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Arno und Nadja Kompatscher,
Riccardo Calimani und Maurizio Goetz
in einer Online-Konferenz
Am 15. Januar 2021 sprachen der Landeshauptmann Südtirols Arno Kompatscher und seine Frau Nadja, der italienische Schriftsteller und Vizepräsident der jüdischen Gemeinde Venedigs Riccardo Calimani und der Nachkomme einer Meraner jüdischen Familie Maurizio Goetz in einer Online-Konferenz mit der Bozner Literatur- und Geschichtsforscherin Sabine Mayr über ihre Gedanken zur Südtiroler Erinnerungskultur und jüdischen Geschichte.
Sabine Mayr: Herr Landeshauptmann, seit 2014 stehen Sie an der Spitze der Autonomen Provinz Bozen. Worauf blicken Sie zurück?
Arno Kompatscher: Einige Agenden konnte ich erfolgreich weiterführen und abschliessen. Ich denke hier vor allem an das im Autonomiestatut verankerte, 2014 mit Ministerpräsident Matteo Renzi abgeschlossene Finanzabkommen, das Südtirols jährliche Beitragsleistung zur Sanierung des Staatshaushaltes in einem Fünf-Jahres-Rhythmus dynamisch neubemisst. Zuvor war es wiederholt vorgekommen, dass Südtirol einseitig zur Kasse gebeten wurde, denn seit der Streitbeilegung Italiens und Österreichs vor den Vereinten Nationen 1992 betrachtete Italien Südtirol-Agenden als rein interne Angelegenheiten. Dank der nun vereinbarten Vollständigkeitsklausel und eines bilateralen Abkommens mit Österreich, in dem Italien Österreichs Schutzmachtfunktion für Südtirol erstmals anerkennt, sind Südtirols Finanzgebarung, die Weiterentwicklung der Autonomie wie der Inhalte des Gruber-De Gasperi-Abkommens von 1946 künftig absichert. Endlich wurde die ladinische Sprachgruppe der deutschen und italienischen rechtlich gleichgestellt.
Sabine Mayr: Was ist Ihnen noch gelungen?
Arno Kompatscher: Sozialpolitisch waren die Eröffnung eines Museums unter dem Siegesdenkmal und die Installation einer Leuchtschrift am Gebäude des Finanzamtes am Gerichtsplatz in Bozen über einem Mussolini-Relief wichtig. Auf die faschistische Provokation des Befehls „Credere, obbedire, combattere“ („Glauben, gehorchen, kämpfen“) antworten wir mit dem Zitat von Hannah Arendt: „Kein Mensch hat das Recht zu gehorchen“. Ferner haben wir Persönlichkeiten, die im Widerstand gegen den Faschismus und Nationalsozialismus aktiv waren, gewürdigt, wie Lidia Menapace oder Bruno Zito. Beide sind unlängst verstorben.
Sabine Mayr: Während Ihrer Regierungszeit hat sich Südtirol modernisiert und die Ausrichtung auf Europa verstärkt. Wo fehlt heute noch der europäische Gedanke?
Arno Kompatscher: Ich stelle mir unser Land als ein kleines Europa in Europa vor. Wir haben das Glück, dass wir nicht nur ein friedliches Zusammenleben mehrerer Sprachgruppen entwickeln könnten, sondern auch die Möglichkeit hätten, zu interagieren, ohne dabei die eigene kulturelle Identität aufzugeben. Nach der Formel „United in diversity“ denke ich an die Vereinigung unterschiedlicher, in ihrer Differenz bestärkter Kulturen, die sich heutzutage auch auf neu ansässige Bürger und Bürgerinnen anderer Kulturen erstreckt. Wir hätten dank der Südtirol-Autonomie beste Voraussetzungen dafür und es gibt unzählige Situationen, aus denen unser Potential deutlich hervorgeht, aber leider muss ich einräumen, dass wir von einer konkreten Umsetzung noch weit entfernt sind. Sobald sich eine Krise abzeichnet, zeigt sich eine Rückkehr zu den alten Logiken des „Wir“ und „Ihr“. Auch auf italienischer oder europäischer Ebene haben wir eine erstarkte nationalistische Rhetorik gesehen. Ähnlich spielt es sich in unserem kleinen Wirkungskreis ab. Es genügt eine Provokation, sei es der Schützen, sei es einer Gruppe der italienischen Rechten. Ich hoffe sehr, dass wir es eines Tages schaffen werden, solche Abschottungen zu überwinden. Meine Rolle als Landeshauptmann interpretiere ich im Sinne unserer kulturellen Vielfalt als einen „Landeshauptmann für alle“.
Sabine Mayr: Zu Beginn des 20. Jahrhunderts forderten Rabbiner und jüdische Ärzte in Meran, dass gesellschaftliche Minderheiten wie Südtirols Juden respektiert würden. Der 1903 in Meran verstorbene Philosoph Moritz Lazarus gilt heute als einer der Begründer der Soziologie. Er engagierte sich in den 1870er Jahren gegen den Antisemitismus, wie später auch sein Schüler, der Rabbiner Aron Tänzer. Die jüdische Gemeinde umfasste viele weitere engagierte Mitglieder, die aus verschiedenen Ländern nach Meran gekommen waren. Gibt es eine mögliche gesellschaftliche Vorbildfunktion der jüdischen Gemeinden?
