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Sefardische Juden – eine kleine, fast geheimnisvolle Gruppe innerhalb der Juden in Österreich: Sind es nun die Georgier, die grusinischen Juden, die sich im Ritus von den aschkenasischen Juden unterscheiden? Sind es die bucharischen Juden aus Tadschikistan oder Usbekistan? Oder die kaukasischen Juden aus Aserbaidschan und Dagestan? Orientalisch gewiss, jedenfalls nicht aschkenasisch, aber sie sprechen kein Judenspanisch, Ladino, die Sprache der Sefarden aus dem einst maurischen Spanien – jene Sprache, die für Elias Canetti noch der besondere Stolz der Sefarden im bulgarischen Rustschuk (heute Russe) an der Donau, der Stadt seiner Kindheit, war, die er in seinem Buch Die gerettete Zunge eindrücklich und liebevoll schildert. Auch in Topsy Küppers´ so frivol-geistvollem Buch Die Brüder Saphir (Wien 2020) sprechen südamerikanische Juden Ladino.
Der Grossteil der Wiener Sefarden sind Zuwanderer der jüngsten Zeit aus den östlichen Ländern der ehemaligen Sowjetunion; sie haben eigene Tempel, eigene Rabbiner und ein „Sefardisches Zentrum“. Die theologischen Inhalte, den Ritus und auch die besondere Geschichte der Wiener Sefarden – samt ihren wundervollen Legenden – zu beschreiben, sind andere berufen: Hier soll es um die historische Gruppe der sefardischen Juden – um die Spaniolen, wie Elias Canetti sie nennt – gehen, um ihr Leben im Osmanischen Reich, ihre Wurzeln in Spanien (dem Land ihrer Sprache, Ladino, dieser ursprünglich religiösen Zwecken dienenden, aber bald allgemein gebrauchten Alltagssprache); bis hin zu ihrem grausamen Ende im Zweiten Weltkrieg.
Wie kamen die Spanisch sprechenden Juden nach ganz Europa?
Die Geschichte der sefardischen Juden in Europa ausserhalb der Iberischen Halbinsel begann mit Pogromen in der letzten Phase der Reconquista und gipfelte in Vertreibungen nach dem Sieg Ferdinands II. und Isabellas I. („Los Reyes Catolicos“) über die Mauren, Ende des 15. Jahrhunderts. Die Eroberung der Iberischen Halbinsel durch die nordafrikanischen Mauren hatte im 8. Jahrhundert begonnen. Widerstand der unter westgotischer Herrschaft stehenden christlichen Bevölkerung wurde bald gebrochen, und so konnten sich die muslimischen Mauren die Herrschaft über den Süden sichern. Wenngleich auch die arabisch-maurische Herrschaft mit einer Abfolge von Dynastien und internen Konflikten zu kämpfen hatte, entwickelte sich in al-Andalus eine hochstehende Kultur. Die antike Philosophie wurde tradiert – sie wäre für immer verloren ohne die Übersetzung ins Arabische durch die Mauren; Mathematik, Astronomie, Medizin und Physik wie auch die Künste der Literatur und Architektur erlebten eine Blüte, gegen die das mittelalterliche christliche Europa weit abfiel. Das Judentum leistete hierzu einen nicht unbeträchtlichen Beitrag – man denke nur an den Philosophen, Arzt und Rechtsgelehrten Moses Maimonides (1135/38 – 1204). Im Wirtschaftsleben waren Juden als Geschäftsleute und Handwerker wichtig und geachtet, auch im Finanzsektor waren sie tätig, und für ein geordnetes Steuer- und Staatswesen unverzichtbar. Dem fortschrittlichen Denken entsprach – zumindest in den guten Zeiten, in den ersten beiden Jahrhunderten ihrer Herrschaft – die religiöse Offenheit und Toleranz der arabisch-maurischen Eliten, eine Geisteshaltung, die dem dogmatischen Christentum fremd geblieben war. Juden hatten sich schon in der Antike und insbesondere nach der Zerstörung des Tempels in Jerusalem durch die Römer 70 n. Chr. im Süden der Iberischen Halbinsel niedergelassen. Im Laufe des Mittelalters vertrieben Pogrome im übrigen Europa Juden auch bis auf die Iberische Halbinsel. Es verwundert jedenfalls nicht, dass die jüdische Bevölkerung den muslimischen Herrschern freundlich gegenüberstand. Die fruchtbare Zusammenarbeit der Religionen blieb allerdings nicht ungetrübt: bereits ab Ende des 7. Jahrhunderts versuchten christlicher Klerus und westgotische Herrscher immer massiver, über das Werkzeug der Konzilien von Toledo den Einfluss des Judentums zu brechen; entsprechende Konzilsbeschlüsse ordneten Zwangstaufen oder Ausweisungen an. Spätestens mit dem Niedergang der maurischen Herrschaft und Kultur etwa einhundert Jahre vor der Rückeroberung Granadas als Abschluss der Reconquista setzte eine aggressive Judenfeindlichkeit ein. Das Pogrom von Sevilla 1391 kann man als Anfang vom Ende bezeichnen.
