Christoph Tepperberg
Thilo Schulz: Alfred Rothstein (1892 – 1960). Armut, Ausgrenzung, Überleben. Eine jüdische Biografie. Göttingen: Wallstein Verlag, 2022 (= Hamburgische Lebensbilder, Bd. 27, hrsg. von Sigrid Schambach im Auftrag des Vereins für Hamburgische Geschichte).
175 Seiten; 27 SW-Abbildungen; Hardcover mit Schutzumschlag.
Preis: Euro 18,50-; eBook: Euro 17,99,-
ISBN: 978-3-8353-5224-7; ISBN/EAN: 9783835384804
Rachel Rothstein, Gattin des Autors, wusste von einem alten Koffer, der sich im Keller der Wohnung ihres Vaters befand. Der Koffer enthielt zwar nur einige wenige Fotos und Dokumente ihrer Grosseltern, veranlasste Thilo Schulz jedoch zu eingehenden Forschungen, vor allem im Staatsarchiv Hamburg. Der Autor verband nun persönliche Motivation mit wissenschaftlichem Interesse. Es entstand eine kleine historische Studie, in der es gelang, die gesellschaftlich-biographische Mikroebene des Alfred Rothstein und seiner Familie in die allgemeine Verfolgungs- und Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten einzubetten (S. 7-9). Entsprechend enthält das Büchlein auch einen Anmerkungsapparat (S.134-155), dazu ein Verzeichnis der Abkürzungen (S. 157), Quellen und Literatur (S. 158-170), Bildnachweis ( S. 172) und ein Namensregister (S. 173-175).
Alfred Rothstein (1892–1960) stammte aus einer jüdischen Familie in Danzig (heute Gdańsk in Polen). Der gelernte Textilkaufmann liess sich während seines Wehrdienstes ab 1913 auch zum Militärmusiker ausbilden und diente im Ersten Weltkrieg (1914–1918). Nach dem Scheitern seiner ersten Ehe ging er – zu Beginn der Weltwirtschaftskrise 1929 – nach Hamburg, konnte dort aber beruflich nicht Fuss fassen. So lebte er, zusammen mit seiner zweiten Frau und dem Sohn Harry aus erster Ehe, in sozial prekären Verhältnissen. Die Lage verschärfte sich mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten. Bereits 1933 liess Alfred Rothstein seinen Sohn in ein Erziehungsheim einweisen, weil das Kind als »schwer erziehbar« galt. Dieser Harry Rothstein geriet in der Folge, als jüdischer »Mischling ersten Grades« drangsaliert und als »schwachsinnig« stigmatisiert, in die Mühlen der nationalsozialistischen Wohlfahrts- und »Erbgesundheitspolitik«. Harry wurde schliesslich nach Auschwitz deportiert, von wo er nicht zurückkehrte (S. 35-52).
Alfred Rothstein selbst hatte sich – obwohl »Volljude« – 1939 freiwillig zur Deutschen Wehrmacht gemeldet. Seinen Angaben, er sei »Mischling ersten Grades«, wurde zunächst geglaubt, und er nahm 1940 an vorderster Front am Frankreichfeldzug teil. Letztlich aber bewahrte ihn dies nicht vor Zwangsarbeit und schweren Misshandlungen im Ghetto Theresienstadt. Er überlebte, kehrte physisch und psychisch gebrochen nach Hamburg zurück, heiratete zum dritten Male und hatte mit seiner Ehefrau drei Kinder. Sein 1947 geborener Sohn wurde nach dem in Auschwitz ermordeten Harry benannt (S. 127).
Die Biografie und Familiengeschichte Rothstein weist einige Besonderheiten auf: Der Protagonist war Staatsbürger der freien Stadt Danzig, was ihm zunächst einige Vorteile brachte. Er gehörte zu den wenigen »Volljuden«, die nach Kriegsbeginn nachweislich in der Deutschen Wehrmacht dienten. Darüber hinaus waren die Rothsteins bedürftig und auf soziale Unterstützung angewiesen. Im Gegensatz zu anderen »Mischehen«, die überwiegend der Mittelschicht angehörten, leben die Rothsteins in wirtschaftlich prekären Verhältnissen, gehörten somit zur sozialen Unterschicht und die Familie war durch ihren verhaltensauffälligen Sohn, einen »schwachsinnigen jüdischen Mischling« zusätzlich exponiert. Zudem beging Alfred kleine Betrügereien, die verschiedentlich gerichtsanhängig wurden (S. 7-9, S. 129-133).
Zum Autor
Thilo Schulz, geb. 1968, studierte Geschichte, Anglistik und Erziehungswissenschaft an den Universitäten Freiburg im Breisgau, Trinity College Dublin und Hamburg, war wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bereich Neuere Geschichte und Zeitgeschichte der Universität Hamburg und wurde dort 1998 mit einer Dissertation über »Das Deutschlandbild der Irish Times 1933-1945« zum Dr. phil. promoviert. Er unterrichtet an einem Hamburger Gymnasium.