Am heiligen Sederabend versammelt sich die ganze Familie und man feiert die Gründung des jüdischen Volkes durch den Auszug aus Ägypten. Die Anwesenden zitieren die Haggadah in erhabenem Geiste, nachdem die/der Jüngste in der Familie mit folgenden Worten eingeleitet hat: „Wenn der Tate kimmt aheim fin Schil tit er sich ohn den weissen Kittel und macht gleich Kiddisch, damit die kleine Kinder sollen nischt einschluffen".
Nach einigen einführenden Passagen wird aus der Mischna, einem wichtigen Teil des Talmuds, zitiert: „In jeder Generation und zu jedem Zeitalter ist der Mensch verpflichtet, sich vorzustellen, als sei er selbst jetzt aus Ägypten hinausgezogen, denn es heisst: „Und Du sollst verkünden Deinem Sohne an jenem Tage: darum geschieht dieses, weil G`tt mir wohlgetan hat, als ER mich aus Ägypten führte. Nicht unsere Vorfahren hat HKBH (HaKadosch Baruch Hu = der Heilige gelobt sei Er) aus Ägypten erlöst, sondern auch uns hat ER mit ihnen erlöst; denn es heisst:»Und ER hat uns von dort hinausgeführt, um uns in das Land zu bringen, dass Er unseren Urvätern versprochen hat zu geben»".
Mein Lehrer Rabbi Mosche Tikuc`insky s.A. pflegte zu sagen, dass man, damit man sich dieses Mizwah-Gebot gründlich vorstellen und es mit allen Sinnesorganen erfassen und dadurch vollkommen erfüllen kann, zuerst die Versklavung, die Peinigung und die Erniedrigung durch den Pharao wie alles Leid und Not, welche unsere Vorfahren dort erlitten haben, wachrufen soll. Wenn wir imstande sind, das zu vollziehen, werden wir mit Freude und Begeisterung im Geiste erleben können, wie wir aus Ägypten zur Freiheit in der Welt in allen Aspekten des Lebens, seelisch wie körperlich, erlöst worden sind, wie es steht: „Und DU sollst gedenken, dass DU ein Sklave warst in Ägypten" sozusagen; stelle DIR vor, als wärst DU selbst ein Sklave und wurdest ausgelöst. (1)
Mein Rebbe, der Erlauer Rabbiner schlit"a (Er soll lange leben), pflegte zu sagen:"Unsere Generationen sollen daraus folgern, dass wir auch verpflichtet sind, unsere eigene Versklavung und die Rettung daraus, unseren Kindern zu erzählen." Jede Familie soll ihren eigenen, individuellen »Auszug aus Ägypten» erzählen." In diesem Sinne können wir die jüngere Geschichte des jüdischen Volkes verstehen. Unsere Errettung aus der Zeit der nationalsozialistischen Verfolgung und der Shoah ist unser „Auszug aus Ägypten". Die Befreiung davon ist ein Schritt in die Freiheit in der Welt, seelisch wie körperlich. Und Rebbe schlit"a hat es auch so praktiziert und seine eigene Errettung und die seiner Familie erzählt.
Die Knechtschaft in Ägypten und der Exodus waren der Keim der späteren Entwicklung - bis heute. So schreibt der renommierte Ägyptologe Jan Assmann in seinem 2015 erschienenen Buch Exodus: „Die Versklavung der Kinder Israels und ihre Leiden in Ägypten ist ein Thema von enormer Bedeutung und Strahlkraft in jüdischer, christlicher sowie islamischer Tradition. Ohne diesen Leidensdruck kein Exodus, ohne den Exodus keine neue Welt, in der sich das Verhältnis von G´tt und Welt, G´tt und Menschheit, Mensch und Gesellschaft bis hin zu Vergangenheit und Zukunft von Grund auf verändert hat."(2)
Judenfeindschaft ist keine Erfindung des 20.Jahrhunderts. Schon im 2.Jahrhundert, als sich das Christentum endgültig vom Judentum losgesagt hatte, wälzten die Anhänger der neuen Religion die Schuld am Tod ihres Erlösers auf die Juden ab. Sie warfen ihnen vor, nicht zu dessen Anerkennung und folglich nicht zur Konversion bereit zu sein, weshalb sie - so formulierten es Kirchenväter - zu „ewiger Knechtschaft" verurteilt seien.
