1992 feierte das türkische Judentum 500 Jahre seit der Aufnahme der Sefarden durch den osmanischen Herrscher Bayezid II.
Obwohl dies an und für sich ein Jubiläum wert ist, muss bemerkt werden, dass dieser Anlass zu einem beachtlichen Missverständnis führte. Es steht nämlich fest, dass die Sefarden die “jüngsten” Juden auf türkischem Boden darstellen in der Chronologie der Einwanderungen von Romanioten, Mizrahim, Karaim und Aschkenazim. Eine Darstellung dieser diversen Gruppen in Kleinasien würde den Rahmen dieses Artikels sprengen, aber auf die Romanioten soll in der Folge eingehend zurückzukommen sein.
Als “Romanioten” werden die Juden (Ost-)Roms bezeichnet, deren Lebensraum sich vornehmlich vom heutigen Griechenland bis in die Levante erstreckte. Ihre Sprache war ein mit hebräischen Wörtern gespicktes Altgriechisch; auch gab es zur byzantinischen Zeit eine Übersetzung der Thora ins Griechische. Wichtig ist aber, bereits an dieser Stelle festzustellen, dass jüdische Spuren schon in der Periode des Zweiten Tempels im hellenistischen Raum bestehen, und zwar in der ganzen Ägäis, also sowohl am griechischen Festland und auf den Inseln als auch in der heutigen Türkei. So berichtet etwa Klearchos von Soli, ein Schüler des Aristoteles, von einem Treffen seines Meisters mit einem “jüdischen Gelehrten” aus Kleinasien – und Hermippos von Smyrna behauptet, dass Pythagoras von Samos einiges von jüdischen Philosophen übernommen hätte.
Um der Legende von der “Fünfhundertjährigen Gastrolle” der Juden auf dem Gebiet der heutigen Türkei entgegenzutreten, veröffentlichte die türkische Historikerin Siren Bora 2017 eine Studie, die sie mit Die Juden Anatoliens – Jüdische Spuren in der Ägäis betitelte. Dort geht sie von der Behauptung aus, die jüdische Präsenz in Kleinasien sei nicht auf 500, sondern auf 2.600 Jahre zurück zu führen. Aber auch zuvor schon hatte Eric S. Gruen in seinem 2004 erschienenen Buch Diaspora – Jews Amidst Greeks And Romans im Detail ein Dekret von Halikarnassos (heute Bodrum, Türkei) aus augustäischer Zeit beschrieben, wonach den dortigen Juden weitgehende Religionsfreiheit gewährt wurde. Und der deutsche Archäologe Walter Ameling hatte in seiner ebenfalls 2004 veröffentlichten umfangreichen Studie Inscriptiones Judaicae Orientis II eine Vielzahl von hellenistischen und römischen Beispielen jüdischer Funde auf anatolischem Boden gebracht. Das Buch von Siren Bora liest sich wie eine Mischung aus C. W. Ceram (Götter, Gräber und Gelehrte, 1949) und einem modernen Reisführer durch die südwestliche Türkei. So lesen wir unter anderem von touristischen Stätten wie Pergamon, Ephesos, Miletos, Aphrodisias und Andriake – wohl aber immer unter dem Gesichtspunkt auffindbarer Judaica.
Die Synagoge in Sardes. Foro: Inci Türkoglu.
Die wohl bekannteste antike Synagoge in Kleinasien ist jene von Sardes, achtzig Kilometer östlich von İzmir. Bibelwissenschaftler betrachten die Bezeichnung Sefarad aus dem Buch Obadja (Abs. 20) als die lydische Ansiedlung Sardes, welche in den dort aufgefundenen aramäischen Inschriften “sprd” genannt wird. Dies lässt auf das sechste Jahrhundert v. Chr. schliessen. Ein anderes Indiz für eine jüdische Bevölkerung in Sardes ist ein von Josephus Flavius zitierter Brief des seleukidischen Königs Antiochus III. aus dem dritten Jahrhundert v. Chr., wonach zweitausend jüdische Familien in Lydien und Phrygien angesiedelt werden sollten. Synagogenfunde aus dieser Zeit sind nur als Fragmente erhalten, und die heute zu besichtigende Synagoge stammt aus dem vierten und fünften nachchristlichen Jahrhundert.
Menora auf den Treppen der Celsus-Bibliothek in
Ephesos. Foto: Selim Bonfil.
