Ausgabe

Ihr Schreiben blieb in Auschwitz Helga Pollak-Kinsky s.A. (28.5.1930 – 14.11.2020)

Kerstin Kellermann

Zum plötzlichen Tod von Helga Pollak-Kinsky, die als Mädchen Theresienstadt und Auschwitz überstand und vor kurzem noch die Ausstellung zum Cafe Palmhof ihres Vaters gestaltete
 

Inhalt

„Ich dank‘ Dir, mein Freund, für die Zeit“. Das Lied Mayn Fraynt von Roman Grinberg ist wirklich ein Ohrwurm. Seitdem Helga Pollak-Kinsky so plötzlich und überraschend aus dem Leben geschieden ist, geht mir das Lied im Kopf herum. Die Auschwitz-Überlebende blieb ihr Leben lang offen und den Menschen zugewandt, wobei sie durchaus kritisch sein konnte. Jeder bemerkte ihre Welterfahrenheit und Herzensbildung. Sie hatte es irgendwie – trotz Theresienstadt und Auschwitz – geschafft, sie selbst zu bleiben, ihren ganz eigenen Kern zu bewahren, obwohl ihr Schreiben in Auschwitz blieb. Vorher hatte sie auf Tschechisch Tagebuch geschrieben, danach ging es einfach nicht mehr. Nie wieder. Das KZ Auschwitz wurde zur Stätte des Sprachverlusts. Im Augustin-Interview 2015 antwortete sie auf die Frage: „Sie hatten also wirklich durchgehend Ihr Inneres?“ mit „Dass man sein Inneres hatte – trotz all der schrecklichen Sachen? Na sicher! Aber unsicher war ich durch das ganze Leben. Ich hatte nie ein richtiges Zuhause, keinen Ort gehabt.“ Sie umschrieb ihr lebensbestimmendes Gefühl mit „bange sein“, einem Gefühl, das schon weit vor dem Krieg anfing. „Was bedeutet denn bange sein?“ – „Bange sein bedeutet Sehnsucht, nicht Angst.“  

Fluchtlinien. Kunst und Trauma
Es ist eine grosse Trauer, denn auch wenn Helga Pollak-Kinsky schon neunzig war, dachten viele, sie werde noch einige Jahre leben – ähnlich ihrer Mutter, die über hundert wurde. „Ich habe erst durch die Buchautorin Hannelore Brenner von all diesen Ereignissen im Leben meiner Mutter erfahren“, sagt ihr Sohn, der Kinderarzt Eric Kinsky am Telefon. „Vorher ging es in unserer Familie mehr um die Lebensgeschichte des Vaters und seiner Abenteuer.“ Hannelore Brenner gelang es, gemeinsam mit Helga Pollak-Kinsky zwei Bücher zu den Mädchen vom Zimmer 28 in Theresienstadt herauszubringen.

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Helga Kinsky mit ihrem bekannten Buch, in dem sie die Haftbedingungen in Theresienstadt schildert. Foto: Harald Stockinger. Mit freundlicher Genehmigung: K. Kellermann.

Unvergessen bleiben die inneren Bilder: Helga Pollak-Kinsky, sich 2019 beim Lehmbau- und Keramik-Workshop in der Wiener Frauenwerkstatt Craftistas amüsierend, der ihr zu Ehren abgehalten wurde. Einige Generationen aus Familien von Shoah-Überlebenden waren dabei. 2010 in der Ausstellung Fluchtlinien. Kunst und Trauma die Polonaise bei einem Konzert von Vero La Reine: am Wasserwerk an der Johnstrasse tanzten AfroösterreicherInnen mit Holocaust-Überlebenden, hintereinander, die Hände auf den Schultern der Person vor ihnen, in Schlangenlinien an den Kunstwerken vorbei. Die Ausstellung zum Café Palmhof ihres Vaters, die Helga Pollak-Kinsky noch kurz vor ihrem Tode im Jüdischen Museum Wien realisierte. Das letzte lange Telefongespräch im Sommer, als sie meinte, dass sie sich nur noch mit Kopftuch trauen würde, ins Museumsquartier zu gehen, weil dort eine Künstlerin überlebensgrosse Fotos von ihr auf die Fassade der Kunsthalle hatte hängen lassen. Diese Bilder waren angelehnt an Valie Export und deren Erforschung des öffentlichen Raumes.   

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Helga Kinsky. Foto: Florian Fusco. Mit freundlicher Genehmigung: K. Kellermann.

Aktive Zeitzeugin
Helga Pollak-Kinsky war einfach sehr lebendig, lebenslustig und dem Leben zugewandt, erst die COVID-Pandemie und die Lockdowns machten sie etwas mürrisch und ungeduldig. Sie ertrug es nicht, dass die Gesellschaft zum Stillstand kam, jeder Umgang gefährlich wurde. Sie selbst bezeichnete sich als unmusikalisch und bemühte sich als Kind, aus dem Chor des Lagers Theresienstadt auszusteigen: 
„Es ist mir aber nicht gelungen. Ich sang Mezzosopran, konnte aber die Lage meist nicht halten und wanderte zum Sopran hinüber. Meine Freundin Flaschka aus dem Chor, die später Opernsängerin wurde, ist leider vor zwei Jahre gestorben. Wir waren wie Schwesterchen. Ihr Sohn wird die Oper Eugen Onegin dirigieren. Die Leiterin des Chors meinte immer, ich werde das Singen schon lernen.“ 

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Helga Kinsky mit Thomas Frankl und Paul Chaim Eisenberg in der Galerie Frankl. Foto: Harald Stockinger. Mit freundlicher Genehmigung: K. Kellermann.

In Theresienstadt fand sie eine ältere Freundin, die ihr ein Kopftuch aus ihrem Futteral nähte. Später suchte sie dieses Mädchen lange, aber der Name ist weg, verschwunden - genauso wie ihre Cousine sich auch nicht mehr an den Namen der Wiener Krankenschwester erinnerte, die sie rettete. Auch solche Lücken haben mit dem Sprach- und Schreibverlust zu tun. Helga Pollak-Kinsky lebte in den 1950er Jahren in Äthiopien und lernte Falaschas (äthiopische Juden) kennen, sie war kontinuierlich als Zeitzeugin unterwegs, und sie besuchte immer die Treffen ihrer Freundinnen, die im berühmten Theresienstädter Zimmer 28 eingesperrt gewesen waren und von Friedl Dicker-Brandeis Kunstunterricht erhielten. Diese Kinderzeichnungen sind im Jüdischen Museum Prag ausgestellt.

„Ich dank Dir für die Zeit“: Helga Pollak-Kinsky war eine der wenigen, die den Sohn des Auschwitz-Überlebenden Adolf Frankl unterstützte, als dieser seine Galerie am Wiener Judenplatz zusperren musste und nicht wusste, wohin mit den vielen Bildern seines Vaters. Niemand half ihm bis heute. Es ist so schade um sie.

https://augustin.or.at/in-auschwitz-hoerte-die-sprache-auf/
https://www.juedischegemeinde-graz.at/blog/gesellschaft-leute/dein-ist-mein-ganzes-herz