Ausgabe

PESSACH 5781/2021

Rabbiner Joel Berger

Zu den wichtigen Pflichten des Pessach-Festes gehört es, über den Auszug unserer Vorfahren aus der Sklaverei Ägyptens zu erzählen. Dieser Pflicht kommen wir an den Sederabenden nach, wenn wir die Haggada, die Lektüre dieser Abende vortragen.

Inhalt

Zu Beginn des zweiten Mosebuches, Schemot, lesen wir, dass der Pharao seinen Angehörigen verkündete: Die Israeliten sind bereits zahlreicher geworden als wir! Selbstverständlich entsprach dies nicht der Wirklichkeit. Wie so oft haben solche „Wahrheiten“ jedoch ihre Eigendynamik; sie klingen für viele einfach und glaubhaft, — und darauf kommt es anscheinend an. Schon damals, wie heute! Dem Pharao haben auch viele geglaubt, dass die Israeliten im Kriegsfall eine echte Gefahr bedeuten könnten. So rief der Pharao seinen Getreuen zu: „Wohlan, überlisten wir diese Israeliten…“ So überliefert es uns die Thora, die Bibel. Der Herrscher möchte sogar seinem vertrauten Kreis glaubhaft machen, dass das, was er vorhat, lediglich eine winzige „List“ sei, und dass dadurch niemand bedroht würde. Die Zwangsarbeit wird für die jüdischen Sklaven eingeführt. Arbeitslager vermutlich auch. Die Vögte waren bewaffnet. Harte Arbeitsleistung wird verlangt. Grosse Projekte werden gebaut. Eine kleine „List“, das Ganze… Aber der Pharao ist noch immer unzufrieden. Die gewünschten Ergebnisse lassen noch auf sich warten. In seinen Augen werden die Israeliten immer zahlreicher… Dann entschliesst sich der Pharao zu einer besonders „listigen“ Massnahme: Er lässt zwei Hebräerinnen zu sich kommen, die zwei Hebammen der Israeliten. Der Pharao befiehlt ihnen, jeden neugeborenen Knaben, der durch ihre Geburtshilfe zur Welt kommt, zu töten.

Auf diese Weise meint der Pharao, endlich die Wachstumsrate der Israeliten in Richtung „Null“ drücken zu können. Da irrt sich der Tyrann aber gewaltig. Er meint, nur die Männer der Israeliten könnten seine Pläne gefährden und nur seitens der israelitischen Männer sei Widerstand zu erwarten.

In einem alten rabbinischen Kommentar zur Heiligen Schrift, zur Thora, habe ich gelesen, er habe sich deshalb nur vor den Männern gefürchtet und nur diese eliminieren wollen, weil seine Berater und Sternendeuter ihm prophezeit hatten, dass einst ein Israelit das Volk aus der Knechtschaft erlösen werde. Aber die Thora berichtet, dass die zwei Frauen, die Hebammen, mit vermutlich vielen anderen Frauen — im Gegensatz zu den Männern — entschiedenen Widerstand geleistet haben.  Wortwörtlich berichtet das zweite Mosebuch, Schemot, (2.B.M.1:17), dass diese Frauen g‘ttesfürchtig waren und es aus diesem Grund gewagt hätten, die Anordnungen des Pharaos zu sabotieren! Über die G‘ttesfurcht der israelitischen Männer in Ägypten finden wir in der Thora keinen Hinweis.  
Ich will auch nicht verschweigen, dass die vorher bereits angeführte rabbinische Schrifterklärung — übrigens von Männern verfasst — mit Lob und Huld nicht geizt, wenn die Rede auf die Frauen kommt. An einer Stelle der Exegese werden die Frauen beispielgebende „Chassidot“, „fromme Seelen“, genannt. Denn was hätten die herausragenden Fähigkeiten von Moses und Aaron, die das Volk aus Ägypten geführt hatten, genützt, wenn die Frauen es nicht gewagt hätten, die Knaben zu retten. Es hätte keinen Moses gegeben. Der Auszug, die Befreiung hätte nicht stattfinden können. 
Dass die Israeliten ein Volk geworden sind, ist also den tapferen Frauen zu verdanken.