Maurizio Goetz: Die jüdische Gemeinde in Meran hat zur kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung des Kurortes und der Region beigetragen. Jüdische Unternehmer und Wissenschaftler förderten mit der Errichtung lokaler Bahnlinien die wirtschaftliche und infrastrukturelle Entwicklung der Provinz, zum Beispiel mit der Finanzierung der Überetscherbahn von Sigmundskron bei Bozen bis zur Talstation der von ihnen finanzierten Mendelbahn oder der 1907 eröffneten, ebenfalls von der Familie Schwarz finanzierten Virgl-Standseilbahn bei Bozen. Sie waren außerdem Pioniere der touristischen Entwicklung Südtirols, indem sie wie der jüdische Kurarzt Raphael Hausmann die Traubenkur europaweit bekannt machten. Sabine Mayr und Joachim Innerhofer haben im Buch „Quando la patria uccide. Storie ritrovate di famiglie ebraiche in Alto Adige“ (in deutscher Fassung: „Mörderische Heimat. Verdrängte Lebensgeschichten jüdischer Familien in Bozen und Meran“) den in diesem Sinne ausschlaggebenden Einfluss jüdischer Persönlichkeiten dargelegt, die in Meran verweilten. Dank des Einsatzes von Mitgliedern der jüdischen Gemeinde konnte sich Meran auch in der Zwischenkriegszeit weiterhin als Kurort und international wahrgenommene Stätte der kulturellen Begegnung behaupten, die von Persönlichkeiten wie Franz Kafka, Sigmund Freud, Arthur Schnitzler, Stefan Zweig oder Chaim Weizmann aufgesucht wurde. Neben Raphael Hausmann sei noch an die Bankiers Lehmann und Biedermann erinnert, an die Salonnière und feministische Autorin Clara Schreiber, den Betreiber eines koscheren Hotels Josef Bermann, aber auch an Kaufleute wie meinen Großvater Moritz Götz, der aus Trebitsch in Mähren nach Meran gezogen war. 1938 lebten in Meran zirka 1.200 Jüdinnen und Juden. Im Sommer wurde der Kurort zu einem kleinen, kulturellen Zentrum Europas.
Riccardo Calimani: In einem von nationalistischen Schüben befreiten, vereinigten Europa sind kleine Heimaten eine absolute Bereicherung, die es zu verteidigen gilt. Die jüdische Welt hat vielleicht als Erste zu solchen kleinen Heimaten geführt. Im Jahr 1870 kam ein Soldat namens Mendel Hirsch aus dem kleinen Ort Brandes nahe Brody in Galizien nach Italien und änderte seinen Namen zu Mendel Brandes. Seinem Sohn gab er den deutschen Namen Richard. Dieser Riccardo war der Vater meines Grossvaters, der auch wieder einen Sohn namens Riccardo hatte, der in der Schoah ermordet wurde. Ich wurde neun Monate nach der Befreiung Europas am 25. April 1945 geboren und erneut Riccardo genannt. Ich verteidige kleine Heimaten stets mit sakrosankter Entschlossenheit.
Sabine Mayr: Herr Professor Goetz, 1899 zog Ihr Urgrossvater von Trebitsch (Třebíč, Mähren) nach Meran, wo er in der 1901 eröffneten Synagoge als Kantor auftrat. Ihr Vater versuchte 1945 der vernichteten, jüdischen Gemeinde wieder auf die Beine zu helfen und unterstützte viele Familien in ihrer verzweifelten Suche nach Vermissten.
Maurizio Goetz: Mein Vater, Walter Goetz, wurde am 23. Juli 1945 zum Kommissar der jüdischen Gemeinde in Meran ernannt. Unter seinen Aufgaben war auch die Wiederherstellung des jüdischen Sanatoriums, in dem Überlebende der Konzentrations- und Vernichtungslager behandelt und betreut wurden. Sabine und Joachim haben die Entstehungsgeschichte dieses jüdischen Wohltätigkeitsprojekts, das Meran in der jüdischen Welt international bekannt machte, ausführlich dargelegt. Der letzte Chefarzt des jüdischen Sanatoriums war Josef Kohn, der Franz Kafka während seines Aufenthalts in Meran behandelte. Mein Vater hat, so gut es ging, versucht, den von der Schoah zerrissenen Faden wiederaufzugreifen. In seiner Ansprache zur Wiedereröffnung des Sanatoriums erwähnte er, dass es notwendig gewesen sei, das einstige jüdische Sanatorium wiederherzustellen, um, im menschlich möglichen Rahmen, für das große Leid zu entschädigen, das in den vorangegangenen Jahren zugefügt worden war, und Überlebende zu retten, die noch gerettet werden konnten. „Es ist unsere Pflicht sie zu retten,“ betonte mein Vater damals in seiner Ansprache. Leider wurde das jüdische Sanatorium bald darauf geschlossen, wo es als ein Ort der kulturellen Begegnung und der historischen Erinnerung doch hätte erhalten bleiben sollen.
Das jüdische Sanatorium in Meran in den 1920er Jahren, S. Mayr, mit freundlicher Genehmigung.
Riccardo Calimani: Differenzen bereichern. Die jüdische Minderheit Italiens ist heute sehr klein und war immer klein. Im Jahr 1938 gab es ca. 40.000 Jüdinnen und Juden. Heute sind wir knapp 22.000. So gesehen bin ich erstaunt darüber, dass Sie, Herr Landeshauptmann, von Österreich eine Schutzfunktion beanspruchen, denn die grösste Garantie seid ihr Südtiroler selbst. Wenn ich in mein Urlaubsdomizil Oberolang fahre, nenne ich es Oberolang und nicht Valdaora. Wir müssen die Rechte der Minderheiten mit grösster Kraft stärken, in kultureller und psychologischer Hinsicht, denn Italien benötigt eine selbstbewusste, kulturelle Vielfalt, um weiterzukommen und einem gefährlichen Konformismus vorzubauen.
Arno Kompatscher: Kleine Heimaten könnten, wenn falsch aufgefasst, allerdings zu kleinen Nationalismen führen, die andere ausschliessen. In einer globalisierten Welt bildet die eigene Kultur ein wertvolles Gut, das gehütet werden will, aber es ist auch wichtig, andere nicht nur zu respektieren, sondern sich auch für sie zu interessieren. Das ist meine Vorstellung von Südtirol. Wir verbinden die Knödel der Tiroler Küche mit Spaghetti, bewahren Traditionelles, nutzen aber auch die Raffinesse der italienischen Küche. In unserem Grenzland gibt es Gletscher und Palmen. Schon Goethe bemerkte den italienischen Einfluss im südlichen Tirol, als er durchreiste. Wir sind ein Durchgangsland mit Brückenfunktion. Mir gefällt auch die Vorstellung eines Reissverschlusses, der Nord- und Südeuropa verbindet. Es ist wichtig, sich der eigenen Identität bewusst und selbstsicher zu sein, denn wenn sich eine Gruppe verletzlich und bedroht fühlt, riskiert sie, aggressiv oder radikal zu werden. Unsere von der italienischen Verfassung garantierte Autonomie ermöglicht uns eine solche Öffnung. Für Südtirol wünsche ich mir eine neue Form des „Patriotismus“, einen auf die Autonomie und das friedliche Zusammenleben gerichteten Patriotismus, der von der Möglichkeit, sich mit anderen Kulturen vertraut zu machen, grösstmöglichen Nutzen zieht. Einen Patriotismus, der den Kardinalgedanken des Statuts verteidigt, die Aufforderung nämlich, dass wir es noch besser machen könnten, dass wir Grenzen nicht mehr verschieben wollen, dass wir keine Kriege mehr führen wollen, sondern Lösungen suchen wollen, die allen ihre Rechte zusichern und insbesondere allen ermöglichen, diese schöne Möglichkeit des Austausches im besten Sinne für sich zu nutzen. Wenn wir zum Thema Meran zurückkehren, wissen wir, dass sich die Dinge in Südtirol damals anders entwickelt haben. Menschen wurden ermordet, nur weil sie als „anders“ gesehen wurden. Wir wissen, dass es keine „Rassen“ gibt, aber den Rassismus gibt es.
