Ausgabe

Die zweigeteilte Bilderwelt der Madame d’Ora

Annette BUSSMANN

Content

Bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges schuf die international gefeierte Portrait-Fotografin Dora Kallmus, genannt Madame dOra1, glamouröse Scheinwelten für den Kultur- und Finanzadel - zuerst in Wien, dann in Paris. Nach 1945 aber wandte sie sich der Enttarnung des Abseitigen und Verdrängten zu: Sie dokumentierte Leben und Leiden in österreichischen Geflüchtetenlagern - und das Töten und Sterben in Pariser Schlachthöfen. Warum sie das tat, verriet sie nicht. Aber dass sie es tat, wurde jahrelang gern ausgeblendet.

  h108_0020

Coco Chanel, um 1925/27. Silbergelatineabzug, 21,8 x 15,9 cm. Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg. (Mit freundlicher Genehmigung des Museums für Kunst und Gewerbe Hamburg) 

Als sich Madame dOra um 1948/492 erstmals mit ihrer frisch erworbenen Handkamera, einer Rolleiflex, in die sogenannten Abattoirs, die megalomanen Pariser Schlachthöfe wagte, um dort verstörend akribisch zerstückeltes Vieh abzulichten, war sie keinesfalls die Erste, die sich dieses beklemmenden Sujets annahm: Nahezu zeitgleich arbeitete sich der französische Filmemacher Georges Franju durch die Materie. Und schon lange vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges hatten Schriftsteller wie Upton Sinclair, Bertolt Brecht oder Alfred Döblin grossstädtische Schlachthöfe zur neuzeitlichen Gewalt- und Ausbeutungsmetapher per se stilisiert. Chaïm Soutine, der Maler, produzierte geradezu manisch Gemälde mit Tierkadavern und der surrealistische Filmemacher Luis Buñuel sowie die FotografInnen Eli Lotar, Berenice Abbott und der Allround-Künstler Wols kreisten ähnlich gebannt um das Motiv.

Die Abattoir-Serie

Kunsthistorisch ist dOras Abattoir-Serie dennoch einzigartig: Über zehn Jahre, bis etwa 1958, arbeitete sie an dem Zyklus. Am Ende umfasste dieser mehrere hundert Fotografien. Einmal in Farbe, einmal in Schwarzweiss, teils erbarmungslos ungefiltert, teils surrealistisch verzerrt und betitelt. DOra entwickelte dabei eine hocheigene Bildsprache, obgleich ihre surrealistisch montierte Kuhbein-Serie markante Parallelen zu Eli Lotars „Abattoir"-Reihe (1929)3 aufweist. Während dOra eine Deutung ihres Schlachthof-Œuvres rundweg verweigerte, zeigten sich einige Abattoir-Kollegen redseliger: An Charles Baudelaires „Ästhetik des Hässlichen" erinnernd, mahnte Wols, „um das Schöne zu kennen muss man das Hässliche kennen"4 und Eli Lotar begründete seine Kadaverinszenierungen mit seiner Liebe zu einem „Paris, das sich versteckt". So sehr die künstlerischen Absichten differierten, so sehr einte sie letztlich, die Tötung von Tieren für ein Publikum sichtbar gemacht zu haben, das gerne Fleisch isst, tendenziell aber lieber wegsieht und verdrängt. 1948, als Verdrängung und Wegsehen bei der Aufarbeitung der Verbrechen des Zweiten Weltkrieges an der Tagesordnung standen und dOra ihre Serie startete, verlieh der Schweizer Kunsthistoriker Sigfried Giedion der Abattoir-Rezeption eine neue Dimension: In seinem Schlüsselwerk „Mechanization Takes Command"5 fragte er, ob die seit dem 19. Jahrhundert zusehends perfekter durchorganisierte, im Sekundentakt vollstreckte Massentötung von Tieren nicht letztlich die Shoah ermöglicht habe - da sie die Menschheit emotional unerträglich habe abstumpfen lassen.

