke Vollblutschauspielerin meisterte mühelos den Übergang zum Tonfilm und stand 1930 für die parodistische Komödie „Das Kabinett des Dr. Larifari" vor der Kamera und dem Mikrofon. Wie unverzichtbar Gisela Werbezirk für das Wiener Theaterleben war, belegt eine Reihe von Theaterrollen, die zwischen 1919 und 1926 für sie verfasst und auf der Rolandbühne", dem Nachfolger des Budapester Orpheums gegeben wurde. Werner Hanak, der Kurator der eingangs erwähnten Ausstellung, bezeichnete diese Stücke als „Leopoldstädter jüdische Lokalpossen", die vom Publikum begeistert aufgenommen wurden: „Die Werbezirk war eine ganz grosse Schauspielerin, die mit Vorliebe jüdische Jargonrollen spielte. Sie war nicht schön, und ihre Figur glich der einer Ente", schrieb Hugo Wiener, und Anton Kuh benannte der Komödiantin zu Ehren die Leopoldstadt kurzerhand in „Werbebezirk" um. Die Frage nach der Natur ihrer Begabung und ihrer gewaltigen Bühnenpräsenz beantwortet Friedrich Torberg:

Sie war eine grosse Volksschauspielerin und eine grosse Menschendarstellerin, die Werbezirk, und eine Meisterin der Nuance. [...] Sie besass die unfehlbare Zauberkraft der Persönlichkeit: das Publikum gänzlich (und dennoch unmerklich) zu beherrschen, ein vor Lachen tobendes Haus in Sekundenschnelle herumzureissen und ihm die Stille des angehaltenen Atems aufzuzwingen, den eben noch nach Luft Japsenden die Kehle derart abzuschnüren, dass ihnen kein Ausweg blieb als der in die Träne."

Jäher Karriereknick durch Vertreibung im  März 1938

Gisela Werbezirk musste 1938 unter Hinterlassung ihres Vermögens mit ihrer Familie nach New York emigrieren, wo sie am Thea-ter arbeitete und ab 1939 auch in Hollywood Fuss fassen konnte. Es waren grossteils im Filmbetrieb verankerte Freunde aus Europa, die ihr zu Engagements verhalfen, wie Robert Siodmak oder Arnold Pressburger. Die Traumfabrik Hollywood schätzte ihre „von schwerem Akzent getragenen Charakterdarstellungen", wie Robert Ulrich urteilte, und sie wurde in kleinen, aber feinen  Rollen im Fach der  Mütter, Grossmütter, komischen Alten und  komischer Chargen besetzt. „Die Werbezirk musste sich in Hollywood nicht deshalb mit kleinen Rollen zufrieden geben, weil sie zuwenig, sondern weil sie zu viel von sich projizierte. Sie sprengte ihre Szenen und die Hierarchie der grossen Gagenempfängerinnen" , so nochmals Torberg über ihre Auftritte in Filmen wie „Der Glöckner von Notre Dame" (1939), „A Scandal in Paris" (1946) oder mit Marlene Dietrich in „Golden Earrings" 1947.

Mit den Filmengagements konnte sich Gisela Werbezirk in Hollywood eine durchaus abgesicherte Existenz aufbauen und wurde zur Grande Dame vor allem in den Wiener Emigrantenkreisen aus dem Literatur- und Theaterbetrieb. Friedrich Torberg lernte sie zu dieser Zeit näher kennen und ihren ungebrochenen Humor geniessen. Die Werbezirk war in Hollywood wohl „happy, aber nicht glücklich", wenngleich sie der kalifornischen Lebensart durchaus etwas abgewinnen konnte und sich durch ihre Filmengagements eine neue berufliche Perspektive erschloss.

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Die imposante „Villa Werbezirk“ in Perchtoldsdorf in der Walzengasse, bis 1928 im Besitz der Schauspielerin. Die Lage des Hauses unweit der Perchtoldsdorfer Heide und die topgraphischen Gegebenheiten der Umgebung machen den Vergleich mit Hollywood absolut nachvollziehbar. Foto Walter Paminger, Perchtoldsdorf, mit freundlicher Genehmigung G. Gatscher-Riedl.

Wie Perchtoldsdorf nach Hollywood kam

Dennoch bezeichnete sie laut dem Bonmot-Sammler Friedrich Torberg ihre neue Heimat als „Purkersdorf mit Palmen". Dieses oft wiedergegebene Zitat hat eine Eigendynamik entwickelt und ist zur Chiffre für die vielen Emigrantenschicksale geworden, die auf Grund ihrer tiefen kulturell-traditionellen Verwurzelungen in Europa im erzwungenen amerikanischen Exil keine Orientierung fanden. Die Werbezirk hat die ohnmächtige Heimatlosigkeit in eine prägnante Formulierung gegossen, die es verdient, näher betrachtet und in Beziehung zur Biographie der Schauspielerin gesetzt zu werden. Dabei zeigt sich, dass Torberg offensichtlich einer phonetischen Unschärfe aufgesessen sein dürfte, denn „die" Werbezirk hatte zeitlebens keinerlei Bezug zu Purkersdorf.

