Ausgabe

Charles Abeles Überleben in Italien

Peter R. Koppitz

Unter den Geretteten im Safe Haven Oswego waren auch mehrere Österreicher. Einer von ihnen war der Pianist und Komponist Charles Abeles

Inhalt

Charles Abeles wurde am 15. August 1903 in Zürich geboren. Seine Mutter stammte aus Wien, der Vater, ein Kaufmann, aus Köpcsény in Ungarn (heute: Kittsee, Österreich). Charly wuchs in München und Marienbad auf und zeigte schon früh eine aussergewöhnliche musikalische Begabung. Daher verliess er das Gymnasium nach der Mittleren Reife und wechselte auf die Musikschule im nahegelegenen Petschau (heute Bečov nad Teplou, Tschechische Republik). Dort erhielt er neben seiner weiteren praktischen auch eine gründliche theoretische Ausbildung in Musik. 1920 starb sein Vater und kurz darauf, 1921, auch seine Mutter. Mit neunzehn Jahren war er nicht in der Lage, das elterliche Süsswarengeschäft fortzuführen. Als Korrepetitor am Marienbader Theater fand er ein klägliches Einkommen und sorgte zugleich für seine behinderte Schwester Alice und seinen zwei Jahre jüngeren Bruder Erwin. Da er 1921 nicht die tschechoslowakische Staatsangehörigkeit gewählt hatte, musste er 1923 mit seinen Geschwistern in die Nähe von Verwandten nach Wien ziehen. In diesen schlechten Zeiten schlug er sich als Unterhaltungsmusiker in Baden und in Wien durch. So lernte er stundenlang Klavier zu spielen, für Gäste, die oft nicht zuhörten und sich lauthals unterhielten. Er genoss es aber, andere in frohe Stimmung zu bringen. Sein Repertoire bestand aus Operettenschlagern, Walzern, Wienerliedern und eigenen Kompositionen. 

 

In Baden verliebte er sich in eine katholische Schneiderin aus Mödling. 1928 heirateten sie mit Dispens des Erzbischofs und lebten danach in Baden bei Wien. Mehr als ein möbliertes Zimmer konnten sie sich nicht leisten und waren doch fröhlich und glücklich. Allmählich hatte sich Charly einen beständigen Kundenkreis in den Gasthäusern der Kurstädte Baden und Bad Vöslau erworben und unterhielt dort die Gäste, oft auch mit einer kleinen Kapelle. Der Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich beendete all dies. Von einem Tag zum andern erhielt er keine Aufträge mehr und beim Pogrom im November 1938 wurde er, wie so viele andere Juden, in die sogenannte Schutzhaft genommen, verbrachte eine Woche in Wien im Gefängnis und kam dann ins Lager nach Dachau. Er hat von diesen Monaten später kaum gesprochen. Noch viele Jahre quälten ihn die Erinnerungen daran.

 

Im April 1939 wurde er aus Dachau entlassen. Seine Frau hatte das schier Unmögliche erreicht und für ihren besitzlosen Musiker-Ehemann ein italienisches Visum erhalten. Im Juli hatte er alle nötigen Papiere zur Ausreise beisammen und fuhr mit dem offiziellen Ziel Shanghai nach Mailand. Dort blieb er auch nach Ablauf seines Visums und wurde erst beim Eintritt Italiens in den Krieg im Juni 1940 verhaftet und, wie auch etwa fünftausend weitere ausländische Juden, in Süditalien interniert. Die ersten beiden Jahre verbrachte Charly mit etwa einhundert anderen in einer verwaisten landwirtschaftlichen Schule in Alberobello (Apulien). 1942 wurde er dann in das grösste der italienischen Konzentrationslager, nach Ferramonti di Tarsia in Kalabrien1 verlegt, wo er ein Lager kennenlernte, das sich weitgehend selbst verwaltete. Aber bereits im Frühjahr 1943 schickte man ihn nach Campagna, eine kleine Stadt südlich von Neapel. Die Musik hat ihn in allen Lagern vor dem Schlimmsten bewahrt. In Dachau hatte er für die Wachmannschaften spielen müssen, in Alberobello durfte er ausserhalb des Lagers Klavierunterricht geben; in Ferramonti nahm er an einem hochstehenden kulturellen Programm teil und in Campagna spielte er wahrscheinlich die Orgel in der Pfarrkirche. Hier wurde er im September 1943 befreit und versuchte, im damals chaotischen Neapel als Musiker Fuss zu fassen. Die Möglichkeit im Juli 1944 als einer von tausend anderen Entwurzelten in die U.S.A. zu entkommen, rettete ihn vor dem Verhungern.

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Charles Abeles etwa 1925. Foto: N.N. Archiv P. R. Koppitz, mit freundlicher Genehmigung.