h108_0021

Abgetrennte Kuhbeine aus der Schlachthof-Serie, vor 1958. Silbergelatineabzug, 28,3 x 37,3 cm. Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg. (Mit freundlicher Genehmigung des Museums für Kunst und Gewerbe Hamburg) 

Von Wien nach Frankreich

Madame dOra, vor 135 Jahren, am 20. März 1881, in eine grossbürgerliche jüdische Wiener Familie hineingeboren, fiel schon während ihrer Ausbildung als hochtalentiert auf: Ihr Lehrer, der hofierte Berliner Portrait-Fotograf Nicola Perscheid, lobte sie als „bes-te Schülerin" und „Dame von hoher Intelligenz". Sie selbst erinnerte ihre Lehrzeit weniger euphorisch: Dank Perscheids bodenloser Ansprüche habe sie „ein Kapital an Können" gewonnen, aber „ein Kapital an Nerven" verloren. Nach nur fünf Monaten verliess sie dessen „Narrenhaus" und eröffnete im Herbst 1907, kaum 26-jährig, gemeinsam mit Perscheids ehemaligem Assistenten Arthur Benda (1885-1969)6 ein Atelier in der Wiener Wipplingerstrasse. Gezielt knüpfte sie von Anbeginn mannigfaltige Kontakte zur Kulturszene: Da damals kaum ein Fotostudio ausschliesslich von Laufkundschaft leben konnte, konzentrierte sie sich auf die ihrerzeit als Sammelobjekte begehrten Prominentenportraits im Postkartenformat. DOra scheute nahezu kein Mittel, um berühmte ZeitgenossInnen wie Karl Kraus, Berta Zuckerkandl oder Gustav Klimt vor die Kamera zu locken. Teils sprach sie sie auf offener Strasse an. 1909, nachdem die Zeitschrift „Erdgeist" mehrere dOra-Portraits gedruckt und der Wiener Kunstsalon Heller erstmals zu einer Ausstellung mit ihren Bildern lud, war der Durchbruch geschafft: Ihr pompös ausstaffiertes Atelier avancierte zu DER Wiener Adresse für Portraitfotografie. Selbst der distinguierte österreichisch-ungarische Hochadel liess sich bereitwillig von ihr ablichten. Ungewöhnlich früh, ab 1910, gewann dOra die just geborene Fotopresse als Kundin, platzierte dort ihre Prominentenportraits, später zunehmend Modeaufnahmen. Nach kurzen Stippvisiten in Karlsbader Nobelhotels zog sie 1925 ins 17. Arrondissement der Kunst- und Modemetropole Paris. Sie portraitierte Marlene Dietrich, Josephine Baker und Coco Chanel und verbreitete ihr Werk in zahllosen Zeitschriften. Zeitlebens distanzierte sich dOra von geldtriefenden Scheinwelten.7 Dennoch eilte ihr der Ruf einer kapriziösen Luxus-Diva voraus - und einer arbeitswütigen Perfektionistin: Zwischen 1907 und 1927 schufen sie und ihr Team bemerkenswerte 90.000 Aufnahmen. Obwohl man Lichtbilder damals als Kreationen niederen künstlerischen Ranges handelte, vermarktete sich dOra von Anbeginn selbstbewusst als Vollblutkünstlerin. Sie wurde als „Genie des guten Geschmacks"8, als „Meisterin von Bildaufbau, Beleuchtung und Retusche"9 zelebriert, die modern, nicht jedoch avantgardistisch arbeite: DOras Wunsch nach grösstmöglicher Kundenzufriedenheit schloss kaschierende Unschärfen und Retuschen keinesfalls aus. Diese aber waren in Neuem Sehen und Neuer Sachlichkeit als untragbare Euphemismen verpönt.

