404: Not Found „Und solange man lebt, weiss man nicht, was noch geschehen kann“ Antal Szerb zum 100.Geburtstag David - Jüdische Kulturzeitschrift

Ausgabe

„Und solange man lebt, weiss man nicht, was noch geschehen kann“ Antal Szerb zum 100.Geburtstag

Tina Walzer

Antal Szerb gilt bis heute mit Fug und Recht als einer der wichtigsten ungarischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. Zu früh riss ihn sein tragisches Ende aus einer vielversprechenden Karriere. Kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs wurde er im ungarischen Zwangsarbeiterlager Balf ermordet.
 

Inhalt

Am 1. Mai 1901 wird Antal Szerb in Budapest geboren, in eine jener Familien hinein, die, anders als die Juden im Pressburger Ghetto oder den Esterházischen Judengemeinden Westungarns, nicht mehr orthodox und deutschorientiert sind, sondern säkular und hungarophil. Szerbs Vater Károly Szerb, ein Uhrenfabrikant, ist zum Katholizismus konvertiert, der Sohn wächst in einem bildungsbürgerlichen Umfeld auf und besucht das Piaristengymnasium seiner Heimatstadt. Nach der Matura verbringt er ein Jahr in Graz, um Klassische Philologie zu studieren. Mit dreiundzwanzig Jahren schliesst er seine Studien der Hungarologie, Germanistik und Anglistik an der Eötvös Loránd Universität Budapest mit einer Dissertation über den romantischen Autor Ferenc Kölcsei (1790-1838) ab und tritt eine klassische Bildungsreise nach Italien und Frankreich an. Wieder daheim, vermählt er sich 1925 mit Amália Iréne Lakner. Nach drei Jahren Ehe lässst sich das Paar scheiden, heiratet1932 erneut und trennt sich 1933 endgültig. 1938 knüpft Szerb schliesslich mit Klára Bálint den Bund des Lebens.

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Antal Szerb, 1930. Fotograf: unbekannt, gemeinfrei. Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Szerb_Antal.jpg, 26.02.2021.

Nach einem Jahr Lehrtätigkeit an der Széchenyi István Handelsakademie verbringt Szerb die Saison 1928/29 mit einem Stipendium in England, um 1929 nach Ungarn zurückzukehren, mittlerweile ein profilierter Gelehrter und Wissenschaftler der Literatur. Gerade die Zeit in England hat ihre Spuren hinterlassen, insbesondere die dortige Übersetzertätigkeit. Der Humor in den Werken von P.G.Wodehouse, den er so virtuos übertragen hat, mag ihn inspiriert haben, einen skurrilen Kriminalroman namens Die Pendragon Legende (1934), angesiedelt in einem Spukschloss in Wales, zu verfassen, in dem er mit gleich mehreren Genres der englischen Literatur spielt. Sein Held ist Ungar, Philosophie- und Literaturwissenschaftler und bietet sich wohlhabenden Familien als Privatgelehrter an. Er beginnt seinen Dienst in einem exzentrischen Haushalt; in der Folge liefert Szerb eine mehr als schrullige Interpretation des Mythenstoffes um König Arthus und dessen Vater Uther Pendragon1, garniert mit pseudonaturwissenschaftlichen Versuchen, Alchimisten und Rosenkreuzer-Verschwörungstheorien. Ebenfalls 1934 erscheint Szerbs profunde Geschichte der ungarischen Literatur; sie zählt für Generationen von Schülern in Ungarn seither zur Pflichtlektüre (mit Ausnahme der Jahre ab 1941, wo sie verboten wird).

Mit sechsunddreissig Jahren erlangt Szerb eine langersehnte Professur an der Universität Szeged und unterrichtet nun Literatur. Ebenfalls in diesem arbeitsreichen Jahr 1937 verfasst er seinen heute bekanntesten Roman, Reise im Mondlicht (Originaltitel: Utas és Holdvilág). Traumwandlerisch bewegt sich der Held der Geschichte durch ein idyllisches Italien, das ihm nichtsdestoweniger bedrohlich erscheint. Auf der Suche nach seiner eigenen Vergangenheit verstrickt er sich immer weiter in depressive Gedanken, ein Sog zieht ihn spiralförmig in die ungewissen Tiefen seiner Sehnsüchte. Nur die an ihn herangetragene Aufgabe, bei der Tauffeierlichkeit einer ihm zufällig begegnenden Familie die Rolle des Paten für den Säugling zu übernehmen, bringt ihn zurück ins Leben und in die Realität der Gegenwart. Gerettet wird er schliesslich durch das ruhige, entschlossene Auftreten seines aus Budapest angereisten Vaters, vor dessen Zorn er sich so gefürchtet hatte und der ihn, die Irrwege des Sohnes verzeihend, bei sich wieder aufnimmt. Autobiografische Bezüge zu Szerbs Studentenjahren, als er sich dem Barabás-Kreis junger katholisch geprägter Schriftsteller mit jüdischem Familienhintergrund ähnlich seinem eigenen anschloss, und seinem frühen Eheleben sind unverkennbar.

