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Aus der Haggada des Pessachfestes

Rabbiner Joel BERGER

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In unserer Haggada, dem Leitfaden für die Sederabende, finden wir eine Mischna, einen Basistext des Talmuds, der mündlichen Lehre (Pessachim, Perek 10: 5). Diese Mischna wurde mit einigen Erweiterungen aus dem halachischen, gesetzes-erläuternden Werk des gelehrten Philosophen Rambam, Maimonides (12.Jhdt.) in das Büchlein des Abends eingefügt. Sie lautet: „Rabban Gamliel lehrte: Wer folgende drei Begriffe am Pessach nicht erläutert, hat seinen Pflichten nicht Genüge geleistet. Sie betreffen: Das Pessachopfer (Korban Pessach), das ungesäuerte Brot (Mazza) und das Bitterkraut (Maror)." Der traditionelle Ablauf des Pessachabends ist eine Anordnung der Tora. Dazu gehörten ursprünglich das Pessach-Lammopfer; die Verpflichtung des Speisens der Mazza, wie auch die Verpflichtung, das Bitterkraut zu uns zu nehmen. Aber auch heute sind wir verpflichtet, die Geschichte des Auszuges aus Ägypten und die Bedeutung des Festes zu erläutern, zu erzählen. Darüber jedoch, dass die obengenannten drei Begriffe Pessach, Mazza und Maror gründlich erklärt werden müssen, lehrte die Tora nicht.

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Rabbiner Joel Berger. Foto: Burhkard Riegels. Mit freundlicher Genehmigung J. Berger.

Es stellt sich die Frage, warum Rabban Gamliel dies mit solcher Konsequenz fordert? Mit der Ergänzung:  wer seiner Linie nicht folge, habe seine Pflichten betreffend des Sederabends nicht erfüllt. Es scheint, dass die anderen Meister, ebenfalls Mitglieder des Sanhedrin (Synhedrion, Hoher Rat), ihm nicht widersprachen, infolgedessen scheinen sie die Lehrmeinung von Rabban Gamliel zu teilen.

Die sonst zahlreichen, namhaften Kommentatoren der Haggada, sowohl die früheren, wie auch die späteren, führen uns in Richtung der Religionsphilosophie oder Theologie; eine Antwort auf die gestellte Frage jedoch sucht man vergeblich.

Dr. Julius Fischer seligen Angedenkens, der frühere gelehrte Rabbiner von Prag, meint, dass es sich bei dieser Mischna um Rabban Gamliel II. handele, den man traditionell mit „Rabban Gamliel d Jawne" bezeichnet. Dieser talmudische Meister führte den Vorsitz im Sanhedrin zwischen den Jahren 80-117 (n.d.Z.). Als er sein Amt übernahm, hatten die Richtungskämpfe zwischen den Schulen von Hillel und Schammaj ihren Höhepunkt erreicht. Rabban Gamliel konnte, dank seiner starken Persönlichkeit, einen Bruch zwischen den Anhängern dieser Parteien verhindern. Er betonte stets die Gemeinsamkeiten der Grundlagen dieser Gelehrtenhäuser und ihrer Anhänger: den festen Glauben an den Ewigen Weltenherrn, wie auch an die Heiligkeit der Gebote der Tora Israels - und die Anerkennung der lückenlosen Kontinuierlichkeit der mündlichen rabbinischen Tradition. Jedoch fanden sich bereits zu dieser Zeit (im 1.-2. Jhdt. n.d.Z.) einige Gruppen, die die einheitliche Glaubenspraxis und die überlieferte Lebensform des Volkes ernsthaft gefährden konnten. Diese haben die klassische Form des Glaubens an G-tt verändert, sie haben in ihrer Praxis die Tora (das Gesetz) ausser Kraft gesetzt, ebenso wie die mündliche Tradition der Rabbinen der Mischna. Alle, die zu diesen Gruppen gehörten, waren natürlich Juden. Historiker oder Theologen der Neuzeit nannten sie viel später „Judeochristen" (oder „Urkirche"!). Diese bemühten sich, ihre Anschauungen bei der Mehrheit des jüdischen Volkes durchzusetzen, jedoch ohne Erfolg. Ihre hartnäckigen „Werbungen" haben vielerorts Verunsicherungen und Zweifel hervorgerufen.