Die Ehe Ferdinands von Aragon mit Isabella von Kastilien führte 1479 zu einem Zusammenschluss ihrer beider Königreiche und somit zu einem beträchtlichen Machtzuwachs des nördlichen, christlichen Spanien. Innere Kämpfe hatten die arabische Herrschaft empfindlich geschwächt; Malaga und Almeria waren schon länger verloren, und so übergab der letzte Herrscher Muhammad XII. (1459 Granada – 1518/33/36 Fès) aus der Dynastie der Nasriden – genannt Boabdil (der tragische „Mohrenkönig“ in Heinrich Heines Gedicht Der Mohrenkönig und „Emir von Granada“ in Salman Rushdies Des Mauren letzter Seufzer) – im Jahr 1492 kampflos seine letzte Bastion Granada an die Spanier. Die maurische Herrschaft war damit beendet – und „Los Reyes Catolicos“ Ferdinand und Isabella lebten den Triumph aus. Nicht ihren einzigen, denn die Entdeckung Amerikas und eine geschickte Heiratspolitik legten den Grundstein zum Weltreich, in dem „die Sonne niemals unterging“ unter der Herrschaft des Habsburgers Karls V. (Sohn ihrer Tochter Johanna, der „Wahnsinnigen“ und Kaiser des Heiligen Römischen Reiches). Am 31.7. 1492 erliessen Ferdinand und Isabella das Alhambra-Edikt – eine weitere Grausamkeit neben der Ausrottung der indigenen Bevölkerung Amerikas, die sie mit zu verantworten haben. Damit begann die Leidenszeit der spanischen Juden: Übertritt zum Christentum oder Auswanderung, so lautete die Anordnung des Edikts, welches übrigens auch die bis dahin noch verbliebenen Muslime betraf.
Ein nicht allzu kleiner Teil stimmte unter diesem Druck einer Taufe zwangsweise zu. Aber damit nicht genug: Der Verdacht, die Conversos, oder, verächtlich: Marranos (span./portug. „Schweine“), seien Kryptojuden und würden die jüdische Religion weiterhin ausüben, genügte, um wegen Häresie der Inquisition vorgeführt und mit dem Tod auf dem Scheiterhaufen bestraft zu werden. Denunziation und Spitzeltum blühten. Die Zwangstaufe stellte sich letztlich als wertlos heraus, denn sie konnte den Makel der Herkunft nicht ver-
decken. Um über jeden Verdacht erhaben zu sein, musste jeder, der sich um ein öffentliches Amt bewarb, nachweisen, dass seine Vorfahren bis ins zweite Glied bereits Christen gewesen waren. Die spanische Theorie des „reinen Blutes“ (limpieza de sangre) knüpfte nicht ausschliesslich an die Religion an, sondern auch – in Verbindung mit der Lehre von der Erbsünde – an die Abstammung. Die Assoziation mit den Nürnberger Gesetzen liegt nahe! Auf zynische Weise schützte die Vertreibung von der Iberischen Halbinsel zunächst vor der Inquisition, welche nur über Getaufte urteilen konnte.