Riccardo Calimani: Ganz richtig. „Rassen“ gibt es nicht, dies ist längst erwiesen, aber der Rassismus existiert und wird auch von Ängsten und Schwächen geschürt.
Arno Kompatscher: Wenn wir ehrlich sind, müssen wir uns eingestehen, dass das Problem mit der gegenseitigen Akzeptanz in Südtirol bis heute noch nicht gelöst wurde. Im Mai 2017 gestand ich erstmals öffentlich ein, dass Südtiroler auch Täter waren und nicht nur Opfer zweier Diktaturen, wie man lange glauben machte, nämlich Opfer des Faschismus und bei der Option Opfer des Nationalsozialismus. Nein, unter den Südtirolern gab es auch Täter. Sicher gab es viele Südtiroler, die Schlimmes erleiden mussten, aber es gab auch Südtiroler, die am grössten Verbrechen der Menschheit beteiligt waren, mit derselben ideologischen Überzeugung wie viele andere auch. Dieser Aspekt muss noch genauer untersucht werden. Mein Geschichteprofessor im Bozner Realgymnasium, der Historiker Leopold Steurer, ist heute noch mein Mentor und Freund. Steurer lehrte uns auch die dunklen Seiten der Südtiroler Geschichte. Nach meiner Erklärung erstaunten mich die Reaktionen der Erleichterung darüber, dass ein Landeshauptmann endlich den Mut dazu hatte. Diese Reaktionen ließen in mir die Überzeugung reifen, dass es noch viel zu tun gibt, um unsere Geschichte endlich besser verstehen zu können. Die Problematik muss noch in allen ihren Aspekten genauer untersucht werden. Nach dem Zweiten Weltkrieg forderte man einen starken Zusammenhalt der deutschen Sprachgruppe, um gemeinsam das Recht auf die deutsche Sprache zu verteidigen. Silvius Magnago, den ich sehr schätze, weil er es schaffte Südtiroler davon zu überzeugen, auf Gewalt zu verzichten und den Weg der Diplomatie und Politik einzuschlagen, äußerte damals den Satz, zu dem er vielleicht auch gedrängt wurde: „Lei net rogln“, im Sinn von ‚Suchen wir keine Probleme, denn wir müssen geschlossen auftreten.‛ Nach dem Krieg sind jene, die unter der Option nationalsozialistische Propaganda betrieben hatten, langsam in die Vorzimmer der Politik zurückgekehrt, als ob nichts geschehen wäre. Aber so war es auch anderswo.
Sabine Mayr: Ein Tabu betrifft Häuser, die jüdischen Familien in Südtirol geraubt wurden. Joachim1 und ich haben unter anderem erforscht, dass das italienische Heer 1939 eine Villa der Familie Goetz erwarb, die vor einigen Jahren in Landesbesitz hätte übergehen sollen.
Maurizio Goetz: Mein Urgrossvater Leopold Götz und seine Söhne, mein Grossvater Moritz und dessen Bruder Hermann, führten in Meran ein Lebensmittelgeschäft, erwarben das Haus in der Meinhardstrasse 15 und 1929 eine danebenliegende Villa, die 1939 vom italienischen Heer enteignet wurde. Die Villa wurde als „definitiv besetzte Immobilie“ („occupazione definitiva degli immobili“) und als „Staatseigentum, Krieg“ eingetragen, wobei der Zusatz „Ramo Guerra“ 1953 aus dem Grundbuch gelöscht wurde. Als Gegenleistung war ein Betrag von 687.000 Lire festgelegt, der für „Dienstleistungen für das Heer auf Meraner Boden“ („lavori di sistemazione dei servizi militari in territorio del Comune di Merano“) vorgesehen war. Als mein Vater nach dem Krieg nach Meran zurückkehrte, klagte er, doch leider vergeblich, da die unter dem Faschismus Verantwortlichen am Gericht weiterhin das Sagen hatten und das damalige Unrecht nicht anerkannten. Nach so vielen Jahren gibt es nun keine Möglichkeit mehr, den „aus rassischen Gründen“ enteigneten Besitz zurückzuerhalten, ungeachtet der Tatsache, dass Sie, Herr Landeshauptmann, sich dafür eingesetzt haben, eine Lösung für den aufgedeckten Missbrauch zu finden, den sehr viele jüdische Familien erleiden mussten. Das Problem blieb ungelöst.
Sabine Mayr: Herr Professor Calimani, muss die Öffentlichkeit weiterhin auf historisches Unrecht aufmerksam gemacht werden, wie zum Beispiel darauf, dass Faschisten in Südtirol ab 1939 vollständig möblierte Villen zu Spottpreisen einkassierten, oder dass die klerikal-konservative Tiroler Presse jahrzehntelang hetzerische Verleumdungen über Juden verbreitete, um von Juden geforderte liberale Reformen aus dem Land zu verbannen.
Riccardo Calimani: Glauben Sie nicht, dies sei nur ein Problem Südtirols. Gaetano Azzariti, Justizminister und Präsident des Tribunale della razza, des faschistischen „Rassengerichts“, konnte sich seiner Vergangenheit unbemerkt entledigen. Als Freund Palmiro Togliattis wurde er 1957 Präsident des Verfassungsgerichtshofes, wo auch seine Büste stand. Erst nachdem Rabbiner Giuseppe Laras und ich einen offenen Brief an den Corriere della Sera geschrieben hatten, wurde uns vertraulich mitgeteilt, dass Azzaritis Büste zum Restaurieren abmontiert sei und nicht mehr zurückkomme.