Im Mittelalter, als den Christen Zinsgeschäfte weitgehend untersagt waren, griffen Fürsten immer wieder - auf ihre Art - zum Schuldenschnitt, indem sie ihre jüdischen Gläubiger des Landes verwiesen. Bürger folgten diesem Beispiel, auch sie entledigten sich mit den Pfandleihern ihrer Schulden und wurden so zugleich lästige Konkurrenten auf den Märkten los. Man erfand und verbreitete phantastische Horrorgeschichten mit dem Zweck, Hass zu schüren, der sich wiederholt in grauenhaften Pogromen entlud. Um den Verbrechen den Schein von Rechtfertigung zu verleihen, musste immer die Religion herhalten - das gilt auch für die Vertreibung der Juden aus Spanien und Portugal Ende des 15.Jahrhunderts.
Exodus 2, 6:
„Und Josef starb und alle seine Brüder und jene ganze Generation. Die Söhne Israel aber waren fruchtbar und wimmelten und mehrten sich und wurden sehr, sehr stark, und das Land wurde voll von ihnen."
Davon, dass die Kinder Israel in den christlichen Ländern gewimmelt hätten, kann keine Rede sein. Aber ab dem 18. Jahrhundert schien sich mit der Aufklärung eine Tendenz zur Entspannung durchzusetzen. Der österreichische Kaiser Joseph II. erliess zwischen 1781 und 1785 Toleranzpatente, die nicht nur den Protestanten, sondern in geringerem Ausmass auch den Juden zugutekamen. Die letzten Schritte zur rechtlichen Gleichstellung der Juden und ihrer Religion erfolgten freilich erst Jahrzehnte später - in Österreich 1867. (3)
Zumindest ein Teil der Juden rückte nun in die Mitte der Gesellschaft vor. Europa öffnete sich. Religion als Begründung für die Ausgrenzung schien schrittweise an Bedeutung zu verlieren. Doch ein neues Kapitel in der Verfolgung der Juden tat sich auf: In der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts erfand man ein neues Monstrum, das kein Angebot einer „Bekehrung zum Christentum" und kein Entkommen mehr zuliess: der Rassenantisemitismus. Für seine Vertreter - in Österreich war Georg Schönerer ihr politischer Wortführer - war durch die Biologie unkorrigierbar vorgegeben, wer Jude war: Angehöriger jener Rasse, die man als „Semiten" ganz unten in einer frei erfundenen und pseudowissenschaftlich verbrämten Hierarchie der Rassen ansiedelte. Und nicht genug damit: auch Karl Lueger, Wiener Bürgermeister von 1897 bis 1910, wollte mit seiner Christlichsozialen Partei das Ressentiment gegen Juden nicht ungenutzt lassen und setzte zwecks Wählerfang auf Antisemitismus. Von ihm hat Hitler, der damals in Wien lebte, wohl viel gelernt.
Exodus 1,8-10: „Da trat ein neuer König (die Herrschaft) über Ägypten an, der Josef nicht (mehr) kannte. Der sagte zu seinem Volk: Siehe, das Volk der Söhne Israel ist zahlreicher und stärker als wir. Auf, lasst uns schlau gegen es vorgehen, damit es sich nicht noch weiter vermehrt!"
Am 30.Jänner 1933 ergriff die Ideologie des Rassenantisemitismus mit Hitler und dem Nationalsozialismus die Macht im Staate Deutschland. „Die Juden" wurden zum Feind Nummer 1 erklärt. Dabei wollte man - wie es in Exodus heisst - „schlau vorgehen". Man setzte auf ein verdoppeltes Feindbild. Einerseits stellte man die Juden als Gefahr dar, eine „jüdische Weltverschwörung" - erfunden vom zaristischen Geheimdienst - wurde als schreckliche Bedrohung an die Wand gemalt.
Exodus 1,10:
„..... lasst uns schlau gegen es vorgehen, damit es sich nicht noch weiter vermehrt! Sonst könnte es geschehen, wenn Krieg ausbricht, dass es sich auch (noch) zu unseren Feinden schlägt und gegen uns kämpft und (dann) aus dem Land auszieht."