Damit war wohl das Ende des Judentums auf der Iberischen Halbinsel besiegelt. Der Verlust für Kultur, Wirtschaft und Administration war beträchtlich. Es fehlten auf einen Schlag Ärzte, Gelehrte, Sprachkundige, Handwerker, kurz, wesentliche Teile der gebildeten und qualifizierten Mittelschicht. Wie viele Menschen vertrieben wurden, lässt sich schwer abschätzen, es könnten bis zu 300.000 Personen gewesen sein – ein Potenzial, aus dem in der Folge andere Herrscher schöpfen konnten. Ein kleiner Teil fand Aufnahme in Portugal, allerdings nur für kurz Zeit, bis diese Flüchtlinge 1488 von einem ähnlichen Edikt wie in Spanien eingeholt wurden. Nordafrika und Ägypten, auch Venedig und Florenz, sogar der Kirchenstaat mit Rom und Livorno nahmen einige Gruppen auf. Amsterdam, Antwerpen und Hamburg waren im Norden weitere Ziele. Die Flucht war für viele Juden traumatisch – wie wohl jede Flucht: Die meisten verloren nicht nur Hab und Gut, gesellschaftlichen Status und wirtschaftliche Basis, sondern mussten sich als Neuankömmlinge auf der untersten sozialen Stufe neu orientieren und von vorne anfangen; nur ein kleiner Teil konnte Vermögen transferieren oder seine alten Handelsverbindungen weiterführen. Der Bildungsgrad und die beruflichen Qualifikationen erleichterten die Integration, doch ohne Unterstützung der bereits ansässigen jüdischen Gemeinden wäre der Erfolg auch auf lange Sicht nicht eingetreten. Ein grosser Teil konnte sich allerdings im Osmanischen Reich niederlassen und war hier auch willkommen.
Die Sehnsucht der vertriebenen Juden war wohl Jerusalem, doch Saloniki, auf halbem Weg gelegen, erwies sich als attraktiverer Platz zur Niederlassung: Es war einerseits Tor nach Europa, anderseits ein guter Ausgangspunkt für die wirtschaftlichen und kulturellen Verbindungen zur Levante, die mit Palästina seit 1516 zum Osmanischen Reich gehörte. Die osmanischen Herrscher wussten die Qualitäten der zugewanderten Juden zu nutzen: Moses Hamon (1490 – 1567), ein Sohn des aus Granada geflohenen Josef Hamon, wurde vom Sultan Süleyman I. (dem Prächtigen, 1494/96 – 1566) zum Leibarzt berufen. Indirekt ist Moses Hamon übrigens ein kostbarer Besitz der Österreichischen Nationalbibliothek zu verdanken: 1569 erwarb die Wiener Hofbibliothek von dessen Sohn den Wiener Dioskurides, eine pharmakologische Handschrift in griechischer Sprache mit zahlreichen botanischen Bildern aus dem sechsten Jahrhundert, die heute zum Weltdokumentenerbe zählt. Auch die von den Juden mitgebrachten, hohen handwerklichen Qualifikationen waren ein Gewinn für das Osmanische Reich: Eisengiesser und Schiesspulverhersteller fanden schnell führende Positionen in der Rüstungsproduktion, wie auch die militärischen Erfolge der türkischen Armee – der Sieg über die Mamluken und die Perser zu Beginn des 16. Jahrhunderts – zu einem nicht geringen Teil auf das mitgebrachte Fachwissen der Exilanten, so etwa über Feuerwaffen, zurückzuführen sein dürfte.
Die jüdischen Gemeinden profitierten vom Millet-System eines multikonfessionellen Gemeinwesens des Osmanischen Reiches. Nach dem Prinzip der Dezentralisierung kamen den Kommunen relativ viele, und wichtige, Kompetenzen der Verwaltung zu. Dies begünstigte den Status der Minderheiten, da Bildung, Kultur, Religion sowie Teile des Rechtswesens autonom organisiert werden konnten. Der Preis dafür war eine nicht unbeträchtliche Steuerlast zur Finanzierung des Staates und insbesondere seiner Eroberungskriege. Auf Basis der Autonomie konnten enge Verbindungen der jüdischen Gemeinden untereinander geknüpft werden, mit regen Wirtschafts- und Handelsbeziehungen im gesamten Osmanischen Reich. Die gemeinsame Sprache war deren Kommunikation sehr hilfreich: Judenspanisch wurde zeitweise sogar zur Handelssprache im östlichen Mittemeer. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts konnte sich diese Sprache erhalten; sie wurde erst durch die Ausweitung der internationalen Beziehungen und durch die Folgen der Industrialisierung verdrängt.