Vielmehr erwarb sie knapp vor dem Ersten Weltkrieg ein Domizil in Perchtoldsdorf. Die repräsentative Historismus-Villa an der Ecke Walzengasse 46 / Lohnsteinstrasse 2 wurde 1911/1912 durch den Perchtoldsdorfer Baumeister Johann Marz (1880-1940) als schlüsselfertiges Objekt errichtet und kurz darauf an Gisela Werbezirk verkauft. Das Haus, bestehend aus Souterrain, Hochparterre mit Loggia als Beletage und ausgebautem Dachgeschoss samt eines Turmes verfügte über grosszügige Salons und auch entsprechende Räume für die Dienerschaft. Hierher zog sich die Werbezirk zu ihrer Familie zurück und konnte durch die Hanglage inmitten der Heidelandschaft und der Weinberge einen herrlichen Ausblick über Wien geniessen, der jenem Panorama gleicht, das sich von Hollywood aus über Downtown Los Angeles - zumindest an klaren Tagen - wahrnehmen lässt. Addiert man die in den 1940er und 1950er Jahren noch vorhandenen Weingärten, die heute nur mehr in der Vine Street weiterleben, hinzu, könnte man es fast mit einer optischen Täuschung zu tun haben.

Gisela Werbezirk verkaufte 1928 ihr Perchtoldsdorfer Anwesen und musste zehn Jahre später unter Zwang Österreich verlassen, ohne das Land bis zu ihrem Tod am 10. April 1956 noch einmal wiederzusehen. Dass die grosse Schauspielerin  im kalifornischen Exil immer noch so an Perchtoldsdorf hing, ja es mit ihrem erzwungenen Domizil verglich, zeigt die grosse individuelle Tragödie der Vertreibung und Ermordung der europäischen Juden.  Andererseits ist ihr Diktum trotz des Torbergschen Übertragungsfehlers aber ein Zeichen der Verbundenheit und Wertschätzung für ihren ehemaligen Heimatort, das grösser kaum ausfallen könnte.

Literatur:

Milena Cesnaková-Michalcová, Geschichte des deutschsprachigen Theaters in der Slowakei. (Wien 1997); Ilan Fellmann, Flucht vor dem gelben Stern. Wie mein Opa Michael Halpern dreimal den Nazis entkam ... (Berlin 2011);Werner Hanak, Kasperl, Nestroy, Werbezirk. Kleine Archäologie einer Theaterlandschaft. In: Ders., Mechthild Widrich (Hg.), Wien II. Leopoldstadt. Die andere Heimatkunde. (Wien 1999), S. 123-141; Ders., Frau Breier aus Gaya meets The Jazz Singer. Zwischen Bühne und Leinwand, Wien und New York. In: Frank Stern, Barbara Eichinger (Hg.), Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938: Akkulturation, Antisemitismus, Zionismus. (Wien-Köln-Weimar 2009), S. 463-481; Paul Katzberger, Historismus, Jugendstil und Neue Sachlichkeit in Perchtoldsdorf. Mit einem Beitrag von Otto Riedel Anton Kuh, Luftlinien. Feuilletons, Essays und Publizistik, hg. von Ruth Greuner, (Wien 1981); Birgit Peter, „Komische Strategien - Weiblicher Witz. Die Schauspielerin Gisela Werbezirk - weiblicher/jüdischer/ österreichischer Witz? In: Monika Bernhold, Andrea B. Braidt, Claudia Preschl (Hg.), Screenwise. Film-Fernsehen-Feminismus. Dokumentation der Tagung „Screenwise. Standorte und Szenarien zeitgenössischer feministischer Film- und TV-Wissenschaften", 15.-17. Mai 2003 in Wien, (Marburg 2004)., S. 125-130; Friedrich Torberg, Gisela Werbezirk oder Frau Breier aus Gaya in Hollywood. In: Ders., Die Tante Jolesch / Die Erben der Tante Jolesch. (München 2008), S. 638-640;  Rudolf Ulrich, Österreicher in Hollywood. (Wien 2004); Ders., Gisela Werbezirk (Werbiseck). Schauspielerin. In: Österreich-Journal. Das Magazin für Österreicher in aller Welt, Nr. 101, (Wien, 4.11.2011); S. 114f. Hugo Wiener, Zeitensprünge. Erinnerungen eines alten Jünglings. (Wien 1991).

1 Gisela Werbezirk in einem  Rollenfoto aus der Josefstadt um 1930. Foto mit freundlicher Genehmigung Ernst Kieninger, Österreichisches Filmarchiv, Wien.

2 Porträtfoto mit eigenhändiger Unterschrift der Volksschauspielerin, um 1935. Foto mit freundlicher Genehmigung Ernst Kieninger, Österreichisches Filmarchiv, Wien.

3 Die imposante „Villa Werbezirk" in Perchtoldsdorf in der Walzengasse, bis 1928 im Besitz der Schauspielerin. Die Lage des Hauses unweit der Perchtoldsdorfer Heide und die topgraphischen Gegebenheiten der Umgebung machen den Vergleich mit Hollywood absolut nachvollziehbar. Foto Walter Paminger, Perchtoldsdorf.