In der Folge schreibt Szerb noch seine atemberaubende Geschichte der Weltliteratur, erschienen 1941, mit der er das Werk des nach jahrelangem Leiden an Kehlkopfkrebs verstorbenen Nyugat-Autors Mihály Babits (1883-1941), Geschichte der europäischen Literatur (1941), fortsetzt. In der Sowjetzeit wird das Werk dann zensuriert und ohne Kapitel über die Literatur der Sowjetunion gedruckt beziehungsweise verbreitet. Szerbs an die tausend Seiten umfassende Darstellung führt den Leser ebenso pointiert wie unterhaltsam auf eine Reise durch die Gedankenwelten der Schriftsteller. Sein Erstes Kapitel, mit dem er sich gleich in die Tradition der Haskala (jüdischen Aufklärung) stellt, beginnt Szerb mit der Heiligen Schrift:
„Das Alte Testament, heisst es, sei nicht ein Buch, sondern eine ganze Literatur. Es ist so, als hätten die Griechen Homer, Platon, Sappho und zahlreiche kleinere Autoren, auch den spöttischen Lukian inbegriffen, in ein einziges Buch komprimiert. Wer die Literaturgeschichte des Alten Testaments erzählt, berichtet über neunhundert oder tausend Jahre in der Literatur des jüdischen Volkes, denn die ältesten Textteile, so auch die Zehn Gebote, entstanden nach den Gelehrten mehr als tausend Jahre v. Chr., das neueste Buch, Prediger Salomo, im ersten Jahrhundert.“2

Nur wenige Jahre nach Antritt seiner Universitätslehrtätigkeit, 1943, muss Szerb seinen Lehrstuhl in Szeged wieder räumen, nunmehr bereits als Jude diffamiert und verfolgt. In Budapest verrichtet er Zwangsarbeit – beim Be- und Entladen von Lastkähnen wird seine Arbeitskraft eingesetzt. Angesichts der prekären Situation, die, wie er weiss, ausser ihn noch tausende andere trifft, bekennt er sich zum Judentum, Angebote, ihm zur Flucht vor der Verfolgung ins rettende Ausland zu verhelfen, lehnt er allesamt ab. Während die Lage für ihn immer drückender wird, schreibt er seinen Roman Das Halsband der Königin (1943), in dem er über die Marie Antoinette untergeschobene Affaire um einen Juwelenraub sinniert. Szerbs letztes literarisches Werk, Oliver VII., kann 1943 als „jüdisches Schriftgut“ nicht mehr unter seinem richtigen Namen erscheinen; getarnt unter dem Pseudonym A.H.Redcliff kommt es als „ausländische Literatur“ auf den ungarischen Markt. Der Schlüsselroman zu Szerbs unmittelbarer Gegenwart dokumentiert in beklemmender Weise die schleichende Machtübernahme ungarischer Mitläufer der deutschen Nazis. 1944 wird der Autor zum Bau des Südostwalls (Panzersperren der Wehrmacht gegen die Rote Armee) zunächst ans südliche Ende des Neusiedlersees (ungar. Fertő tó) nach Fertőrákos, und von dort weiter ins KZ Balf deportiert. Am 27. Januar 1945 wird Antal Szerb, völlig geschwächt, von Aufsehern erschlagen. Damit endete das viel zu kurze Künstler- und Gelehrtenleben eines Intellektuellen, der uns in seinem schriftstellerischen Werk Sätze von schwebender Zeitlosigkeit hinterlassen hat: „Und solange man lebt, weiss man nicht, was noch geschehen kann.“ (És ha az ember él, akkor még mindig történhetik valami.“)3

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Grabstein für Antal Szerb auf dem neuen Kerepes-Friedhof an der Fiume-Strasse 16-18 in Budapest. Dorthin wurde sein Leichnam nach der Exhumierung aus einem Massengrab in Balf überführt. Foto: JanekOne, gemeinfrei. Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Szerb_Antal_s%C3%ADrja_a_Fiumei_úti_s%C3%ADrkertben_(2020-09-12_15.55.30).jpg, 26.02.2021.

1 Uther Pendragon, „oberster Anführer“; erstmals genannt bei Geoffroy de Monmouth in seiner pseudohistorischen Historia Regum Britanniae, um 1136.
2 Antal Szerb, Geschichte der Weltliteratur, Basel: Schwabe 2016, S. 126.
3 Schluss-Satz des Romans Reise im Mondlicht, Deutsch zitiert nach der Übersetzung von Christina Virágh in der Ausgabe des dtv Verlags München, 10. Auflage März 2005, S. 256.