Thessaloniki – Saloniki – Selanik – Solun – Salonika
Saloniki, Kreuzungspunkt, „Jerusalem des Ostens“, war mit seiner wechselvollen Geschichte geradezu prädestiniert, Menschen anderer Sprachen, Kulturen und Religionen aufzunehmen: in der Antike griechisch, 315 v. Chr. von den Makedoniern erobert, 146 v. Chr. von den Römern zur Hauptstadt der Provinz Macedonia des Reiches erklärt, ein zentraler Punkt auf dem wichtigen Handelsweg von Rom nach Byzanz, war es zeitweise für die römischen Konsuln, auf der Flucht vor Caesar, sogar Sitz des römischen Senats. 50 n. Chr. gründete der Apostel Paulus hier die zweite Christengemeinde auf europäischem Boden. 395 n. Chr. kam die Stadt bei der Reichsteilung zum Oströmischen Reich und wurde nach Konstantinopel das zweite Zentrum des Byzantinischen Reiches. Während einer langen Friedensperiode war Saloniki im 9. Jahrhundert Ausgangspunkt der Slawenmission durch die Brüder Cyrill und Method. In der byzantinischen Zeit konnte es durch Jahrhunderte seine Vormachtstellung als intellektuelles Zentrum ausbauen; die christliche Theologie, die Medizin und die humanistischen Wissenschaften gelangten zu einer Hochblüte, wenngleich sich die Stadt in ihrer wechselvollen Geschichte dem Einfluss der sizilianischen Normannen, der Kreuzritter, der Venezianer, der Genuesen und des Grossbulgarischen Reichs unterwerfen musste. Das Jahr 1430 erwies sich als schicksalshaft und bestimmte die Geschicke der griechischen Stadt durch Jahrhunderte: Sultan Murad II. (1404 – 1451) belagerte die Stadt, und schliesslich wurde sie Teil des Osmanischen Reichs. Aus Thessaloniki wurde Selânik. Dennoch behielt die Stadt ihre Bedeutung als multiethnisches wirtschaftliches und geistiges Zentrum für den gesamten Balkan bis zum griechischen Freiheitskampf im 19. Jahrhundert bei; der Ausbau des Hafens und die Hochblüte des Buchdruckes zeugen davon.
Neben Salonika, wie die Juden ihre Gemeinde selbst nannten, bildeten sich lebendige jüdische Gemeinden mit bedeutenden Rabbinern und Synagogen auch in Konstantinopel, in Edirne und in Smyrna. Juden wanderten zudem in nahezu alle sonstigen Zentren des Osmanischen Reiches, wie nach Bulgarien bis zur Donau, nach Bosnien am Balkan oder nach Griechenland weiter und bildeten ein Netzwerk für regen Handelsaustausch. In Sarajewo, der osmanischen Neugründung des 15. Jahrhunderts, siedelten sie sich im 16. Jahrhundert an und entwickelten die Stadt zu einem bedeutenden wirtschaftlichen und religiösen Zentrum. Eine ähnliche Entwicklung nahm die jüdische Gemeinde in Belgrad.
