Ausgabe

Die Juden in Serbien Entwicklungen bis 1918 und in der Zwischenkriegszeit Serie, Teil 1

Martin Malek

Juden dürften sich seit der Antike (also noch vor der Ankunft der Serben selbst) im Gebiet des heutigen Serbien aufgehalten haben. Auch ihre Präsenz in der römischen Festungsstadt Singidunum (an deren Stelle später Belgrad entstand) ist zu vermuten, selbst wenn sie sich anhand von Quellen nicht direkt nachweisen lässt.

Inhalt

Das erste schriftliche Zeugnis über Juden in Belgrad stammt aus dem 10. Jahrhundert. Im Spätmittelalter bestand eine jüdische Gemeinschaft in Belgrad, doch lassen sich deren Grösse, Beschaffenheit und Einfluss aufgrund des Fehlens vieler historischer Zeugnisse nicht gesichert rekonstruieren. Mit der Vertreibung der Juden von der Iberischen Halbinsel am Ende des 15. Jahrhunderts wuchs ihre Zahl auf dem weitgehend vom Osmanischen Reich beherrschten Balkan erheblich. Die Sefarden stellen bald die Mehrheit der Belgrader Juden. 1521 eroberten die Osmanen Belgrad, das gegen Ende des 17. Jahrhunderts den Ruf genoss, nach Istanbul und Saloniki das drittwichtigste Zentrum jüdischer Gelehrsamkeit auf dem Balkan zu sein. Das ging auch und gerade auf die von dem Belgrader Rabbiner Jehuda Lerma gegründete Jeschiwa, eine theologische Anstalt zur Ausbildung von Rabbinern, zurück. Allerdings gerieten die Belgrader Juden insbesondere ab 1688 massiv zwischen die österreichisch-osmanischen Fronten, wurden von beiden Seiten massakriert, vertrieben, beraubt und zeitweise sogar in die Sklaverei verkauft.

1804 begann der Erste Serbische Aufstand, der im Dezember 1806 Belgrad erreichte. Die serbischen Rebellen töteten zahlreiche Moslems, machten aber auch vor den Juden nicht halt, denen sie vorwarfen, „Schützlinge“ und „Spione“ der Osmanen zu sein. 1813 behielten die Osmanen zunächst die Oberhand. Aus serbischer Sicht erfolgreicher war der Zweite Aufstand 1815-1817: Das von Miloš Obrenović (1780-1860) angeführte Serbien erkämpfte sich eine Autonomie. Die Lage der Juden im Land besserte sich erheblich: Sie genossen weitgehende bürgerliche Gleichberechtigung und durften alle Berufe ausüben, was in anderen Ländern Europas nicht selbstverständlich war. 1819 wurde die während des Ersten Aufstandes zerstörte Synagoge von Belgrad wiederaufgebaut.
Früher waren die Städte von Türken, Griechen und Juden dominiert gewesen, während die Serben weitgehend auf dem Land lebten. Das änderte sich aber mit dem Aufkommen eines serbischen Bürgertums im Lauf des 19. Jahrhunderts. Insbesondere in den kleineren Städten nahe Belgrad trat die wachsende Zahl der serbischen Geschäftsleute, Händler und Handwerker in Konkurrenz zu den Juden in den gleichen Berufen. In der Regierungszeit des Fürsten Aleksandar Karađorđević (1842-1859) ergingen aufgrund von Interventionen der serbischen Zünfte Massnahmen gegen den jüdischen Handel. Besonders weitreichend war eine Norm des serbischen Innenministeriums von 1846, die den Juden den Aufenthalt in Teilen Serbiens (nicht aber in Belgrad und Kragujevac) und den Erwerb von Immobilien untersagte. Das zwang die betroffenen Juden zum Verkauf von Eigentum und zur Übersiedlung nach Belgrad oder in ein anderes Land, was wiederum dazu führte, dass sich nun hunderte ausgewiesene Juden in dem engen und ohnedies baufälligen Belgrader Viertel Dorćol drängten.

1859 kam Miloš Obrenović wieder an die Macht und veranlasste mittels des Dekrets Über die Gleichberechtigung der Bürger die Aufhebung der antijüdischen Restriktionen. Er starb aber schon im folgenden Jahr, und der serbische Staatsrat ordnete nach einer Pressekampagne, die von serbischen Geschäftsleuten unterstützt worden war, die Aufhebung des Dekrets an. Dann war Miloš Obrenovićs Sohn Mihailo Obrenović bis 1868 Fürst von Serbien. Er erliess 1861 eine restriktive Verordnung gegen die Juden, die ihre Berufsfreiheit ähnlich wie 1846 einschränkte (aber wieder Belgrad nicht betraf).