Andererseits konnten die Juden von den Nationalsozialisten gar nicht schlecht und minderwertig genug dargestellt werden. Die Nazis missachteten dabei jedes menschliche Mass und versahen die Juden mit biologischen Etiketten wie „Schädlinge" oder „Parasiten". Dazu einige Zitate von führenden Nationalsozialisten.
Am 10. September 1939 machte Hitler eine Rundfahrt durch das Judenviertel der polnischen Stadt Kielce und erklärte dabei: „Es ist unvorstellbar, wie diese Menschen aussehen. Alles sträubt sich in uns, und der physische Abscheu hindert uns, unsere journalistischen Nachforschungen an Ort und Stelle fortzusetzen. Es sind die Juden in Polen keineswegs arm, aber sie leben in einem unvorstellbaren Schmutz, in Hütten, in denen in Deutschland kein Landstreicher übernachten würde." (4)
Am 2. November 1939 meinte Goebbels zu Hitler: „Das Judentum ist ein Abfallprodukt. Mehr eine klinische, als eine soziale Angelegenheit."(5) Joseph Goebbels am 7. Oktober 1843: „Das Judenproblem wird wohl am schwierigsten zu lösen sein. Diese Juden sind gar keine Menschen mehr. Mit einem kalten Intellekt ausgestattete Raubtiere, die man unschädlich machen muss."(6) Heinrich Himmler am 4. November 1943: „Wir hatten das moralische Recht, wir hatten die Pflicht gegenüber unserem Volk, dieses Volk, das uns umbringen wollte, umzubringen."(7)
Was wollten die Nationalsozialisten, worauf wollten sie hinaus? Die Juden sollten aus der Gesellschaft verschwinden, das galt vom Anfang bis zum Ende der nationalsozialistischen Herrschaft. Die Frage war: Wie? Man wollte sie vertreiben, zur Emigration zwingen. Tatsächlich verliessen bis zum Herbst 1941 300.000 Juden, denen man zuvor noch ihr Vermögen abgepresst hatte, das Deutsche Reich. (8) Schikanen, Angstmachen und Vertreiben lautete das Rezept der Nationalsozialisten bis zum Beginn des 2.Weltkrieges.
Doch dabei sollte es aber nicht bleiben, im Sinne der NS-Rassenideologie konnte das nicht alles sein. Immer wieder, schon in Hitlers Buch Mein Kampf (1925 erschienen) und nicht nur dort, war vom Vernichten und Auslöschen der Juden die Rede gewesen. Sie wurden rassenideologisch als Bedrohung eines gesunden Volkskörpers dargestellt, als Schädlinge und Parasiten, mit denen man entsprechend verfahren sollte. In den 1930er Jahren kam es immer wieder und nicht nur vereinzelt zu Morden an Juden. Der organisierte Massenmord, die sogenannte „Endlösung der Judenfrage", setzt aber erst mit dem Überfall Deutschlands auf die Sowjetunion im Juni 1941 ein.
Exodus 1,11-12:
„Daher setzten sie Arbeitsaufseher über es, um es mit ihren Lastarbeiten zu drücken. Und es baute für den Pharao Vorratsstädte: Pitom und Ramses. Aber je mehr sie es bedrückten, desto mehr nahm es zu; und so breitete es sich aus, so dass sie ein Grauen erfasste vor den Söhnen Israels."
Rabbi Moshe ben Nachman (auch Nachmanides genannt, 1194-1270) schrieb, dass der Pharao - wie es in Ex. 1.10 steht - schlau vorgehen wollte, von Anfang an die Absicht gehabt habe, die Kinder Israel zu vernichten. Er habe aber noch nicht gewagt, den Befehl zu ihrer „Ermordung mit dem Schwert" zu geben, weil er Widerstand im ägyptischen Volk befürchtete. Rabbi Moshe ben Nachmans Schüler Rabbi Bachja ben Ascher ergänzt dazu, der Pharao sei deshalb stufenweise vorgegangen. Zuerst zog er sie zur Fronarbeit heran, was nicht unüblich war und woran sich das Volk nicht stossen konnte, als nächste Stufe teilte er sie zu besonders schwerer körperlicher Arbeit ein und setzte sie zusätzlich unter Druck, indem sie den Lehm und das Stroh (Häcksel) für die Ziegel selbst besorgen mussten, schliesslich wurde ihnen sogar der Einkauf des Strohs verboten und sie mussten es selbst irgendwie auftreiben.
