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Mit der Eröffnung beginnt eine neue Zeit,
eine Zeit wahrhaften Glücks.
(Rabbiner Mordechai Grünwald)
Das wahrhafte Glück, von dem Oberrabbiner Mordechai (Moritz) Grünwald in seiner Rede anlässlich der Einweihung der Grossen Synagoge von Vidin spricht, dauert nur ein halbes Jahrhundert, ein halbes Menschenleben, eine kurze Epoche mit zwei Weltkriegen, Faschismus und erniedrigenden Rassengesetzen.
Nach der Shoa verlassen zwischen 1948 und 1950 fast alle jüdischen Bulgaren ihre Heimat, wandern aus nach Israel, weil sie Zionisten sind, verlassen ihre Heimat, enttäuscht von einem Land, das ihnen ein bedrohtes Leben unter faschistischen Gesetzen aufgezwungen hatte. Heute sind ihre Synagogen zerstört, verfallen, verwaist, zu Lagerhäusern und Fabriken degradiert oder zu Kulturtempeln umfunktioniert.2
Andere warten auf ihre Wiederauferstehung, auf eine neue Zeit, eine Zeit ohne Juden.
Wie die Synagoge in Vidin.
Westfassade. Postkarte, um 1900. Archiv Michael Halévy, mit freundlicher Genehmigung.
Grundriss der Synagoge, gemeinfrei, Wikimedia Commons, 22.02.2021.
Im Heiligen Dreieck von Vidin überrascht in unmittelbarer Nähe der Nikolaikirche (Sveti Nicolaj) und zweihundert Meter von der mächtigen mittelalterlichen Zitadelle Baba Vida entfernt das Skelett einer majestätischen Synagogenruine den Betrachter. Die heute von einem Zaun geschützte Ruine wird im Osten von einem Park am Donauufer und im Süden von sozialistischen Wohnblocks umstellt. Äusserlich beeindruckt die Ruine nicht allein durch ihre Grösse und Monumentalität, sondern auch durch ihre weithin sichtbaren, vorspringenden Ecktürme, deren verjüngte Obergeschosse die Dachtraufe überragen. Die Synagoge von Vidin, die 1894 auf den Überresten älterer Bauten errichtet wird und die Form einer Scheinbasilika hat, wurde wahrscheinlich der Synagoge von Sarajevo nachempfunden, deren Hauptmerkmal die vier markanten einheitlichen Türme waren.
Haupteingang, 2016. Foto: Erik Cleves Kristensen, gemeinfrei. Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Abandoned_Synagogue_in_Vidin_(26844659063).jpg?uselang=de, 22.02.2021.
Seitenfassade mit polygonaler Apsis, um 1960. Archiv Michael Halévy, mit freundlicher Genehmigung M. Halévy.
Nach der Zerstörung 1878 der Wiederaufbau 1894
Als im Russisch-Türkischen Krieg (1877-1878) die erst 1837 errichtete Synagoge durch Artilleriefeuer zerstört wird, beschliesst die Vidiner Gemeinde einen Neubau, der durch namhafte Spenden finanziert werden soll. Begünstigt durch neue religiöse Freiheiten nach der nationalen Wiedergeburt Bulgariens wird mit dem Bau schon Ende der 1880er Jahre begonnen, finanziert von jüdischen Kaufleuten aus dem Altstadtviertel Kaleto. Wegen Finanzierungsproblemen muss die Bautätigkeit für einige Jahre ruhen, kann aber im November 1892 fortgesetzt werden. Schon zwei Jahre später wird am 28. September 1894 (dem 16. September 1894 nach dem alten Kalender) die zweitgrösste Synagoge Bulgariens mit einer Rede in judenspanischer Sprache durch den ein Jahr zuvor zum Oberrabbiner ernannten Dr. Mordechai (Moritz) Grünwald in Anwesenheit des Regionalgouverneurs eingeweiht. Der prächtige Monumentalbau ist nun Hauptsynagoge für die knapp 1.800 Mitglieder zählende jüdische Gemeinde (zehn Prozent der Stadtbevölkerung).2 Vor der Errichtung der Grossen Synagoge in Sofia (1910) ist die Synagoge in Vidin mit ihren 1.000 Sitzplätzen für zwei Jahrzehnte die grösste Synagoge des Balkans, von Einheimischen und Besuchern gleichermassen bewundert.