Diese sogenannten „Judeochristen" haben Pessach zwar auf ihren Meister Jesus stützend, jedoch noch immer traditionell, vorschriftsmässig gefeiert. Sie legten aber dieses jüdische Fest auf andere Grundlagen und führten ihm einen anderen Geist hinzu. Sie zogen andere Lehren aus „Pessach -Mitzrajim", aus dem Auszug aus Ägypten. Sie setzten ihren Jesus in den Mittelpunkt ihres Festes. Er bildete die Achse ihrer Zeremonien. Wobei die biblisch-historischen Inhalte bei ihnen so gut wie keine Spuren hinterliessen.  Die späteren christlichen Schriften des sogenannten Neuen Testaments berichten, obwohl nicht einhellig, dass Jesus mit seinen Jüngern (ohne Frauen und Kinder?) das „Abendmahl" abgehalten habe. Er nahm die Mazza, sprach die Bracha, Segensspruch und sagte diese wäre sein Körper und befahl seinen Anhängern die Zeremonien im „Gedenken" an ihn durchzuführen. Dann sprach er auch die Bracha über den Wein und fügte noch hinzu: Trinket, er ist wie mein Blut.

Unser Pessach-Lamm-Opfer wurde bei diesen Zeremonien der „Judeochristen" auch ausschliesslich auf Jesus bezogen. Es wurde damit begründet, er hätte gelitten und sich aufgeopfert. Er wurde damit für seine Jünger eine Quelle der Erlösung. (Für die Kirche bis heute „Agnus Dei" - Lamm Gttes, die Versinnbildlichung der Idee der Erlösung.)

Daraus wird ersichtlich, das der Korban Pessach (das Pessach-Opfer) von seinen Anhängern dem Gedenken Jesu diente; die Mazza, die man ass und der Wein, den man trank ebenso seinem Andenken gewidmet wurden. Sogar der Maror, das Bitterkraut, diente in diesen Kreisen als Erinnerung an die „Passion". Dadurch wurde dieser „Seder" zum „Abendmahl" „umfunktioniert", - als Stiftungsfest der „Urkirche", auch nach dem Tode Jesu.

Wer also diese symbolträchtigen Speisen gemäss dieser Auffassung und mit diesen Gedanken zu sich nahm, war während einer schicksalhaften Epoche, unter der qualvollen römischen Besatzung während der Zeitenwende dabei, seinem Volk den Rücken zu kehren. Auch dann, wenn er sich als Jude bezeichnete.

Traditionell denkende und handelnde Juden konnten diese Gruppe kaum mehr als eine der ihren betrachten.

Rabban Gamliel hielt es für seine eminente Aufgabe, die Einheit des jüdischen Volkes zu wahren. Er erachtete es als unbedingt erforderlich festzustellen, dass diese klassische Tradition der Bezeichnung von Pessach, Mazza und Maror unverminderte Gültigkeit - gegen jegliche Abweichler - besitzt. Nur diese notwendige Einstellung bildete die Grundlage der Lehre Rabban Gamliels in der Mischna, später auch in der Haggada. Es war und ist nicht als Strenge oder Halsstarrigkeit anzusehen, sondern in jener his-torischen Lage als ein notwendiger Pragmatismus. Das Schweigen der anderen Rabbiner im Sanhedrin drückte das unverminderte Einverständnis mit Rabban Gamliel aus. Bis heute sehen wir keinerlei Hauch eines Schattens von Intoleranz oder feindliche Polemik in den Intentionen unseres weisen Meisters, sondern einzig den Willen zur Wahrung und Aufrechterhaltung der jüdischen Überlieferung für die gefährdete Einheit des jüdischen Volkes.

Dr. Joel Berger wurde am Freitag, dem 26.2.2016 im Festsaal der Israelitischen Religionsgemeinschaft Württemberg in Stuttgart mit dem Verdienstkreuz am Bande des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland ausgezeichnet. Andreas Stoch, Kultusminister von Baden-Württemberg, würdigte in seiner Laudatio den ehemaligen Landesrabbiner für dessen herausragenden Einsatz für die Integration, die Verständigung und den interreligiösen Dialog.

Der Kulturverein DAVID gratuliert Landesrabbiner a.D. Dr. Joel Berger herzlich zur Verleihung dieser hohen Auszeichnung der BRD.