1867 zogen die letzten osmanischen Heeresteile aus Belgrad ab, das anstelle von Kragujevac Hauptstadt Serbiens wurde. Wohlhabende und gebildete Aschkenasen wanderten zu, die sich im Zentrum Belgrads ansiedelten und im Oktober 1869 eine eigenständige Gemeinde ins Leben riefen. Es kam daher zu Spannungen zwischen den Aschkenasen und den Sefarden. Letztere versuchten, die Anerkennung einer zweiten jüdischen Gemeinde durch die Belgrader Stadtverwaltung zu verhindern, scheiterten aber. Die serbische Verfassung von 1869 verankerte die Freiheits- und Eigentumsrechte des Individuums, die Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz und ihre Wählbarkeit für öffentliche Ämter. Allerdings wurden die erwähnten diskriminierenden Rechtsakte von 1846 und 1861 nicht zurückgenommen, so dass die jüdischen Bürger wieder nicht vollkommen gleichgestellt waren. Ein weiterer strittiger Punkt betraf den Militärdienst, den Juden unter den Osmanen nicht hatten leisten müssen (dafür waren sie mit einer Sondersteuer, dem Harać, belegt gewesen), der ihnen aber nun von der serbischen Verfassung vorgeschrieben war. Im Krieg zwischen Serbien und dem Osmanischen Reich 1876 kämpfte erstmals ein kleines jüdisches Kontingent. Auf dem Berliner Kongress 1878 machten die Grossmächte die Anerkennung der neuen Staaten Serbien, Rumänien und Bulgarien von der Umsetzung des Gleichheitsprinzips aller Staatsbürger ohne Rücksicht auf Glaubensbekenntnis und Nationalität abhängig. Dieses fixierte die serbische Verfassung aber erst 1888. Vor und nach deren Verabschiedung kam es immer wieder zu verschiedenen antisemitischen Kampagnen, und zwar nicht nur solchen der „üblichen Verdächtigen“, das heisst, serbischer Kaufleute, sondern auch von Politikern, Journalisten und Intellektuellen. 

Mit der generellen Verbesserung ihrer rechtlichen Lage nahm die Zahl der serbischen – und insbesondere der Belgrader – Juden zu: 1883 hatten sie 2.125 Personen (bei einer Bevölkerung Belgrads von rund fünfzigtausend) ausgemacht, 1890 waren es knapp 2.600 und 1895 rund 3.100. 1907/08 wurde in Belgrad die dritte Synagoge, genannt Bet Israel, errichtet. Bei der Grundsteinlegung war Serbiens König Petar I. anwesend. Im Ersten Balkankrieg 1912, in dem Serbien, Montenegro, Bulgarien und Griechenland einerseits und das Osmanische Reich andererseits einander gegenüberstanden, waren sechshundert Juden aus Serbien (wo es 1912 circa fünftausend Juden gab) eingesetzt. Im Ersten Weltkrieg 1914-1918 kämpften zwischen sechs- und achthundert Juden in der serbischen Armee, wovon etwa einhundertfünfzig umkamen und Hunderte Verletzungen erlitten. 

In der Zwischenkriegszeit
Die Juden Belgrads befanden sich unmittelbar nach 1918 in einer durchaus guten Position. Sie begrüssten überwiegend die Entstehung des SHS-Staates1 (ab 1929 Jugoslawien), hatten nichts gegen die dort dominante Rolle der Serben und zeigten sich demonstrativ loyal. Das heisst allerdings nicht, dass es keine Fälle von staatlichem beziehungsweise behördlichem Antisemitismus gegeben hätte: Ein solcher bezog sich insbesondere auf Juden aus Kroatien-Slawonien und der Vojvodina. Das lag vor allem an der massiven serbischen Abneigung gegen alles „Habsburgische“, in deren Kontext „die Juden“ aufgrund des von ihnen immer noch oft – oder sogar bevorzugt – gesprochenen Deutsch und Ungarisch, und ihrer angeblichen oder tatsächlichen Loyalität zum 1918 untergegangenen Österreich-Ungarn als „antijugoslawische Elemente“ galten: „Sie dienten den anti-habsburgischen Reflexen als ideale Projektionsfläche.“2

Der Jurist Šemaja Demajo (1877-1932) war der erste Jude, der – und zwar 1927 auf der Liste der damals stärksten politischen Kraft, der Radikalen Volkspartei (Narodna radikalna stranka, NRS) – in das Parlament des SHS- Staates, die Narodna skupština (Volksversammlung), gewählt wurde. Allerdings verbot der Herrscher Aleksandar I. 1929 alle Parteien und errichtete seine sogenannte „Königsdiktatur“. Das führte zu unterschiedlichen Reaktionen (auch) unter den Juden. Die Unterstützer hofften insbesondere darauf, dass nun, in einem Klima der Zensur, auch keine (oder weniger) antisemitische Presseerzeugnisse auf den Markt kommen würden. Das stellte sich sogar immerhin bis zur Mitte der 1930er Jahre – und insbesondere bis zur Ermordung des Königs am 9. Oktober 1934 – als im Prinzip richtig heraus. Viele jugoslawische Juden in allen Lagern (Zionisten, Sefarden, Assimilationisten und so weiter) waren über diesen Mord entsetzt, meinten sie doch, dass mit dem König der Garantiefaktor ihrer insgesamt guten Behandlung weggefallen war.

Die Fortsetzung dieses Beitrags folgt in der kommenden Ausgabe, Sommer 2021/5781.
1 „Staat der Slowenen, Kroaten und Serben“.
2 Wieland Köbsch: Die Juden im Vielvölkerstaat Jugoslawien 1918-1941. Zwischen mosaischer Konfession und jüdischem Nationalismus im Spannungsfeld des jugoslawischen Nationalitätenkonflikts. Berlin 2013, S. 259.