Eine kuriose Geschichte verhinderte fast die Teilhabe der sefardischen Gemeinde Salonika am geistigen Fortschritt des europäischen Judentums: Ende des 17. Jahrhunderts trat ein gewisser Schabbtai Zvi (1626 Smyrna – 1676 Ülgün) auf und zog als selbsternannter Messias nicht nur Juden, sondern auch Muslime in seinen Bann. Mystik und Kabbala waren die Grundlagen seiner Lehre. Er entzog sich der Todesstrafe durch Konversion zum Islam, einige hundert Familien, die Dönme oder Ma´min, folgten ihm – der Grund, weshalb es noch Anfang des 20. Jahrhunderts in Saloniki judenspanisch sprechende Muslime gab. Die osmanische Herrschaft war die grosse Zeit Salonikis, das zur bedeutendsten Hafenstadt des Reiches und Eingangstor zum Balkan und zu Europa wurde. Wenngleich unter ständiger Bedrohung der Venezianer – im 18. Jahrhundert zweimal von deren Flotte belagert – blieb es eine prosperierende und wohlhabende Stadt, nicht zuletzt durch die Handelsbeziehungen und das hohe intellektuelle und handwerkliche Niveau der Juden. Saloniki war für zwei Jahrhunderte der Ort mit dem weltweit höchsten jüdischen Anteil an der Gesamtbevölkerung. Im 19. Jahrhundert änderte sich die Welt: Die Zahl der Stadtbewohner wuchs von 50.000 auf 120.000, Industrialisierung und Bautätigkeit schritten voran, die byzantinischen Stadtmauern wurden niedergerissen, Saloniki an das europäische Eisenbahnnetz angeschlossen.
Zur gleichen Zeit tobten die nationalen Freiheitskämpfe; 1821 begann auf der Halbinsel Mani die griechische Unabhängigkeitsbewegung gegen das Osmanische Reich, der Süden wurde 1830 zum Unabhängigen Griechenland. Die Freiheitsbewegung im Norden wurde niedergeschlagen, Saloniki und Makedonien blieben – vorerst – beim Osmanischen Reich. Die nationalen Bewegungen gingen mit einer grundlegenden Änderung des sozialen Gefüges einher: Das Edikt von Gülhane 1839 schuf die Grundlage für einen als Modernisierung gemeinten, neuen staatlichen Zentralismus und übertrug damit die Kultur- und Sprachenpolitik von den autonomen ethnischen und religiösen Gemeinschaften auf staatliche Organisationen; dies gefährdete die traditionelle jüdisch-sefardische Sprache und auch die bisherige religiöse Lebensweise. Einer Reihe von Gebieten gelang die Loslösung vom Osmanischen Reich, es bildeten sich eigene Nationalstaaten: Serbien 1867, Rumänien, Bulgarien sowie Bosnien 1878. Die Sefarden lebten nicht mehr eigenständig in einem grossen Reich, sondern mussten sich in die nicht immer liberale Kultur-, Bildungs- und Minderheitenpolitik der neuen Staaten eingliedern. Das langsame Ende des Sefardentums war vorauszusehen. In Saloniki wurde 1881 Kemal Atatürk, der Gründer der modernen Türkei geboren. 1908 begann von hier aus die Jungtürkische Revolution und damit der endgültige Übergang des schon lange geschwächten Osmanischen Reichs in die moderne Türkei. Die Balkankriege führten auch zum Ende der osmanischen Herrschaft über Saloniki: 1912, im Ersten Balkankrieg, erklärten ihr Montenegro, Serbien, Bulgarien und Griechenland den Krieg; kampflos übergab der osmanische Kommandeur die Stadt den Griechen. Der Zweite Balkankrieg richtete sich gegen Bulgarien, welches das Gebiet um Saloniki ebenfalls beanspruchte. Dieser Krieg endete mit einer Niederlage der Bulgaren; auch das Umland Salonikis, Makedonien, ging somit an Griechenland und die bulgarische Bevölkerung wurde vertrieben. Der Türkisch – Griechische Krieg (1919 – 1922) endete mit einer Niederlage Griechenlands und der rigorosen Vertreibung der griechischen Bevölkerung aus Kleinasien.