Arno Kompatscher: Das nenne ich elegant gelöst.
Riccardo Calimani: Der PCI, Italiens kommunistische Partei, aber nicht nur sie, alle Parteien, vor allem die Democrazia Cristiana, fingen Personen auf, die sich im faschistischen Regime kompromittiert hatten. Es ist mir aber ein grosses Anliegen, zu unterstreichen, dass der Kampf um Freiheit und um eine Vielfalt von Identitäten auch dann schon gewonnen ist, wenn jemand zwei oder mehrere Sprachen spricht. Wir dürfen uns nicht an eine statische Identität klammern. Ich würde gerne fünf Sprachen sprechen, wenn es möglich wäre. Ich glaube, dies wäre eine Bereicherung für uns alle. Wir dürfen uns nicht an eine statische Identität klammern, doch leider werden solche Auseinandersetzungen nie aufhören, denn abwehrende Haltungen werden in irgendeiner Weise immer wieder aufstoßen, vor allem wenn Ängste im Spiel sind. Auch gegenwärtig dominiert wieder die Angst und dies verleitet Menschen zur Flucht nach vorne und zu unbedachten Handlungen.
In den 1920er Jahren baute Familie Götz das einstiges Pensionat um. 1939 wurde die Villa durch das italienische Heer enteignet. S. Mayr, mit freundlicher Genehmigung.
Arno Kompatscher: Ich teile Ihre Meinung. Es ist kein Zufall, dass wirtschaftliche Krisen den Faschismen des 20. Jahrhunderts zum Durchbruch verhalfen. Die Menschen waren besorgt, also musste ein Sündenbock gefunden werden, dem man die Schuld zuschieben konnte, denn das geht einfach. Nicht zum ersten Mal wurden in der europäischen Geschichte Juden als Sündenböcke präsentiert. Indem man sich auf weit hergeholte Legenden und Geschichtsinterpretationen stützte, die früher von den Kirchen, auch der katholischen Kirche, propagiert wurden, gab man Juden die Schuld. Dass im Zuge der COVID-Krise nun dieselben Logiken auftauchen, besorgt mich sehr. Ob nun behauptet wird, dass George Soros dahinterstecke oder sonst wer. Es handelt sich um denselben Vorgang der Schuldzuschreibung, wenn man jetzt zum Beispiel wieder von einem weltweiten Netzwerk spricht, in dem angeblich auch immer jüdische Bankiers eine Rolle spielen. Dieser Feindbildmechanismus funktioniert scheinbar noch immer: Wenn es eine Krise gibt, zieht man wieder alte Feindbilder hervor. Das erfüllt mich mit Sorge. Dafür sollte es keine Empfänglichkeit mehr geben, aber wenn wir an die Vorstellungen jener Menschen denken, die auf das Kapitol in Washington gestürmt sind, dann sind wir jedoch wiederum dort. Diese Vorstellungen sind faschistisch, ob jetzt nationalsozialistisch oder faschistisch, es geht um dieselben Logiken: Die weiße Rasse müsse verteidigt werden, da es einen Plan gebe sie zu gefährden, zu …, ich weiß nicht was. Wie sehr wurde Angela Merkel mit ihrem „Wir schaffen das“ in Deutschland attackiert? Es wurde behauptet, sie habe einen strategischen Plan verfolgt, um die Bevölkerung Deutschlands auszutauschen. Solche Sachen kamen ans Tageslicht. Das Problem ist aber, dass es nicht nur zwei, drei Verrückte unter Millionen sind, die solche Gedanken haben, wie man annehmen möchte. Leider ist es nicht so.
Riccardo Calimani: Und es wird auch nie so sein. Das ist ein Kampf, der nie aufhören wird.
Maurizio Goetz: Die Schoah hat nicht nur die jüdische Gemeinde in Meran dezimiert, sondern auch Hugo Bettauers Prophezeiung aus seinem Buch Die Stadt ohne Juden verwirklicht. Meran war die erste Stadt Italiens, in der nach dem 8. September 1943 Deportationen in die NS-Vernichtungslager organisiert wurden, auf Befehl des SS-Kommandanten Karl Brunner. Damals wurden alle noch in Meran lebenden Juden unter aktiver Mitwirkung einiger in den Südtiroler Ordnungsdienst (SOD) eingegliederter Meraner deportiert. Meran war dann jedoch auch der Ort, in dem das 1946 von meinem Vater wieder eröffnete, jüdische Sanatorium Hunderte von Überlebenden aufnahm und versorgte. Daher wäre es wichtig, an diesem Ort eine der Kultur gewidmete Einrichtung zu schaffen.
Riccardo Calimani: Wenn ich dazu meine bescheidene Meinung anbringen darf, so habt ihr in Südtirol großes Glück, dass es in einem Tal zum Beispiel eine mehr oder weniger homogene Bevölkerung gibt. Hier könnte man vielleicht das kulturelle Leben noch weiter fördern, indem man zum Beispiel Künstler aus dem Veneto oder aus Paris einlädt, um die europäische Atmosphäre weiter zu stärken. So könnte man zeigen, dass dies keine Schwäche, sondern eine Stärke ist.
Arno Kompatscher: Sich vernetzen und öffnen.
Sabine Mayr: Herr Landeshauptmann, Sie sind der erste Landeshauptmann Südtirols, der die Präsidentin Elisabetta Rossi und Vertreter der jüdischen Gemeinde am 27. Januar auf den jüdischen Friedhof begleitet und an weiteren Gedenkveranstaltungen, etwa des antifaschistischen Vereins ANPI, teilnimmt. Andererseits gibt es seitens der dominierenden Südtiroler Tageszeitung „Dolomiten“ seit mehr als einem Jahr auffallende Angriffe gegen Sie, die sich unter anderem auch darin zeigen, dass von Ihnen kein Foto abgedruckt wird, während Rechtsaußen-Positionen in der „Dolomiten“ durchaus berücksichtigt werden. Gibt es hier einen Zusammenhang?
