Bereits im Frühjahr 2015 präsentierte Friedemann Derschmidt im Kulturzentrum der Minoriten in Graz seine Ausstellung „Sag Du es Deinem Kinde!". Vor Kurzem ist sein Buch mit demselben Titel erschienen, welches tiefe Einblicke in die Nazi-Vergangenheit seiner Familie erlaubt.
Der Autor Friedemann Derschmidt bei der Buchpräsentation im Container25. Foto: Alexander Verdnik, mit freundlicher Genehmigung.
Eine Familiengeschichte der ganz anderen Art präsentiert der Filmemacher und bildende Künstler Friedemann Der-schmidt in seinem Buch Sag Du es Deinem Kinde! Nationalsozialismus in der eigenen Familie. Ausgangspunkt des Projektes, Reichel komplex, welches im Buch thematisiert wird, ist Derschmidts provokante Behauptung, dass sein Urgrossvater, ein Eugeniker und Rassenhygieniker, sein ganz persönliches Vererbungsprojekt gestartet habe. Er hat neun Kinder gezeugt und diese dazu angehalten, ebenfalls viele Kinder zu zeugen. Tatsächlich umfasst die erweiterte „Reichel-Familie" heute 36 Enkel und über 80 Urenkel, die wiederum Nachkommen haben. Der Künstler stellte eine Website online, in der seine Familienmitglieder ihre Meinung zu seiner Ausgangsthese abgeben konnten. „In den letzten vier Jahren des Projektes" so Derschmidt,
„gab es sehr unterschiedliche und kontroverse Prozesse mit den adressierten Familienangehörigen. Anfangs wurde ich schwer attackiert. Nur ganz wenige haben mein Vorhaben von Beginn an unterstützt. Die meisten fühlten sich massiv persönlich angegriffen und zeigten sich verletzt und zornig. Mir ist es in dieser Phase nicht gelungen klarzumachen, dass es mir um die grössere Struktur und nicht um einen persönlichen Rachefeldzug gegen meine Herkunftsfamilie geht. Von Anfang an habe ich mein Projekt als Angebot und Einladung zu gemeinsamer (Trauer-)Arbeit kommuniziert, was man aber nicht verstanden hat oder verstehen wollte oder was man zwar verstanden hat, aber nicht annehmen wollte."
In seinem Buch ist der Künstler der Nazi-Vergangenheit seiner Grossfamilie auf der Spur. Foto: Friedemann Derschmidt/Löcker Verlag. Mit freundlicher Genehmigung A. Verdnik.
Mit der Zeit stiessen aber immer mehr Familienmitglieder zu dem Projekt, und es taten sich wahre Abgründe auf. Darunter unter anderem das Wissen einiger Familienmitglieder um das Schicksal der Häftlinge in Mauthausen.
Das Projekt hat dem Künstler viel abverlangt. Bei der Aufarbeitung der Vergangenheit seiner Familiengeschichte hat er recht bald festgestellt, dass sehr viele seiner Vorfahren in das NS-System eingebunden waren und dieses gefördert haben, männliche wie weibliche. Die Wurzeln völkischen und deutschnationalen Denkens innerhalb der Familie reichen aber viel weiter zurück, und zwar bis zu eben jenem Urgrossvater, also zeitlich um die Wende zum 20. Jahrhundert. „Das Projekt Reichel komplex stellt die Frage nach ideologischen, sozialen und kulturellen Kontinuitäten in unserer Gesellschaft anhand der eigenen Familie. Man kann es als Modell für viele österreichische und deutsche, aber auch europäische Familien sehen, die in den Nationalsozialismus verstrickt waren", erklärt der Kurator des Kulturzentrums bei den Grazer Minoriten.
Im Kunst- und Kulturverein Container25 in Hattendorf bei Wolfsberg startete Friedemann Derschmidt eine Reihe von Präsentationen seines Buches.
„Über die Jahre und nicht ohne die Hilfe einiger kritischer Mitglieder der Familie habe ich herausgefunden, dass in der Grossfamilie ein sehr komplexes Gespinst aus Mythen, Legenden und Lügen über die Vergangenheit und die Generation der Grosseltern und Urgrosseltern gewoben worden war. Ich erkannte, dass auch Menschen, die mir emotional sehr nahe standen, aktiv an dieser Selbstverherrlichung der Grossfamilie Teil hatten und teilweise daran bis heute festhalten. Innerhalb dieses Kokons aus Geschichten wurde mir schrittweise immer klarer, dass viele Familienmitglieder aktive und begeisterte Nazis gewesen sind", so der Autor.
Seit mittlerweile über 25 Jahren beschäftigt sich Derschmidt mit der teils problematischen Vergangenheit seiner Vorfahren. Während dieser Zeit entstand eine umfangreiche Sammlung an Dokumenten, Fotos und Videogesprächen. Bei der Realisierung standen dem Autor unter anderem Wolfgang Freidl (Universitätsprofessor und Vorstand für Sozialmedizin und Epidemiologie der MedUni Graz), Margit Reiter (Dozentin für Zeitgeschichte und FWF-Research Fellow an der Universität Wien), der Kulturanthropologe an der Universität Klagenfurt Klaus Schönberger sowie mehrere Familienmitglieder mit Gastbeiträgen zur Seite. Das letzte Kapitel in Sag Du es Deinem Kinde! verweist auf das gemeinschaftliche Projekt Two Family Archives von Derschmidt und des israelischen Künstlers Shimon Lev. Dieser hat sich ebenfalls seit über mehr als zwei Jahrzehnten mit der Vergangenheit seiner Familie beschäftigt. Im Gegensatz zu Derschmidts Grossfamilie bestand Levs Familie nach dem Ende der NS-Herrschaft nur noch aus einer Person, seinem Vater. Ein Teil der Ausstellung in Graz war die Videoinstallation His Story, bei der die beiden Künstler einen Rollentausch vornahmen; der eine spricht auf dem Video jeweils die Familiengeschichte des anderen. Der Titel des Buches, der eigentlich von einem Aufklärungsbüchlein aus der NS-Zeit, das Derschmidt auf dem Dachboden gefunden hatte, stammt, deutet einerseits darauf hin, wie „erbbiologisch und rassenhygienisch relevante Fakten" von der einen Generation an die nächste weitergegeben wurden. Andererseits kann der Titel als Mahnung verstanden werden, dass die heutige Generation den kommenden mit auf den Weg geben sollte, welch unsagbares Leid „erbbiologisch und rassenhygienisch relevante Fakten" erzeugen können.
Nach der Präsentation fand noch eine interessante Diskussionsrunde statt, bei der Derschmidt zwei Mitgliedern des Jugendkollektivs Anteaters Against Rede und Antwort stand. Anschliessend nahm sich der Autor und Künstler noch viel Zeit für Fragen aus dem Publikum. Das mehr als dreihundert Seiten starke Buch ist 2015 im Löcker Verlag erschienen.