Eingang zum Jüdischen Museum in Thessaloniki/Saloniki Jewish Museum. Foto: Arie Darzi. Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Saloniki_Jewish_Museum_a.jpg, 24.02.2021
Jewish Museum Thessaloniki, Liste der Holocaust-Opfer. Foto: Christian Michelides, 2016. Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Liste_der_Ermordeten_Juden_Thessaloniki.JPG?uselang=de, 24.02.2021
Schwere Schläge gegen Salonikas jüdische Bevölkerung waren zwei grosse Feuerkatastrophen, im September 1890 sowie im August 1917. Letztere legte hauptsächlich das jüdische Viertel in Schutt und Asche; die meisten Menschen verloren ihr Dach über dem Kopf. Grund genug, um die Stadt nach der Zerstörung nicht nur wiederaufzubauen, sondern ihr auch ein neues gesellschaftliches und wirtschaftliches Gesicht zu geben: Die osmanischen Strukturen hatten einer modernen, westlichen – griechischen – Stadtplanung zu weichen. Das jüdische Viertel wurde zum allgemeinen administrativen und geschäftlichen Zentrum; die jüdische Bevölkerung verteilte sich nunmehr über die ganze Stadt, es gab keine geschlossenen sefardischen Wohnviertel mehr. Überlagert wurde dieser tiefe Einschnitt in jahrhundertealte Wohnformen durch den türkisch-griechischen Konflikt: Tausende Osmanen wurden vertrieben, um ebenso vielen von Atatürk aus Kleinasien vertriebenen Griechen Platz zu machen. Innerhalb kürzester Zeit veränderte die Stadt ihr Antlitz von einer traditionellen jüdisch-osmanischen in eine moderne griechische Stadt. Dass Moscheen zu Kirchen wurden, ist bloss äusseres Symptom, aber signifikant für den tiefen Wandel. Die jahrhundertealte Tradition der Multiethnizität Salonikis war jetzt in ihren Grundfesten erschüttert und steuerte auf ihr gewaltsames Ende im Zweiten Weltkrieg hin.
Vor dem Zweiten Weltkrieg lebte mit 56.000 Juden und vierzig Synagogen in Salonika die grösste sefardische Gemeinde Europas; ihre Sprache war noch immer das Judenspanische, oder Ladino. Im April 1941 marschierten deutsche Truppen in Griechenland ein; das Land wurde dreigeteilt. Bulgarien annektierte Ost-Mazedonien und Thrakien; Italien erhielt von Hitlers Gnaden den grössten Teil Griechenlands – Thessalien, Zentralgriechenland und die Peloponnes; die Regionen um Saloniki und um Athen-Piräus hingegen wurden unter deutsche Militärverwaltung gestellt. Die Situation in Saloniki, durch die Weltwirtschaftskrise und den Zustrom an Flüchtlingen ohnehin schon schwer getroffen, wurde unerträglich – die Versorgung der Bevölkerung brach zusammen. Hunger forderte Menschenleben. Im Mai 1941 traf das „Sonderkommando Rosenberg“ des Armeeoberkommandos 12 der Deutschen Wehrmacht mit weitgehenden Vollmachten Himmlers und Eichmanns zur Deportation der gesamten jüdischen Bevölkerung ein. Die Leitung hatten später Alois Brunner und Dieter Wisliceny inne – die Namen stehen für grausamste Taten des NS– Regimes.