Familie Götz lebte selbst in der Meinhardstraße 15, wo sich auch ihr Lebensmittelgeschäft befand. S. Mayr, mit freundlicher Genehmigung.
Arno Kompatscher: Ich denke nicht, dass die auf mich bezogenen Angriffe des Verlagshauses Athesia und der damit zusammenhängenden Presseprodukte, von denen wir wissen, dass sie in unserer Provinz die überwiegende Mehrheit aller Zeitungen ausmachen, damit zusammenhängen. Bei Letzterem handelt es sich schlicht und einfach um eine Machtfrage. Ich habe mir in der Handhabung meiner institutionellen Rolle ein autonomes Vorgehen vorbehalten, ohne die so genannten starken, lokalen Machtfaktoren mit einzubeziehen. Eine solche unabhängige und eigenständige Landesverwaltung ist in Südtirol ein bisschen eine Neuheit, da man sich früher damit abfand, mit dem lokalen Machtkonzentrationen auszukommen. Ich habe gleich von Anfang an gesagt, dass ich Äquidistanz und Objektivität wahren möchte, und wenn es zugegebenermaßen nie möglich ist wirklich objektiv zu sein, so kann man dennoch zumindest versuchen, die eigenen Entscheidungen auf einer objektiven Einschätzung fußen zu lassen und sich nicht auf ein Freund-Feind-Schema einzulassen, nach der zugrundeliegenden Vorstellung von Machtnähe oder einer Distanz zu mir. Diese Unabhängigkeit verursacht Ungemach, daher glaube ich nicht, dass es einen anderen Grund für die Haltung der „Dolomiten“ mir gegenüber gibt.
Darüber hinaus herrscht in Südtirol in einigen Bereichen immer noch eine Opferhaltung vor, jener konstruierte Mythos nämlich, dass wir stets nur und ausschließlich Opfer waren. Mit einer solchen Haltung kann die tiefere Einsicht in das, was wirklich geschehen ist, leicht vernachlässigt werden. Es gibt rund 350.000 deutschsprachige Südtiroler und Südtirolerinnen und zirka 20.000 Ladiner und Ladinerinnen. Sie definieren sich als sprachliche Minderheit und vernachlässigen die Erkenntnis dessen, was man selbst anderen Minderheiten angetan hat, als man in der Mehrheit war. Daraus ergibt sich die paradoxe Gefahr, dass man sich in einer Position der Mehrheit selbst schon wieder so verhält, als gäbe es keine Minderheiten, die respektiert werden müssten.
Im Zusammenhang mit der weiterhin aktuellen Problematik der Ortsnamengebung wurde beispielsweise vorgeschlagen, die vom Faschisten Ettore Tolomei erfundenen Namen zu streichen. Tolomeis Namen waren ein historischer Fehler, weil man die deutsche Kultur auslöschen und nationalisieren wollte, aber nach dem Krieg hatte niemand die Courage, die faschistischen Namen zu entfernen, wie im Aostatal erfolgte. Nun, nach hundert Jahren, sind viele dieser damals erfundenen Namen für Italiener mittlerweile ein Teil ihrer Vorstellung von Heimat geworden und können nicht ohne Weiteres entfernt werden. Angenommen, meine Muttersprache wäre Italienisch und ich würde mit meinem Großvater auf dem Ritten nach „Lichtenstern“ spazieren, nach dem Ort, den seit meiner Kindheit als „Stella“ kenne. Wie kann ich davon überzeugt werden, dass ich nun plötzlich nicht mehr „Stella“ sagen darf, sondern nur den Namen „Lichtenstern“? Weil vor hundert Jahren Unrecht geschehen ist, das jetzt korrigiert werden soll? Auf diese Weise entziehe ich nur der italienischsprachigen Gruppe ein Stück ihrer Heimat.
Daher habe ich als Lösung vorgeschlagen, von den 9.000 Neuerfindungen Tolomeis in einem symbolischen Akt jene erfundenen Namen zu entfernen, die heute nicht genutzt werden und vergessen sind. Viele der damals eingeführten Namen sind heute unbekannt. Das wäre ein symbolischer Akt, mit dem wir ausdrücken könnten, dass damals faschistisches Unrecht erfolgt war, dessen Auswirkung auf unsere Gegenwart heute neu ausgehandelt werden darf. Aber dafür fehlt es einigen anscheinend weiterhin an Mut. Stattdessen wurde vorgeschlagen, im Südtiroler Landtag (wo die deutsche Sprachgruppe die Mehrheit bildet) mit einem Mehrheitsbeschluss über die Toponomastik zu entscheiden — so, wie es einst die Faschisten gemacht hatten. Das Problem gibt es aber auch in anderen Bereichen, zum Beispiel im Falle einer versuchten Umbenennung der Amba-Alagi-Strasse in Bozen. Hier ist klar, dass eine Straße eines solchen Namens keine schöne Sache ist. Auch dies kann nicht im Bozner Gemeinderat mit einem Mehrheitsbeschluss umgesetzt werden, sondern es benötigt die Überzeugung der Menschen vor Ort, um mit einem — von möglichst vielen geteilten — Vorschlag die kompromittierten Namen zu ersetzen. Diese müssten erforscht und bekannt gemacht werden, denn es wird auch einige historisch bedenkliche, deutschsprachige Namen geben, um sodann andere Namen zu finden, unter denen hoffentlich auch endlich Frauennamen sein werden, an denen es in Südtirol leider mangelt.
Riccardo Calimani: Ich glaube, dass ihr den richtigen Weg einschlagt, wenn ihr künstliche Trennungen überwindet und eine gemeinsame gesellschaftliche Textur schafft.
Nadja Kompatscher: Herr Professor Calimani, darf ich Sie etwas fragen? Ich habe kürzlich ein kurzes Interview mit Stephan J. Kramer, dem jüdischen Präsidenten des Verfassungsschutzes in Thüringen gelesen, in dem er erklärt hat, dass er in Deutschland Angst habe. Fühlen Sie sich in Italien auch bedroht?