An einer anderen Stelle mutmasst ein Kommentator, diese Hebammen seien gar keine Israelitinnen, sondern Ägypterinnen gewesen, und sie wären später sogar Proselytinnen geworden. Im Lichte dieser Darstellung gewinnt die Geschichte der Israeliten an Farbe! Man könnte sagen, dass Ägypterinnen durch ihren Widerstand eine entscheidende „Geburtshilfe“ bei der Entstehung der Israeliten als Volk leisteten. Die Thora, unsere jüdische Gesetzgebung „revanchiert“ sich darum später, als sie uns das Verachten der Ägypter untersagt, weil man als Fremdlinge in ihrem Land gelebt hatte. Wiederum eine Absage der Thora an den „Kollektivschuld-Gedanken.“

Unsere weisen Exegeten analysieren minutiös die Rolle der Frauen, deren Widerstand gegen den Pharao den Israeliten so viel bedeutet. So fragten die Schriftgelehrten: Warum formuliert die Thora die Frauen betreffend so ausführlich? (2.B.M.1:17) „Sie verweigerten Pharao den Gehorsam“ und „sie liessen die Knaben am Leben.“ Die Rabbiner gingen nämlich immer davon aus, dass die Thora, das Wort G’ttes, keinen überflüssigen Buchstaben beinhaltet. Wenn also die Schrift betont,  dass die Frauen nicht „nach dem Befehl Pharaos taten“, dies eigentlich genügen müsste. Und daraus ergibt sich, dass sie die Kinder nicht, wie befohlen, getötet haben, sondern sie am Leben liessen.  Wenn aber die Thora ausdrücklich erwähnt: „sie liessen die Knaben am Leben“, dann will sie uns auf eine weitere Begebenheit aufmerksam machen, damit wir daraus etwas lernen. So die kritische Einstellung und die Logik unserer Gelehrten. Sie folgerten also aus dieser Formulierung der Thora, dass man uns nicht nur die Frömmigkeit, die Menschlichkeit dieser Frauen zeigen wollte, sondern viel mehr. Diesem Ausdruck der Schrift entnahmen die Meister der Exegese, dass die Frauen ihre Aufgabe nicht allein auf die Geburtshilfe beschränkten. Sie kümmerten sich auch beispielhaft nach der Geburt um ihre Schützlinge. Sie sorgten für geeignete Nahrung, halfen den Wöchnerinnen mit Rat und Tat, damit ihre Kinder auch am Leben blieben. Über die Belohnung dieser Frauen berichtet die Erzählung der Thora ebenfalls. Das Volk wuchs; so blieben diese Frauen nicht arbeitslos und bekamen dazu auch je ein Haus geschenkt.

Für diejenigen, die nach dem bisherigen Ablauf der Erzählungen der Meinung sind, ausser diesen tapferen Frauen hätten doch die Männer den Auszug aus dem Sklavenhause bewirkt, möchte ich wieder die Aussagen unserer Schriftgelehrten aus dem Midrasch, aus der jüdischen Exegese, entgegenhalten: „Nur der frommen Frauen willen wurde Israel aus dem Sklavenhause erlöst.“ Ausser den Hebammen und den Müttern waren noch viele Frauen am Werk, wie beispielsweise Mirjam, Moses’ Schwester, aber auch die Tochter des Pharao, oder die Mutter Moses’, Jochebed —  um nur diejenigen zu erwähnen, die namentlich in der Thora aufgeführt sind. 

Die Tochter des Pharaos, also jemand aus dem Hause des Tyrannen, erblickt ein Körbchen mit einem weinenden Knaben im Fluss. Sie weiss, dass es ein Kind der Israeliten ist und somit dem Tode geweiht; und trotzdem erbarmt sie sich seiner und nimmt diesen Knaben bei sich auf. Darauf betritt Mirjam, die Schwester des Knaben die Szene und fragt mutig die ägyptische Prinzessin: Soll ich für Euch eine Amme besorgen? Die Thora sagt nichts darüber aus, überlässt es uns, zu „spekulieren“, ob die Prinzessin wusste, oder zumindest ahnte, dass die junge Sklavin eine Israelitin, womöglich eine Verwandte des Knaben war, der auf Befehl des Pharaos im Nil ertränkt werden sollte. Wahrscheinlich ahnte sie das. Und noch etwas möchte ich zu dieser Episode anführen. Die Höflinge der Prinzessin haben ihre Rettungstat dem Pharao nicht verraten. Sie hielten alle zu ihr. Dem sollten wir, von unserer so informationssüchtigen Welt aus, hohe Anerkennung zollen.