404: Not Found
Robert Bouchal und Johannes Sachslehner:
Dunkles Wien. Orte des Schreckens und des Verbrechens
Wien und Graz: Styria Verlag 2020
192 Seiten, zahlreiche Abbildungen, gebunden, 27,00 Euro
ISBN 978-3-222-13653-5
Als Wiener kennt man die meisten Orte, die Robert Bouchal und Johannes Sachslehner besucht haben. Doch viele davon hat man, wenn überhaupt, dann nur flüchtig im Vorbeigehen wahrgenommen, ohne ihnen gross Aufmerksamkeit geschenkt zu haben. Und schon gar nicht kennt man sie aus diesen Perspektiven! Für ihre Recherche begaben sich die beiden Autoren teilweise in den Wiener Untergrund, um Keller und Verliese zu durchstöbern, und sie liessen sich oft lange Zeit verschlossene Türen öffnen, um hinter Wände und Fassaden zu blicken. Entstanden sind spannend zu lesende Miniaturen über Örtlichkeiten und mit diesen eng verbundenen Personen, die Einblicke in die dunklen Seiten Wiens eröffnen.
Das Autorenduo ergänzt sich wechselseitig sehr gut: Sachslehner ist Historiker und Germanist, Bouchal ist Fotograf und Experte für die Unterwelt Wiens. Seine Fotos bieten wertvolle Illustrationen von Orten, über die niemand spricht, oder dem Herzen des Terrors, wie einzelne Buchabschnitte bezeichnet sind. Nicht fehlen darf in „Dunkles Wien“ eine Spurensuche des vormals so reichhaltigen jüdischen Lebens, an das selbst das nationalsozialistische Unrechtsregime glücklicherweise nicht alle Erinnerungen auslöschen konnte. Dem ehemaligen jüdischen Friedhof Währing wird ebenso ein Kapitel gewidmet wie dem Hotel Métropole, in dem die Gestapo-Leitstelle untergebracht war. Auch der Spiegelgrund in Steinhof, wo Versuche an Kindern durchgeführt und hunderte Minderjährige ermordet wurden, findet die gebührende Berücksichtigung.
Wien weist nicht nur eine berühmt-berüchtigte morbide Seite auf, sondern auch an Lustbarkeiten herrschte in der Metropole selten Mangel. Doch dass das Haus Girardigasse 10 im 6. Bezirk in den Jahren 1934/35 tatsächlich als grosses Laufhaus geplant gewesen war, ist architektonisch heute auf den ersten Blick nicht mehr erkennbar. Die Errichtung des Freudenhauses war eine logische Folge des, vom stark katholisch ausgerichteten austrofaschistischen Regime, durchgesetzten Verbots der Strassenprostitution. Heute gibt es im Haus die – seriöse – „Puff“-Bar.
Apropos Girardi: Der beliebte Schauspieler und Operettensänger wäre von seiner Frau Helene Odilon, einer ebenfalls bekannten Schauspielerin, beinahe in die Privatheilanstalt für Gemüthskranke auf dem Erdberge, geleitet von Dr. Wilhelm Svetlin, eingewiesen worden. Girardi war zwar aufgrund seiner Eifersucht aufbrausend, zudem kokainsüchtig – doch Odilon war weniger an seiner Heilung interessiert als daran, ihren Ehemann loszuwerden. Der skandalträchtige Fall Girardi und die Svetlin’sche Privatheilanstalt werden anhand zeitgenössischer und moderner Fotos und Pläne informativ nacherzählt.
Die Autoren befassen sich jedoch nicht nur mit Berühmtheiten, sondern rücken auch die soziale Not und das Elend der kleinen Leute, namentlich von Frauen, in der Schlussphase der Monarchie und der Zwischenkriegszeit in den Fokus. Das Kapitel über die k. k. Weiberstrafanstalt in Wiener Neudorf vermittelt ein eindrucksvolles Bild der Schattenseiten des damaligen Strafvollzugs. Geführt wurde das Frauengefängnis bemerkenswerterweise von Nonnen, deren Aufgabe es nicht zuletzt war, die Häftlinge moralisch zu bessern – durch regelmässige Gebete, aber auch harte Arbeit. Als es ein Experte in den 1860er Jahren wagte, die strengen und unzeitgemässen Prinzipien des Strafvollzugs in der Anstalt anzuklagen, wurde er öffentlich an den Pranger gestellt. Da er jüdischen Glaubens war, bedienten sich seine Kritiker dabei antisemitischer Klischees. Ein Trakt des Gebäudekomplexes beherbergt heute kulturelle und wissenschaftliche Einrichtungen, ein anderer ein Wohnhaus. Teile der Anstaltskirche blieben erhalten, dienen aber nur noch als Lagerraum und harren der Renovierung.
Die Lektüre von „Dunkles Wien“ regt hoffentlich viele Wien-Besucherinnen und -Besucher sowie ganz besonders die Einheimischen dazu an, die beschriebenen Orte und Gebäude zu besuchen und sie mit einem neuen Blick zu betrachten. Schade nur, dass viele von diesen Stätten normalen Besucherinnen und Besuchern verschlossen bleiben. Dem Styria Verlag ist für die schöne Aufmachung des Buches und den qualitativ hochwertigen Druck zu danken, wodurch die gelungenen Fotos bestens in Szene gesetzt werden.
Alfred Gerst