Wenn man mit einem Zirkel İzmir als Zentrum nimmt und weitere 80 km Richtung Südosten dreht, kommt man nach Ephesos, eine der bekanntesten antiken Stätten der Türkei. Ephesos erlebte seine Blüte in der römischen Periode, und zu dieser Zeit war auch die dortige jüdische Gemeinde auf ihrem Höhepunkt. Selbst der Apostel Paulus liess es sich nicht nehmen, dorthin zu pilgern, um die Juden zum Christentum zu bekehren. Ob er dabei erfolgreich war, ist fraglich – erwiesen sind nur etliche “Graffiti” in Form von Menorot an den Wänden und Säulen dieser Stadt; am auffälligsten wohl jene auf den Treppen der berühmten Celsus-Bibliothek. Weitere Ausgrabungen in Ephesos werden von österreichischen Archäologen geleitet. Es wäre nicht erstaunenswert, würde früher oder später die Synagoge der Stadt entdeckt.
Eine weitere Station von Paulus war Miletos, auch als Geburtort des Thales bekannt, wo man unbedingt das grosse Amphitheater besichtigen sollte. Dort kann man auf diversen Rängen Inschriften finden, die sogenannte “Abonnement-Plätze” jüdischer Theaterbesucher kennzeichnen. À propos Apostel Paulus: Er wurde als Jude in Tarsus geboren, einer Stadt im damaligen Kilikien, heute unweit der türkischen Mittelmeerstadt Mersin.
Auch in Andriake, der seinerzeitigen Hafenstadt von Myra in Lykien, unweit des heutigen Antalya gelegen, wurden 2009 bei Ausgrabungen Teile einer Synagoge geborgen, die aus der Spätantike stammen dürften. Besonders bemerkenswert ist eine grössere Plakette, auf der eine Menora und rechts von ihr ein Schofar, sowie links Lulav und Etrog zu sehen sind. Des weiteren wurden bei den gleichen Ausgrabungen religöse Inschriften auf Hebräisch sowie auch auf Griechisch geborgen.
Boras Forschungen zu den Juden Anatoliens gebührte eine Fortsetzung, die sich auf den Osten und Südosten der heutigen Türkei erstrecken müsste. Denn in diesem Land befinden sich noch unzählige weitere Stätten frühjüdischer Geschichte. Falls wir von den biblischen Orten, dem Berg Ararat (dem ostanatolischen Agri-Berg) der Arche Noah sowie vom Harran (heute Sanlıurfa) Abrahams absehen, sind unter anderem Kappadokien, Antiochia (Antakya) und Netsivin (Nusaybin) erwähnenswert.
In der römischen Provinz Cappadocien wurde deren König Ariarathes im 2. Jahrhundert v. Chr. von den Römern aufgefordert, im Sinne einer Absprache mit den Hasmonäern gute Beziehungen zur dortigen jüdischen Gemeinde zu unterhalten. In Antiochia trat im zweiten Jahrhundert Abba Judah als bekannter Förderer palästinensischer Thora-Gelehrter hervor. In Netsivin existierte laut Josephus Flavius seit dem 1. Jahrhundert v. Chr. eine blühende jüdische Gemeinde, bei der unter anderem die Thora-Schule von Rabbi Judah ben Bathyra bis nach Jerusalem Bekanntheit erlangte.
Amphitheater von Miletos, Abonnement-Plätze von Juden: “Platz der als g‘ttesfürchtig –theosebion– bezeichneten Juden”. Foto: Sükrü Tül.
Diese Literatur erweist, dass die jüdische Geschichte in Kleinasien auf weit mehr als zwei Jahrtausende zurückblicken kann. Besonders hervorzuheben wäre, dass das Judentum auch auf diesem Boden als die älteste monotheistische Religion zu werten ist, die dort seit bis zu 2.600 Jahren besteht.
Andriake, Synagoge: Darstellungen von Menorah, Schofar, Lulav und Etrog. Foto: Cevik/Cömezoglu/Türkoglu.
Nachlese:
Siren Bora: Anadolu Yahudileri – Ege’de Yahudi Izleri. Istanbul 2017.
Alle Fotos stammen aus dem Buch von Dr. Siren Bora “Anadolu Yahudileri – Ege’de Yahudi Izleri”; Istanbul, 2017 (S.63/81/86/105), mit freundlicher Genehmigung.