Die Architekten
Über den Architekten bzw. die Architekten der Synagoge, der angrenzenden Schule und der Wohnung des Kantors sind wir nur unzureichend unterrichtet. Für den Historiker E. Marinov und den aus Vidin stammenden S. Aladjem geht der Bau auf einen Entwurf der italienischen(?) Architekten Ferdinand und Francesco zurück.3 Nach den Forschungen des bulgarischen Architekturhistorikers Elko Hazan stammen die Baupläne jedoch von den österreichisch-ungarischen Architekten Eugen Gessler und K. Machas, die in Vidin auch die Kirche des heiligen Dimetar entwarfen sowie für einige Katasterpläne verantwortlich sind.4 Ihr Bau zitiert den zeitgenössischen Jugendstil und die Neuromanik und zeigt einen starken Einfluss der zwischen 1854-1859 von dem Wiener Architekten Ludwig Förster errichteten Synagogenbauten des Leopoldstädter Tempels und der Grossen Synagoge in Budapest.5
Die schlanken Säulen sind aus bronziertem Gusseisen, mit kannelierten Basen und nach unten abgerundeten Würfelkapitellen. Foto: Lyubomir Milchev, mit freundlicher Genehmigung M. Halévy.
Toraschrein, um 2000. Archiv Elko Hazan, mit freundlicher Genehmigung M. Halévy.
Gebetshalle mit den zweistöckigen Galerien, 2016. Foto: Bertramz, gemeinfrei. Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Vidin,synagogue5.jpg?uselang=de, 22.02.2021.
Das Raumkonzept
Die Synagoge besteht aus einem rechtwinkligen, 32 x 20 Meter grossen Parallelepiped und misst in der Höhe 19 Meter, bedeckt von einem Satteldach, dem von Südosten her ein reich verzierter Eingangsvorbau und dem am gegenüberliegenden Ende eine polygonale Apsis vorgelagert ist, die bis zur Höhe des ersten Stockwerks reicht. Der dreischiffige Bau mit Apsis, einem mit vierteiligen Gewölben bedeckten Narthex, Galerien und vier Türmen ist im Grunde eine leicht verlängerte Scheinbasilika. Im Inneren besteht das zweite Stockwerk an der Nord- und Südseite aus zwei längsgerichteten Frauengalerien, so dass die Höhe der Gebetshalle der des gesamten Gebäudes entspricht, ähnlich denen der Synagogen von Edirne und Budapest. Frontal erstreckt sich das Mittelschiff des zweigeschossigen Narthex in nordöstlicher Richtung über die Linie der flankierenden Ecktürmchen hinaus.
Rabbiner Dr. Ascher Hananel. Archiv Michael Halévy, mit freundlicher Genehmigung.
Jules Pascin im Café du Dôme, Paris 1910. Foto: Anonym, gemeinfrei. Quelle: Alexandre Dupouy: Pascin, New York, Parkstone International, 2014, online : https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Jules_Pascin_im_Café_du_Dôme,_Paris_1910.png?uselang=de, 22.02.2021.
Kulturzentrum Jules Pascin (Entwurf), mit freundlicher Genehmigung M. Halévy.
Die Fassaden
Die sechzehn langgestreckten Bogenfenster auf jeder Seitenfassade sind mit Buntglas aus Ungarn und mit floralen, schmiedeeisernen Ornamenten verziert. Die Gliederung der Fensterrahmen ist neoromanisch und ähnelt denen der Grossen Synagoge von Edirne.6 Segmentierte Kuppeln mit fensterlosen Arkaden und Pilastervordach bedecken die vier Türme. Über dem Eingang der von zwei Seitentürmen mit zwei Bogenfenstern flankierten Hauptfassade befindet sich ein von zwei Säulen mit hohen Sockeln getragener halbrunder Bogen, dessen Mitte ein Rundfenster mit einem Eisengitter in Form eines Magen David schmückt. In der Archivolte des unteren Bogens über dem Haupttor steht die populäre hebräische Portalinschrift „Mein Haus soll das Gebetshaus sein für alle Völker" (Jesaia 56,7), darüber ein Magen David. Zwei Eingänge an den Westwänden der Türme führen zu den Frauenemporen.