 

Im August 1944 kamen diese Flüchtlinge in der Neuen Welt an und fanden in einem Internierungslager in Oswego im Staat New York, „Safe Haven“ genannt, zwar nicht die Freiheit, aber eine angemessene Versorgung für Leib und Seele. War Charly bei seiner Aufnahme im Lager noch „ziemlich niedergeschlagen und erschöpft”, so änderte sich sein Zustand sehr schnell, als man ihm die Möglichkeit gab, ein Musikprogramm für das Lager zu entwickeln und umzusetzen.
Er widmete sich dieser Aufgabe mit Begeisterung, gab Kindern und Jugendlichen Musikunterricht, gründete ein Orchester – das Ontario Orchestra – und schuf Diskussionsgruppen, die gemeinsam Musik hörten. Er begleitete Sänger und Solisten bei ihren Auftritten und spielte selbst bei allen Festivitäten im Lager ohne Ermüden bis tief in die Nacht. Nicht genug damit, komponierte er nun unermüdlich. Es entstanden Kompositionen zum Dank an den Kapitän, an Ruth Gruber, die die Flüchtlinge unermüdlich betreut hatte, und an den Leiter des Lagers. Die Operetten Des Königs Tochter, Ein Polterabend in Florida und The Golden Cage entstanden alle 1944 und wurden im Lager mit grossem Erfolg aufgeführt. Ausgebildete Musiker, Sänger, Ballett-Tänzer, alle stürzten sich auf die Möglichkeiten, die ihnen diese Aufführungen boten. Sie stärkten den Lebensmut aller Beteiligten und aller Zuschauer.

 

Nicht zuletzt gewann auch Charly selbst wieder Zuversicht und Lebensmut. Seine Frau hatte den Krieg in Mödling überlebt und zu ihr und nach Österreich kehrte er 1946 zurück. Aber wie den meisten Rückkehrern, so erging es auch ihm – die Gesellschaft wollte von den Emigranten nichts wissen. Seine früheren Kontakte fehlten und niemand interessierte sich für seine Kompositionen. Er schrieb eine weitere Operette, Die Dollarprinzessin, aber wo er sie auch einreichte, sie kam zurück. Zahlreiche seiner Kompositionen sind verschollen; er hatte sie anderen überlassen, die sie nicht zurückgaben. Und so schrieb er nichts mehr nieder, weil er davon überzeugt war, dass nur das, was er im Kopf hatte, ihm keiner stehlen könne. Mit einer kleinen Rente, mit Musikunterricht sowie der Beaufsichtigung von Kindern verdiente er sich seinen Lebensunterhalt. In den Genuss seiner Musik kamen nur noch Verwandte und Freunde. Am 17. April 1987 ist er in Brunn am Gebirge gestorben.

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Charles Abeles 1967. Archiv P. R. Koppitz, mit freundlicher Genehmigung.

An Oswego erinnerte sich Charly nur mit Freude; er hatte dort seine kreativste Zeit zugebracht und Erfolg und Anerkennung erlebt. Dort war er seinem Lebensziel, Menschen durch Musik glücklich zu machen, am nächsten gekommen. In Oswego erinnert man sich noch heute an ihn. In einer kleinen Gedenkstätte auf dem ehemaligen Gelände des Lagers wird des Schicksals der neunhundertzweiundachtzig Flüchtlinge und ihrer Zeit in Oswego gedacht.2 Das damalige Musikprogramm des Lagers wird vom Musikdepartment der dortigen Universität erforscht und im November 2022 kam die Operette The Golden Cage neu instrumentiert zur Wiederaufführung.3 

 

Auch in Italien hat man Charles Abeles nicht vergessen. Dort hatte er 1941 einer Familie zum Dank einen Walzer mit dem Titel Felicita gewidmet. Der italienische Musiker Francesco Lotoro hat ihn im Rahmen seines Projektes Kompositionen aus den Lagern des 2. Weltkriegs entdeckt und in seine Sammlung KZ-Musik aufgenommen.4 Im Mai dieses Jahres kam eine Fassung für Streicher durch Lotoro in Barletta zur Aufführung.5

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Kompositionen von Charles Abeles in Fort Ontario. Archiv P. R. Koppitz, mit freundlicher Genehmigung.

Anmerkungen

1 Vgl. dazu auch den Beitrag über das Lager in Ferramonti di Tarsia: Rudolf Stumberger, Die Flüchtlinge von Tarsia. In: DAVID Heft 120, Jg. 30, Pessach 5779/ April 2019, link: https://davidkultur.at/artikel/die-fluechtlinge-von-tarsia

2 https://www.safehavenmuseum.com/ [8.2.2023]

3 https://www.oswego.edu/news/story/lost-%E2%80%93-then-found-%E2%80%93-operetta-golden-cage-details-oswego%E2%80%99s-one-kind-refugee-center [8.2.2023]

4 KZ-Musik, CD 1, MC 2200, Associazone Musikstrasse, Rom 

5 https://www.fondazioneilmc.it/post/giornata-dell-umanesimo-musicale-il-9-maggio-appuntamento-a-barletta 

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Wiederaufführung der Operette „The Golden Cage“ im November 2022. Foto: „Safe Haven Holocaust Refugee Shelter Museum” in Oswego, U.S.A., mit freundlicher Genehmigung P. R. Koppitz.