Exodus 5.6-8:
„Und der Pharao befahl am gleichen Tag den Antreibern des Volkes und seinen Aufsehern: Ihr sollt dem Volk nicht mehr wie bisher Häcksel zur Anfertigung der Ziegel liefern! Sie sollen selbst hingehen und sich Häcksel sammeln. Aber ihr sollt ihnen die(selbe) Anzahl Ziegel auferlegen, die sie bisher angefertigt haben; ihr sollt nichts daran kürzen."
Rabbi Bachja sieht eine weitere Steigerung der Schikanen darin, dass Männerarbeit nun von Frauen und Frauenarbeit von Männern gemacht werden musste, und die Kinder Israel immer mehr zu sinnloser und unproduktiver Arbeit gezwungen wurden. Vernichtung durch Arbeit, so schreibt Rabbi Bachja, sei der Hintergedanke des Pharao gewesen. Erst als er sah, dass er mit diesen Methoden sein Ziel nicht erreichen konnte, habe er offen zum Mord - zunächst an den Neugeborenen -aufgerufen.
Die Juden sollten laut der antisemitischen Rassenideologie aus der Gesellschaft verschwinden. Aber wie und wohin? Noch im Jahr davor hatte es einen Plan gegeben, alle Juden, die in den von deutschen Truppen besetzten Gebieten lebten - das wären etwa 4 Millionen Menschen gewesen (9) - nach Madagaskar zu verbringen. Eine absurde Idee, die der Kriegsverlauf hinfällig gemacht hatte. Nun aber, als die deutsche Wehrmacht in der Sowjetunion immer weiter Richtung Osten vordrang, begann das, was Historiker als den Beginn des Holocaust ansehen: sogenannte Einsatztruppen, zusammengesetzt aus diversen Polizeieinheiten und Waffen-SS und befehligt von Höheren SS- und Polizeiführern, mordeten hinter der Front. Der antijüdische Terror kannte keine Grenzen mehr, Juden aus allen Schichten der Bevölkerung wurden Opfer von Razzien und Massenexekutionen, vermeintliche Kommunisten und jeder, der irgendwie als verdächtig galt, wurden sofort ermordet. Intellektuelle und alle, die, wie man es nannte, als „rassisch unerwünscht" gelten konnten, Kriegsgefangene, ebenso wie Geisteskranke oder Roma - sie alle wurden erschossen oder in zu Gaswagen umgebauten LKW erstickt. Auf das Konto dieser Einsatztruppen gehen mehr als 500.000 Opfer (10): eine horrende Zahl. Trotzdem war der nationalsozialistischen Führung klar, dass sie auf diese Weise das Ziel ihres mörderischen Rassenwahns nicht erreichen würde. Nach ihrer Einschätzung, festgehalten im Protokoll der Wannseekonferenz vom Jänner 1942, kämen im Zuge einer, wie sie es nannten, „gesamteuropäischen Endlösung" elf Millionen Juden in Frage.(11)
Im Laufe des Jahres 1941 rückte ein Instrument, eine Einrichtung des Nationalsozialismus ins Zentrum, das fast zu einem Synonym des Terrors des Regimes geworden ist: das Konzentrationslager. Gleich nach der Machtergreifung 1933 waren die Nationalsozialisten daran gegangen, Lager zu errichten: das erste in Dachau, 1936 in Sachsenhausen, im Jahr darauf Buchenwald. Dachau wurde ausgebaut und kaum war Österreich von Hitler-Deutschland geschluckt worden, baute man hier das Lager Mauthausen. Von Anfang an und immer mehr spielte die SS die entscheidende Rolle, ihre KZ-Wachtruppen erhielten 1936 den Namen „SS-Totenkopf-Verbände". (12) Häftlinge waren anfangs politisch oppositionell Eingestellte, Kommunisten, auch Sozialdemokraten, dann immer mehr Personen, die politisch als nicht angepasst und unerwünscht galten, unter ihnen zahlreiche Juden. Zur Zahl der Insassen: im November 1936 gab es 4.700 KZ-Häftlinge, zwei Jahre später 24.000, nach den November-Pogromen von 1938 60.000. (13) Es konnte jeden treffen, der nicht den nationalsozialistischen Vorstellungen von der „Volksgemeinschaft" entsprach, sogenannte „Asoziale", ebenso wie Zeugen Jehovas, Homosexuelle oder Vorbestrafte, und nach den Novemberpogromen von 1938 besonders viele Juden. Das Leben in den Lagern war grausam und brutal, Morden an der Tagesordnung, und doch - ich zitiere aus dem Werk Die nationalsozialistischen Konzentrationslager (14) - kam es dort „noch nicht zu den grauenhaften Lebensbedingungen der Kriegszeit ....... Konzentrationslager waren Orte des Mordes an einzelnen, vor allem prominenten Häftlingen, aber noch nicht die Stätten des Massenmordes wie nach 1939."