Es gibt zu denken – und mehr als das –, dass Kurt Waldheim, obwohl er nicht der Sonderkommission angehörte, zur Zeit der Massaker und Deportationen in Mazedonien unter dem später hingerichteten Alexander Löhr als Offizier mit Stabsfunktion im Armeekommando 12 der Wehrmacht anwesend war und somit die Aktivitäten seiner Heeresgruppe kennen musste – zumal er in die Berichterstattung miteinbezogen war. Das Wüten der Sonderkommission der Wehrmacht war schnell und gründlich: Von März bis August 1943 wurden fast 44.000 Juden aus Salonika und noch weitere tausende aus der Region mit neunzehn Zugtransporten in das KZ Auschwitz deportiert. Fünfzig Razzien wurden durchgeführt. Kultusgemeinde und örtliche Verwaltung wurden unter Druck gesetzt und (zwecks einfacherer Vollziehung der „Massnahmen“) dazu gezwungen, alle Einwohnerdaten über Juden und jüdische Besitzungen herauszugeben. An einem Schabbat, dem 11. Juli 1942, wurden alle männlichen arbeitsfähigen Juden auf dem Freiheitsplatz zusammengetrieben und zur Schwerarbeit in Bergwerke und Sümpfe abtransportiert. Für die übrige jüdische Bevölkerung wurden Sammellager eingerichtet. Sie wurden im ehemaligen Baron-Hirsch-Viertel und zwei weiteren, zu Ghettos umfunktionierten Stadtvierteln zusammengepfercht, nachdem dessen ursprüngliche jüdische Bewohner – groteskerweise aschkenasische Pogrom-Flüchtlinge aus dem zaristischen Russland – bereits deportiert waren. Das Baron– Hirsch– Ghetto lag nahe dem Bahnhof, wo die Züge schon bereitstanden. Deutsche Soldaten, Verarmte oder Kriminelle versuchten zunächst, sich durch Plünderungen zu bereichern. Der Besatzungsmacht gelang es bald, eine Bürokratie nach dem Muster der deutschen Arisierungen einzurichten. Alle Juden hatten eine Vermögenserklärung abzugeben – um den Entzug aller ihrer Habseligkeiten zu vereinfachen. Liegenschaften wurden besetzt, Vermögen, Geschäfte und Gegenstände, teils gewaltsam, beschlagnahmt und enteignet. Es sollen zwölf Tonnen Gold erbeutet worden sein.
Fast bizarr mutet eine der ersten Raubtaten der Sonderkommission an: Alfred Rosenberg war im Begriff, als Chefideologe Hitlers in Frankfurt am Main ein Studienzentrum zur Erforschung des Weltjudentums einzurichten. Sefardische Quellen und Dokumente waren von besonderem Interesse, weil die deutschen „wissenschaftlichen Hebräisten“ nur das aschkenasische Judentum kannten und das sefardische noch zu erforschen war. Bibliotheken und Archive wurden ausgeraubt und in ganzen Ladungen abtransportiert. Diese Aktion hat hohen symbolischen Wert, denn der Verlust von historisch bedeutsamen Zeugnissen einer Gemeinde kommt einer Vernichtung ihrer Wurzeln und Lebensadern gleich. Dies wurde auch so empfunden – zu Recht, denn heute deutet fast nichts mehr auf die einst so lebendige jüdische Gemeinschaft in Salonika hin. Nicht weniger schmerzhaft war für die jüdische Gemeinde der Verlust ihres Friedhofs: Als einer der bedeutendsten und grössten jüdischen Friedhöfe Europas, weit grösser als der Prager Friedhof, wurde er mit seinen hunderttausenden Gräbern fast über Nacht dem Erdboden gleich gemacht; als Rechtfertigung für die Zerstörung wurde der Bedarf an öffentlichem Grund und Boden für die Stadt vorgegeben. Grabsteine wurden in Strassen, in Schwimmbecken und in marmorne Ballsäle eingebaut; noch immer kommen in so manchem Gebäude Grabinschriften zu Tage. Nichts deutet mehr auf einen Friedhof hin: heute befindet sich hier die Universität.
Saloniki 1905: die rote Linie zeigt die Enge der Stadtmauern vor der Modernisierung der Stadt nach dem Feuer 1917. Quelle: Wikimedia Commons, gemeinfrei.
Die Endlösung wurde mit voller Wucht und Grausamkeit vorangetrieben. Ein Zug nach dem anderen ging nach Polen, „zur Arbeit in einem Bergwerk“, wie den Juden weisgemacht wurde. Wisliceny und Brunner gingen so weit, die Autorität des Oberrabbiners unter Zwang zur administrativen Unterstützung und Erleichterung der Deportationen zu nutzen. An Flucht war nicht zu denken. Christliche Helfer hatten schwere Strafen zu fürchten, und so mancher lieferte Juden gegen Ergreiferprämien aus, was nicht heisst, dass es nicht auch Mutige gegeben hat, die Juden retteten, versorgten und versteckten. Die Verfolgung ausserhalb der Ghettos war so dramatisch, dass der Verbleib noch besser schien als eine Flucht. Man konnte oder wollte nicht an Tötung glauben. Die deutschen Peiniger drohten zudem, im Fall einer Flucht Familienangehörige als Geiseln zu nehmen. Nur knapp fünf Prozent der Juden Salonikas entgingen der Deportation; 95 Prozent wurden in den Todeslagern ermordet oder zu Tode gequält. Bis auf einige wenige Versteckte oder im christlichen Familienverband Untergetauchte verblieb kein Jude mehr in Salonika. Die Ära der sefardischen Juden war zu Ende.