Die Gebetshalle mit Toraschrein (Hekhal)
Die 21 x 10 Meter grosse und 15 Meter hohe Gebetshalle überspannt ein Tonnengewölbe mit Rippenbögen, das die drei Seitenschiffe und die zweigeschossigen Galerien mit blau gestrichenen Kreuzgratgewölben bedeckt. Im farbenfrohen Innenraum dominieren Blau-, Orangerot- und Violett-Töne die Gebetshalle.
Die leicht erhöhte Teva (Kanzel) an der Ostseite befindet sich vor dem imposanten dreiteiligen Toraschrein (hekhal), der wie ein Altar in die Bogenöffnung der Apsis gesetzt wurde. Mit seinen Bögen, Säulen und zwei Türmen zitiert er die Architektur des salomonischen Tempels in Jerusalem.7
Der in Blau, Rot und Bronze bemalte Toraschrein stammt vom Prager Holzbildhauer Max Werich in Zusammenarbeit mit dem Architekten und Ingenieur K. Machas, die beide für einige Jahre in Vidin tätig waren.8 Das Holz für den Altar kommt aus Rumänien und Ungarn. Über dem Schrein verdecken mächtige Sonnenstrahlen und die Gesetzestafeln einen Magen David. Hinter dem Schrein führt eine Leiter zu einer Plattform mit Harmonium, die Platz für einen kleinen Chor bietet.
Die Synagoge als Kulturzentrum
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und vor der massiven Auswanderung der bulgarischen Juden nach Israel (1948-1950) besucht Oberrabbiner Dr. Asher Hananel (1885-1964) Vidin. Über seinen Besuch der damals noch gut erhaltenen Synagoge schreibt er:
„Ich muss sagen, dass die Synagoge beeindruckend und grossartig ist. Sie ist gut gepflegt und alle Gegenstände, darunter Bücher und liturgische Objekte, sind in ausgezeichnetem Zustand [...] Im Innern hängen zwei riesige Kronleuchter von der Decke herab. Trotz des orientalisch-maurischen Stils erinnert die Synagoge doch stark an eine katholische Kirche in Europa. Der Toraschrein befindet sich an der Ostwand, darüber sind die zehn Gebote geschrieben. Die Wände sind in leuchtenden Farben verziert. Der Toraschrein ist so gebaut, dass eine Leiter hinter ihm zu einer Plattform führt, auf der ein Harmonium steht, das Platz für einen kleinen Chor bietet.“9
In den Siebziger Jahren wird überlegt, die Synagoge, die über eine gute Akustik verfügt, für symphonische Konzertveranstaltungen zu nutzen. Nach kurzer Bautätigkeit werden die Renovierungs- beziehungsweise Rettungsarbeiten eingestellt, Berichte über Sicherstellung (aber auch Diebstahl) von Architekturstücken und Inschriften erscheinen gelegentlich in der Lokalpresse.
Das Grundstück und die Synagogenruine, die 1985 zum Kulturdenkmal erklärt wird, erhält die Stadt mit der Auflage, in einer restaurierten Synagoge das ambitionierte Kulturzentrum Jules Pascin zu installieren, mit Museum, Konferenzräumen, Bibliothek und einem Gebetsraum mit Mahnmal für die Juden Bulgariens.10 Nach langen Verhandlungen und Ausschreibungen stellen 2020 der Vidiner Bürgermeister Tsvetan Tsenkov und der Architekt Andrei Todorov ihr Projekt Pascin 2020 vor, das mit Geldern der Europäischen Union in einigen Jahre vollendet sein soll.11
Kontakt:
Michael Halévy
Centre for the Study of Manuscript Cultures, Hamburg
halevy.igdj@gmail.com
Anmerkungen
1 Elko, Hazan, Synagogues in Bulgaria: A Testimony of Eighteen Centuries of Jewish Presence in the Balkans (MS, 2007).
2 Zur Geschichte der Juden in Vidin siehe Mordechai Grünwald, Algo de istorya de la komunidad israelita de Vidin, Sofia 1894; Dimităr Stojanov, Pădevoditel’na grad Vidin, Vidin 1927; Zvi Keren, The Jewish Community of Vidin Between the Ends of Two Wars: March 1878 - September 1944, in: idem, Studies of Jewish Life in Bulgaria. From the 16th to the 20th Century, Sofia 2015, 139-252; idem, On the History of the Jewish Community in Vidin - 16th-18th centuries, Études Balkaniques 1, 1996; S. Aladjem, Spomeni, Istoria na vidinskoto evreistvo ot osvobojdenieto Balgariado, Bde. I-II (MS), Vidin 1962; Philip Dimitrov, The Old Jewish Municipality in Vidin, Annual / Godishnik 17, 1982, 115-143; Rashel Anguelova, La sinagoga de Vidin; Análisis arquitectónico, Godishnik / Annual 26, 1991, 147-156; E. Marinov, Minaloto na vidinskite evrei, Vidin 2002; zur Geschichte der Vidiner Synagoge, siehe Julia-Mineva-Milcheva & Elisaveta Alexandrova-Koeva, Companion Guide to Religious Architecture in Bulgaria. Christian Jewish Muslim Monuments, Part One: West Bulgaria, Sofia 2006, 278-280; Elko Hazan, The Concise Illustrated Encyclopaedia of Jewish Communities and their Synagogues in Bulgaria, Sofia 2012, 168-175; idem, Synagogues in Bulgaria: A Testimony of Eighteen Centuries of Jewish Presence in the Balkans (MS, 2007); Dimana Trankova & Anthony Georgieff, A Guide to Jewish Bulgaria, Sofia 2011, 77.
3 Se sabe también que la fachada en torno a las columnas de la portada principal fue revocada por el maestro Ferdinando, de nacionalidad italiana, apud Rashel Anguelova, La sinagoga de Vidin: Análisis arquitectónico, Godishnik / Annual 26, 1991, 147-156 [hier: 154]; S. Aladjem, Spomeni, Istoria na vidinskoto evreistvo ot osvobojdenieto Balgariado, Bde. I-II (MS), Vidin 1962.
4 Grigor Doytchinov & Christo Gantchev, Österreichische Architekten in Bulgarien, 1878-1918, Wien 2001, 116.
5 Nach dem Vorbild des von Ludwig Förster errichteten Leopoldstädter Tempels wurden weitere Synagogen im „orientalischen“ Stil errichtet: Synagoge in Zagreb, Tempelsynagoge in Krakau, der Coral-Tempel in Bukarest sowie die Büyuk Sinagog in Edirne. Siehe auch Elko Hazan, The Concise Illustrated Encyclopaedia of Jewish Communities and their Synagogues in Bulgaria, Sofia 2012, 172.
6 Elko Hazan, The Concise Illustrated Encyclopaedia of Jewish Communities and their Synagogues in Bulgaria, Sofia 2012, 174.
7 Elko Hazan, The Concise Illustrated Encyclopaedia of Jewish Communities and their Synagogues in Bulgaria, Sofia 2012, 172-173.
8 Über Max Werich (Verich) habe ich keine Lebensdaten in Erfahrung bringen können. Siehe auch S. Aladjem, Spomeni, Istoria na vidinskoto evreistvo ot osvobojdenieto Balgariado, Bde. I-II (MS), Vidin 1962, apud Rashel Anguelova, La sinagoga de Vidin; Análisis arquitectónico, Godishnik / Annual 26, 1991, 147-156 [hier: 156].
9 Staatsarchiv Sofia, F. 1568K, op. 1, fn 424, 1947-1948; Zvi Keren, The Jewish Community of Vidin Between the Ends of Two Wars: March 1878 - September 1944, in: idem, Studies of Jewish Life in Bulgaria. From the 16th to the 20th Century, Sofia 2015, 139-252 [hier: 176].
10 Der 1886 in Vidin geborene expressionistische Maler Jules Pascin (Julius Mordecai Pinkus) begeht 1930 in Paris Selbstmord. Er zählt zu den bedeutendsten bulgarischen Künstlern.
11 Sephardic Balkans, Jewish Heritage Trips, 24. 12. 2020.