Spätere Jahre

1940 zwang die deutsche Besatzung dOra, die sich 1919 katholisch hatte taufen lassen, zur Geschäftsaufgabe. Zwei Jahre später, als die Wehrmacht-Truppen auch Südfrankreich okkupierten, tauchte dOra im Ardeche-Dorf La Lanvese unter. Das Gros ihrer Familie wurde indes von den Nazis ermordet. Trotz manifester Depressionen - „das Thermometer meiner Kräfte war unter Null"10 - fand sie nach Kriegsende, mit weit über 60 Jahren, die Kraft zum künstlerischen Neuanfang: Früh, 1946/47, kehrte sie nach Österreich zurück, fotografierte im Auftrag der damals jungen Vereinten Nationen ausgemergelte, mimisch erstarrte Geflüchtete. Nicht mehr die schwerfällige, riesenhafte Studiokamera, sondern ein spontan auslösbarer, leichtgewichtiger Handapparat diktierte jetzt ihre Bildsprache: Zeitgemäss orientierte sie ihren Duktus an der vorgeblich lebensnahen Reportage-Fotografie des US-Magazins LIFE. Ihr das Grauen latent ästhetisierender Abattoir-Zyklus ist künstlerisch trotzdem strikt vom Restwerk zu trennen: Er entstand als freie Arbeit, losgelöst von Auftraggeber-Zwängen. Entworfen, um zum Hinsehen zu animieren, bewirkte er interessanterweise dekadenlang das Gegenteil: „Ich glaube, es ist unnötig zu beschreiben, was sich unserem Auge auf den ersten Blick offenbart" 11, verweigerte bereits Jean Cocteau, der Laudator einer 1958 von der UNESCO initiierten dOra-Retrospektive, eine Verbalisierung der dOraschen Schreckensszenen. Und selbst noch 1983, als die erste dOra-Monographie erschien, kaprizierte sich die Publikumspresse primär auf ihre Facette als Glamour-Portraitistin. „Sie war berühmt, aber nicht bekannt"12, soll Cocteau einmal gesagt haben. Inzwischen sind glücklicherweise beide Seiten dOras berühmt - und bekannt.

1  Kallmus Künstlerinnename fusste angeblich auf ihrer Frankophilie. Ob sie ihn vom gleichnamigen 1904 erschienenen Roman des dänischen Schriftstellers Johannes von Jensen ableitete, ist unbekannt.

2  Soweit nicht anders vermerkt, alle biografischen Angaben und Zitate aus: Faber, Monika: Madame dOra. Portraits aus Kunst und Gesellschaft 1907-1957. Wien/Paris. Wien 1983. Für die frdl. Genehmigung zum Nachdruck der Abbn. danke ich dem Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg.

3  Hierzu: Eli Lotar. AK, Bonn 1994

4  Zit. n. Wols. Das grosse Mysterium. AK, Köln 2013, S. 19

5  Giedion, Sigfried: Mechanization Takes Command. New York 1948

6  Bendas und dOras Anteile lassen sich beim gemeinsamen Werk kaum rekonstruieren. Die Forschung mutmasst, dass dOra für die Bildidee und Benda für deren technische Umsetzung verantwortlich war.

7  Vgl. u.a. ihren kritischen Beitrag zur Josefine Baker-Rezeption. In: Die Dame (1926). Nachdruck in: Die Dame. Ein deutsches Journal für den verwöhnten Geschmack 1912 bis 1943. Frankfurt/Main, Berlin 1980, S. 260-261

8  Über Madame dOra. In: Die Dame (1929), H. 15, S. 11

9  Silverman, Lisa: Ein eigenes Zimmer. Der Salon der Fotografin. In: Viennas Shooting Girls. Jüdische Fotografinnen in Wien. AK, Wien 2012, S. 30-35

10  Zit. n. Kempe, Fritz u.a.: Nicola Perscheid, Arthur Benda, Madame dOra. AK, Hamburg 1980, S. 30

11  Cocteau, Jean: Laudatio auf Madame dOra. Paris 1958, Nachdruck in: Kempe (1980), S. 31-32

12  Kempe (1980), S. 30