Im Gegensatz dazu war die Situation von 15.000 Juden unter der italienischen Besatzung in den Gebieten um Athen, um Ioannina und auf einigen Inseln etwas besser; sie waren nicht unmittelbar mit dem Tod bedroht, und auch die örtliche Bevölkerung einschliesslich der orthodoxen Kirche stellte sich auf ihre Seite. Erst nachdem Italien zu den Alliierten übergetreten war und die deutschen Truppen in diese Gebiete einmarschierten, begannen die Deportationen. Etwa die Hälfte der Juden der italienisch besetzten Gebiete wurde in Auschwitz in den Gaskammern ermordet. Anders die Lage im von deutschen Truppen besetzen West-Thrakien und Ost-Mazedonien. Bulgarien hatte diese Gebiete als Preis für sein Bündnis mit Hitler-Deutschland zugeschlagen bekommen und versuchte, sie zu „bulgarisieren“. Die zum Grossteil griechischen und jugoslawischen Juden wurden interniert und (im Gegensatz zu den 60.000 Juden Alt-Bulgariens, die zum Grossteil gerettet werden konnten) nach Auschwitz und Treblinka deportiert; 12.000 von ihnen wurden ermordet.
„Erfassung von Juden zum Arbeitseinsatz, Juli 1942.“ Foto: Dick. Rechte: Bundesarchiv, Bild 101I-168-0894-21A / Dick / CC-BY-SA 3.0. Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Bundesarchiv_Bild_101I-168-0894-21A,_Griechenland,_Saloniki,_Erfassung_von_Juden.jpg, 24.02.2021.
Ein trauriges Kapitel ist auch der Umgang mit denen, die sich am Untergang der jüdischen Gemeinde Salonika schuldig und mitschuldig gemacht haben: Das Schicksal Adolf Eichmanns ist bekannt; über Dieter Wisliceny haben Gerichte der Tschechoslowakei – nicht Deutschlands – die Todesstrafe verhängt und vollstreckt. Der an den Deportationen beteiligte Jürgen Stroop wurde nach einem polnischen Gerichtsurteil hingerichtet. Alfred Slawik, Angehöriger eines Kommandos unter Dieter Wisliceny, kam mit fünf Jahren Haft durch die österreichische Justiz davon. Der für das Sonderkommando Rosenberg und somit für die Deportationen Verantwortliche, Alois Brunner, hat sich durch Flucht der Strafe entzogen. Zunächst lebte er unbehelligt unter falscher Identität in Deutschland. 1954 wurde er durch ein französisches Gericht in Abwesenheit zum Tode verurteilt. Inzwischen hatte er sich in Syrien niedergelassen und arbeitete vermutlich unter anderem für dessen Geheimdienst. Er starb nach der Jahrtausendwende.
Es bleibt die bittere Erkenntnis, dass es möglich war, Menschen zu Tausenden grausam zu demütigen, zu quälen und zu ermorden, aus keinen anderen Gründen als ihrer „Abstammung“, ihrer Religion oder, vielleicht, ihrem Bildungsgrad – und das unter den Augen einer europäischen Gesellschaft, die für sich in Anspruch nahm, die höchsten Werte der Kultur und Zivilisation geschaffen zu haben.
Quellen:
Mark Mazower: Salonica, City of Ghosts: Christians, Muslims and Jews 1430– 1950; London, New York, Toronto and Sydney, 2004.
Rena Molho, Vilma Chastaoglou, Jewish Sites in Thessaloniki: Brief History and Guide, Athen 2009.
Maria Botz-Mavromihalis s.A., Alexis Dimitriadis, Klaus und Soula
Kastner, Velizar Sadovski und Andreas Weiss, denen ich für Informationen und anregende Gespräche zu Dank verpflichtet bin.