Riccardo Calimani: Gegenwärtig nicht, aber eines ist sicher: Dass vor allem alles möglich ist und dass es daher immer nötig ist wachsam zu bleiben und darauf zu achten, was vorgeht, denn was einmal passiert ist, könnte erneut geschehen, vielleicht auf eine etwas andere Weise, die aber nicht weniger gefährlich sein muss. Außerdem möchte ich noch ergänzen, dass ich selbst vielleicht keine Angst habe. Was mir aber Angst bereitet, sind die Zustände, mit denen viele arme Menschen, dem Schnee ausgesetzt, an der bosnischen Grenze fertig werden müssen. Was mir Angst macht, ist, dass es, abgesehen von der Situation der Juden, eine ähnliche Gefahr auch für viele andere Minderheiten gibt. Die Tatsache, dass das Mittelmeer zum Friedhof geworden ist, macht mir Angst. Europa kann sich nicht erlauben, egoistisch zu sein. Europa muss ein Land der Freiheit werden. Daher glaube ich, dass es wichtig ist Gespräche und Diskussionen zu fördern. Freiheit ist ein wunderbarer Lebensumstand, aber es ist auch nötig immerfort zu erklären, wie wunderbar, aber auch wie verletzlich unsere Freiheit ist. In Deutschland gibt es vermutlich viel schwerwiegendere, radikale Situationen als in Italien gerade. Ich muss sagen, dass ich die privilegierte Möglichkeit hatte, Bücher über das jüdische Leben schreiben zu können, ohne dass ich bedroht worden wäre.
Ich wurde als jüdischer Autor durchaus akzeptiert, doch vor wenigen Tagen wurde zum Beispiel das Museo nazionale dell’ebraismo italiano e della Shoah, kurz MEIS, in Ferrara bedroht. Von vielen wurde der Drohbrief verurteilt. Ich habe in einem Interview gesagt, dass es natürlich richtig sei, diese Tat zu verurteilen, dass man aber auch das Umfeld berücksichtigen müsse, in dem wir leben. Die Situation um uns herum ist von Angst und vielen Problemen geprägt, und dies ist der Nährboden, in dem Sorgen und Befürchtungen gedeihen. Besorgniserregend ist meiner Meinung nach die gravierende hygienisch-sanitäre Situation in Italien, eine bedrohliche Arbeitslosigkeit, sobald die Leistungen der Lohnausgleichskasse gekürzt werden, was dazu führen wird, dass die Schlangen, in denen Menschen um erschwingliches Essen anstehen, enorm anwachsen werden, was wiederum zu erheblichen sozialen Reaktionen führen wird, die eine ernst gemeinte Antwort verdienen würden. Abgesehen von der Unterstützung, die wir aus Europa erhalten, ist das Defizit des italienischen Staates enorm angewachsen, und dies wird nicht ohne Folgen bleiben. Alle machen sich für das Smart Working stark, doch die neu entstandenen Probleme sind für die gesamte Gesellschaft und ganz besonders für gesellschaftliche Minderheiten eine riesige Herausforderung. Ich habe daher keine Befürchtungen, was mich persönlich betrifft, sehe aber den großen, künftigen Aufgaben unserer gesamten Gesellschaft mit Sorge entgegen.
Sabine Mayr: Darf ich hier nur einen Aspekt hervorheben, der in den italienischen Medien vielleicht zu wenig erwähnt wird, nämlich den gesellschaftlichen Zusammenhalt, der sich im November des vergangenen Jahres zum Beispiel beim Massentest in Südtirol gezeigt hat. In einem gemischtsprachigen Viertel in Bozen erlebte ich zum Beispiel eine überaus freundliche und empathische Haltung seitens deutschsprachiger Angehöriger der Freiwilligen Feuerwehr gegenüber italienischsprachigen Testwilligen. Der engagierte Einsatz Freiwilliger in sehr vielen verschiedenen Bereichen der Südtiroler Gesellschaft – Frau Kompatscher arbeitet seit 25 Jahren auf freiwilliger Basis in der Bibliothek von Völs am Schlern – ist eine wichtige Kraft im sozialen Zusammenhalt des Landes.
Arno Kompatscher: Wir haben uns lange überlegt, wie wir unser Land am besten präsentieren können. Ich denke jetzt nicht an eine touristische Werbekampagne für Südtirol, die es ja gibt, sondern daran, wie wir unser Land am besten erklären können, unsere Geschichte, unsere Charakteristika, Vorzüge und Fehler – auch dies ist wichtig –, aber es hat sich leider gezeigt, dass es oft schwierig ist, Stereotypen zu überwinden. Dies hängt auch damit zusammen, dass sich das Interesse der Presse oft auf ein spezielles Thema konzentriert. Dies kann ein Südtiroler Schifahrer zum Beispiel sein oder ein erfolgreicher Tennisspieler, es kann aber auch auf Südtirol Brauchtum gerichtet sein, auf Trachten, Traditionen, einen berühmten Bildhauer aus Gröden, auf die Berge, auf Reinhold Messner, etc. Sehr oft begnügt man sich mit solchen Südtiroler Stereotypen. Es gibt zwar eine Vorstellung davon, dass wir deutsch sprechen, wobei die große Mehrheit der Italiener davon überzeugt ist, dass die Südtiroler Bevölkerung deutsch und nicht österreichisch sei. Nun sind wir hier nicht der Nabel der Welt, sondern ein relativ kleines Land, das ist schon klar, doch wäre es interessant das heutige moderne Leben in Südtirol erklären zu können, das nicht nur durch Lederhosen oder Tracht versinnbildlicht werden kann.
Allmählich ist es uns gelungen Wege zu finden, um dies zu kommunizieren, doch auch hier ist eine kontinuierliche Arbeit nötig. Es ist also schon journalistisches Interesse, wenn wir ehrlich sind und uns nicht als Phänomene ausstellen wollen, die immer alles richtig machen. Erst in den vergangenen Tagen hat sich wieder gezeigt, dass wir nicht immer in vorderster Reihe sind, als wir beim Impfen sehr schlecht gestartet sind, schlechter als alle anderen in Italien. Einige Dosen landeten sogar im Mülleimer. Das war erbärmlich. Wir sollten uns vielleicht weniger arrogant gebärden und nicht immer und überall die Besten sein wollen. Wir können aber dennoch das aufzeigen, was hier funktioniert und worüber wir auch stolz sein dürfen. Wir können auch als ein kleines Versuchslabor für ganz Italien gesehen werden, insofern als unser unterschiedlicher soziokultureller Kontext und unsere Autonomie erlauben, Abläufe, vielleicht sogar Gesetze „auszuprobieren“, die Inhalte betreffen, die sodann auch auf nationaler Ebene relevant sein können. Dies ist aber nur dann glaubwürdig, wenn wir uns selbst gegenüber ehrlich eingestehen, dass in anderen Bereichen hingegen noch eine große Wegstrecke zurückzulegen ist und dass wir weiterhin auch von den anderen lernen.