Der organisierte Holocaust, der Versuch der „Endlösung", der physischen Ausrottung aller Juden, setzte so richtig ein, als man immer mehr Juden ins sogenannte Generalgouvernement - die von Deutschen besetzten Teile Polens - deportierte und in Ghettos verbrachte. Widersprüchliche Verhaltensweisen waren die Folge. Im Ghetto Lodz zum Beispiel versuchte der von den Nationalsozialisten eingesetzte jüdische Rat die Deportation von Insassen dadurch möglichst gering zu halten, dass er sie für die Wehrmacht arbeiten liess. Jüdische Aufseher wurden eingesetzt, um die Arbeiter zu kontrollieren und anzutreiben.
Exodus 5,13-14:
„Und die Antreiber drängten sie und sagten: Vollendet eure Arbeiten, die Tagesleistung wie früher, als (noch) Häcksel da war! Dazu wurden die Aufseher der Söhne Israel, die die Antreiber des Pharao über sie gesetzt hatten, geschlagen, indem man sagte: Warum habt ihr weder gestern noch heute euer Mass an Ziegeln erfüllt wie bisher?"
Den Nationalsozialisten war die Durchsetzung ihrer Rassenideologie letztlich wichtiger als der Verlauf des Krieges. So erinnert sich der Auschwitz-Überlebende Bernhard Morgenstern, dass, als die sowjetischen Truppen bereits kurz vor Auschwitz standen, die Mordaktionen weitergingen(15). Aus dem Ghetto Lodz führte der Weg der Insassen schliesslich ins Vernichtungslager Treblinka.
Und hier liegt die historische Einzigartigkeit des nationalsozialistischen Völkermordes: man hatte Vernichtungslager gebaut, Lager mit dem Zweck, massenhaft zu töten. Zuerst wurde Belzec errichtet, dann Treblinka, Sobibor, Majdanek. Zur Metonymie des Holocaust wurde aber der Name eines Lagers, das zum grössten aller Vernichtungslager erweitert wurde: Ausschwitz II - Birkenau. Es steht für das Ärgste, das Böseste, was Menschen einander antun können. Hier ermordete man zuerst Juden aus Schlesien, es folgten Transportzüge aus dem Generalgouvernement, aus dem sogenannten Protektorat Böhmen und Mähren, aus Österreich, aus allen von der Wehrmacht besetzten Gebieten, zuletzt 1944 aus Ungarn. Zwischen 1,1 und 1,5 Millionen Juden wurden allein in Auschwitz-Birkenau ermordet.
Zählt man alle NS-Judenmorde zusammen, auch die aus den anderen Vernichtungs- und Konzentrationslagern und die der Einsatztruppen, so kommt man auf eine Gesamtzahl von rund sechs Millionen Juden.
Rabbi Manoah ben Jakob aus Narbona (16) schreibt:
„So wie das Leid vom ägyptischen Exil Ursache ihrer Erlösung, Empfang der Thora und Einzug in das Land Israel war, genauso - können wir sagen - ist alles Leid zur Zeit des Nationalsozialismus Ursache für das jüdische Volk, eine immerwährende Erlösung und den Aufbau eines neuen Lebens zu erlangen."
Es soll auch erwähnt werden, dass alle vorgeblichen Freunde der Juden sie im kritischen Zeitpunkt im Stich gelassen haben. Wie Jirmijahu der Prophet schon in Eicha/Klagelieder 1,2. klagte: „Sie (d.i. Jerusalem) weint und weint des Nachts, und ihr Tränen über ihre Wangen (laufen). Sie hat keinen Tröster unter allen, die sie liebten; alle ihre Freunde haben treulos an ihr gehandelt, sind ihr zu Feinden geworden" - die alliierten Mächte haben nichts unternommen, die Vernichtung der Juden zu verhindern oder auch nur zu bremsen.