Ich muss sagen, dass es mir gelungen ist ein ausgezeichnetes Verhältnis zu den Präsidenten der nördlichen Regionen aufzubauen. Südtirol hat an den Konferenzen der nördlichen Länder und Regionen früher nie teilgenommen, mir war es aber ein Anliegen, hier Präsenz zu zeigen. Dadurch kam eine Zusammenarbeit mit der Region Emilia Romagna in der Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung zustande, wo uns die Emilia Romagna weit voraus ist. Mit dem Veneto arbeiten wir im Sektor der innovativen Energie, Beispiel Klimahaus, zusammen. Wenn Professor Calimani vorhin gesagt hat, dass wir uns noch öffnen könnten, in Richtung weiterer Regionen Italiens und in Richtung Europa, so muss ich sagen, dass wir logistisch in dieser Hinsicht gut aufgestellt sind, da wir uns genau dort befinden, wo man über den Brennerpass fährt, an der Nabelschnur, die Italien mit dem Rest Europas verbindet. Wir sind Grenzland und könnten als kulturelle Mediatoren fungieren, und es geht hierbei nicht nur um den sprachlichen Aspekt, sondern auch um die Vermittlung der italienischen Unternehmenskultur an europäische Unternehmen, die in Italien Fuß fassen möchten. Aber auch umgekehrt können wir italienischen Firmen helfen, die nach Österreich, Deutschland oder in andere Orte des deutschsprachigen Raums expandieren möchten. Wir können auch in diesem Sinn, der beides umfasst, Wirtschaft und Kultur, Vorteile aus unserer Zweisprachigkeit herausholen. Hier gibt es ein sehr großes Potential, das meiner Meinung nach derzeit noch nicht ausgeschöpft ist. Wir werden dies aber machen müssen, denn auch wir haben am Problem des Brain Drain zu arbeiten. Junge Südtiroler studieren in ganz Europa, und das ist auch gut so, sehr gut sogar, aber sie kommen nicht mehr zurück.
Riccardo Calimani: Dies geschieht aber in jeder Region, die aus Studiengründen verlassen wird. Aus Venedig sind sehr viele StudentInnen in die verschiedensten Städte Italiens oder Europas gezogen. Dieses Phänomen entzieht dem Herkunftsort allerdings Kapazitäten, trifft aber nicht nur auf euch zu.
Arno Kompatscher: Nein, es ist nicht nur unser Problem ist, aber wir haben eine relativ hohe Rate im Vergleich zu anderen Regionen Italiens. Ich weise aber auch immer darauf hin, dass es auch Fachkräfte gibt, die aus anderen Ländern nach Südtirol kommen. Es ist schön, dass junge Menschen aus Deutschland oder Spanien an der Universität in Bozen studieren und vielleicht auch hier bleiben, wenn sie hier einen Lebenspartner finden. Und das ist sehr schön, denn dann gibt es auch eine Art Austausch. Wenn noch mehr Studenten nach Südtirol zurückkommen würden, wäre es perfekt. Ich sage nicht, dass alle zurückkommen sollten, aber einige mehr wären schön, denn wir brauchen junge kreative und innovative Menschen, die die Welt kennen gelernt haben, denn dies zeichnet die Stärke eine Region aus.
Und ich glaube, wenn wir uns in dieser Hinsicht steigern könnten, würde das auch als Abschreckung gegen jene sozialpolitischen Phänomene helfen, die Sie vorhin beschrieben haben. Wenn es Arbeitslosigkeit und Angst gibt, dauert es nicht lange, ehe radikalisierte Haltungen Zulauf finden. Diese Vorstellungen scheinen ewig weiterzuleben, denn auch wenn wir geglaubt haben, dass sie nach der Schoah überwunden worden seien, so mussten wir erleben, dass dies nicht der Fall ist, als vor nicht allzu vielen Jahren in Ex-Jugoslawien ein Volk vernichtet werden sollte. Wir sehen es auch in anderen Ländern der Welt, aber eben auch in Europa. Daher glaube ich, dass es ein Heilmittel sein könnte, wenn wir alle europäischer würden.
Riccardo Calimani: Weltbürger. Wenn ich das, was in Washington vor wenigen Tagen passiert ist, jemandem vorher erzählt hätte, er hätte mich für verrückt erklärt. Das war jenseits jeden Vorstellungsvermögens, die Improvisierung, die Grobheit, die Gewalt. Man bleibt bestürzt zurück. Wenn wir uns umschauen, erkennen wir, wie wichtig es ist, kraftvoll Widerstand zu leisten und die eigenen Ziele zu verfolgen, und verstehen auch, dass dies auch in Zukunft getan werden müsse. Es ist ein endloser Prozess der Reifung, besonders wenn wir jetzt wieder sehen, welch große Angst herrscht. Die Pest des 14. Jahrhunderts, die ein Drittel der Bevölkerung Europas hinwegraffte, war schlimmer. Das soll uns jetzt nicht besänftigen, aber es kann uns zu verstehen gaben, dass das Leben und die Existenz immer in einem instabilen und schwierigen Gleichgewicht sind. Ihr lebt aber in einer außergewöhnlichen Gegend. Mit großer Freude und Begeisterung blicke ich auf den Kronplatz. Es ist eine wunderschöne Landschaft, nicht nur ästhetisch gesehen, sondern auch im Hinblick auf seine Traditionen.
Stolpersteine vor dem einstigen Haus der Familie Götz in der Meinhardstraße 15. S. Mayr, mit freundlicher Genehmigung.
Sabine Mayr: Frau Kompatscher, eine abschliessende Frage zur Rolle der Intellektuellen. Der Schriftsteller Claus Gatterer vermerkte in den 1980er Jahren, Südtirols Kulturschaffende würden sich zu wenig um die Verständigung zwischen der deutschen und der italienischen Kultur bemühen. Hat sich diese Situation Ihrer Meinung nach verbessert?
Nadja Kompatscher: Josef Zoderer ist Südtirols vielleicht bekanntester, lebender Autor. Sabine Gruber zeigt in ihrem Roman Stillbach oder die Sehnsucht historisches Bewusstsein und Feinfühligkeit, wenn sie vor dem Hintergrund der historischen Ereignisse des 20. Jahrhunderts die Erfahrungen Südtiroler Frauen darlegt, die nach Rom gezogen sind. Francesca Melandri und Marco Balzano sind zwar nicht aus der Provinz Bozen, schreiben aber in ihren Büchern Eva schläft und Ich bleibe hier über Südtirol. Bei Francesca Melandri habe ich zum ersten Mal in der italienischen Literatur die 1950er, 1960er und 1970er Jahre in Südtirol literarisch dargestellt gefunden, und das hat mich beeindruckt. Die bekannte Südtiroler Journalistin, Politikerin und Schriftstellerin Lilly Gruber schreibt in ihren Büchern Das Erbe und Der Sturm über ihre Familie. Zu erwähnen wären auch Sepp Mall und Konrad Rabensteiner. Sepp Mall wirft in seiner sehr schönen, poetischen Sprache einen sensiblen Blick auf die 1960er Jahre. Zuletzt hat mich das autobiografische Buch von Hubert Messner berührt. In meinem Alltag begleiten mich auch immer wieder Sätze der kritischen Prosa von N.C. Kaser.
Sabine Mayr: Vielleicht ist es in der Musik einfacher, wie uns zum Beispiel Herbert Pixner & The Italo Connection und viele andere Musikprojekte zeigen?
Das einstige jüdische Sanatorium heute in der Schillerstraße 12. S. Mayr, mit freundlicher Genehmigung.
Arno Kompatscher: Ja, denn Musik kann sich weltweit ausdrücken und fördert so auch die Wechselwirkung zwischen verschiedenen Kulturen. Was aber die Literatur betrifft, so gilt auch hier, dass wir in Südtirol auch in diesem Bereich mehr oder weniger immer noch zwei getrennte Welten haben, trotz der Tatsache, dass Intellektuelle zum größten Teil perfekt zweisprachig sind. Es gibt durchaus Interaktionen, im Tanz, in der Kunst. Das Museion hat in den vergangenen Jahren sehr interessante Impulse gesetzt, muss ich sagen, durch die Miteinbeziehung des kulturellen Hintergrunds und das Reflektieren des unterschiedlichen kulturellen Gepäcks der Akteure, sodass hier der Mehrwert unserer Provinz deutlich zum Ausdruck gekommen ist. Doch, was Gatterer sagt, stimmt. Wir könnten uns noch viel stärker als Übersetzer zwischen den Kulturen einbringen. Dieses Wandern zwischen den Welten hat Alexander Langer vielleicht am besten von allen bewerkstelligt. Das Schöne an einem Ort des kulturellen Kontakts, wo man zwischen den Kulturen hin- und herwechseln kann, hat er wirklich gelebt.
Maurizio Goetz: Der Roman von Hugo Bettauer endet mit einer kollektiven Erkenntnis und der Rückkehr zu einer Kultur der Öffnung, der Versöhnung und Begegnung. Die jüdische Gemeinde in Meran in ein kulturelles Projekt mit einzubeziehen, könnte internationale Energien mobilisieren und helfen, einen roten Faden zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu spannen, um in Meran jenes intellektuelle Klima neu erstehen zu lassen, das die Stadt einst unter die wichtigsten kulturellen Zentren Europas gereiht hatte.
Riccardo Calimani: Eine Sache ist sicher nötig: Mutig mit Schemata zu brechen und Neues kraftvoll aufzubauen.
Arno Kompatscher: Hier gibt es nichts mehr hinzuzufügen. Das ist ein schöner Schlusssatz.
Das Meraner Kurhaus, darüber die Mutspitze. S. Mayr, mit freundlicher Genehmigung.
Maurizio Goetz, Tourismusexperte in Mailand. S. Mayr, mit freundlicher Genehmigung.
Arno Kompatscher ist seit 2014 Landeshauptmann Südtirols. Von 2005 bis 2013 war Kompatscher Bürgermeister der Gemeinde Völs am Schlern. Er ist ein Politiker der Südtiroler Volkspartei. Nadja Kompatscher studierte in Innsbruck Geschichte und arbeitet seit 25 Jahren ehrenamtlich in der Bibliothek von Völs. Nadja und Arno Kompatscher sind seit 1995 verheiratet und haben sieben Kinder.
Der Schriftsteller, Historiker und Vizepräsident der jüdischen Gemeinde von Venedig Riccardo Calimani wurde durch seine zahlreichen Publikationen zur jüdischen Geschichte Italiens und Europas und seine Arbeit beim Fernsehsender RAI bekannt. Vor Kurzem erschienen eine neue Ausgabe seiner sozialgeschichtlichen Darstellung Gli ebrei e la Germania und ein Neudruck seines Romans Il mercante di Venezia. Riccardo Calimani lebt in Cannaregio, wo auch das Ghetto von Venedig liegt, dessen Geschichte er mit präziser Analyse dargelegt hat, und verbringt seine Ferien im Pustertal in Südtirol.
Maurizio Goetz ist der Enkel des Lebensmittelhändlers Moritz Götz, der um 1899 mit seiner Frau Emma Saphier nach Meran gekommen war, wo er koschere Einrichtungen versorgte. Die Familie war in Meran gut integriert und konnte im Zentrum der Stadt im Laufe der Zeit einen beträchtlichen Besitz erwerben. Am 16. September 1943 wurden Moritz und Emma Götz aus Meran deportiert.
1 Joachim Innerhofer, Direktor des Jüdischen Museums Meran. 2015 veröffentlichte er mit Sabine Mayr den Gedenkband „Mörderische Heimat. Verdrängte Lebensgeschichten jüdischer Familien in Bozen und Meran“ (Edition Raetia, Bozen, erschien 2017 in einer italienischen Ausgabe). 2019 brachte der Studienverlag von Sabine Mayr den Band „Von Heinrich Heine bis David Vogel. Das andere Meran aus jüdischer Perspektive“ heraus.