Rabbi Bachja schrieb im Jahr 1280 unter dem Eindruck der Kreuzzüge:
„Schon die Versklavung in Ägypten war ein Omen für dieses unser letztes Exil. Wenn die Erlösung naht, werden die Katastrophen immer mehr und immer grösser. Das aber ist ein Zeichen der baldigen Erlösung."
Es soll auch nicht unerwähnt bleiben, dass ein führender Zionist der Jewish Agency Executive Offices in der Schweiz, sagte: „rak b´dam tihje lanu haarez" - „Nur durch das Blut des Holocaust werden wir einen Staat Israel erreichen" (17)
Schliessen möchte ich mit den furchtbaren Worten des grossen Rosch Jeschiva von Branovich (Litauen) Rabbi Elchanan Wassermann Hj"D in seiner berühmten „Kiddusch Haschem"-Rede, welche er vor der Erschiessung seiner ganzen Gemeinde gehalten hat: „Das Feuer, welches unseren Körper verbrennt, ist dasselbe Feuer, welches das jüdische Volk wieder aufrichten wird." (18), (19)
Anmerkungen
1. Maimonides Chametz Umazza 6,7; Ritbah Pesachim (Rabbi Jom tov ben Ashbeli, um 1250-1330, Spanien) 116.2; Abudrahm (Rabbi David ben Jossef, 1. Hälfte des 14. Jh., Spanien)
2. Jan Assmann: Exodus. Die Revolution der Alten Welt, München 2015, S. 124
3. Eveline Brugger u.a.: Geschichte der Juden in Österreich, Wien 2006, S. 394ff., S. 455
4. Saul Friedländer: Die Jahre der Vernichtung. Das Dritte Reich und die Juden, 2. Band: 1939-1945, München 2006, S. 42
5. a.a.O., S. 45
6. a.a.O., S. 42f
7. Raul Hilberg: Die Vernichtung der europäischen Juden, Bd. 3, Frankfurt/M., 1990, S. 1077
8. Wolfgang Benz u.a.(Hrsg.): Enzyklopädie des Nationalsozialismus, 4. Aufl., München 2001, S. 53
9. Götz Aly: Endlösung. Völkerverschiebung und der Mord an den europäischen Juden, Frankfurt/M., 1998, S. 299
10. Benz, a.a.O., S. 440
11. Aly, a.a.O., S. 305
12. Ulrich Herbert u.a. (Hrsg.): Die nationalsozialistischen Konzentrationslager, Bd. 1, Frankfurt/M., 2002, S. 45
13. Herbert, a.a.O., S. 56
14. Herbert, a.a.O.
15. Persönliches Gespräch des Autors mit Bernhard Morgenstern am 27.10.2015 in Wien
16. In seinem Kommentar (Spanien, um 1280) zu Maimonides Chametz Umazza 6.7
17. Zitiert in dem Buch „Min Hametzar" von Rabbi Michael Bär Weismandel, New York 1960, S. 92
18. Rabbi Elchanan Wassermann Hj"D: Kowetz Hearoth, Vorwort, 11 Tamuz 5701-1941
19. Die Interpretation des Holocaust durch Rabbi Avigdor Miller „Our misconduct towards Torah brings devastation upon the Jewish Nation" in seinem Buch A divine madness. Defense of Hashem in the Matter of the Holocaust (2. Aufl., 2013, Monsey,N.Y., S. 9) ist kaum nachvollziehbar.
Zum Autor
Efraim Knoepfler wurde 1948 in Soltvadkert (Ungarn) geboren und wurde dort in seiner Kindheit zum Wassertragen, Gänsestopfen und Ziegenmelken herangezogen. 1958 übersiedelte die Familie nach Budapest, ab 1960 studierte er an verschiedenen Jeschivot in Antwerpen, Jerusalem und Benei-Berak. 1971 heiratete er in Wien, wo er seither in der chassidischen Gemeinde lebt; tätig als Schriftsteller, zuletzt mit einem Artikel über „Spielen und kindliche Entwicklung, dem Talmud gemäss". Kontakt: knoepflerefraim@gmail.com
Der Autor dankt Herrn Dr. Kurt Strnadt für seine Beratung in zeitgeschichtlichen Fragen.