Ausgabe

Imber und die „Ivria“ Was eine Wiener Studentenverbindung mit der „Hatikwah“ zu tun hat

Gregor Gatscher-Riedl 

Inhalt

Harald Seewann (Hg.): J.A.V. Ivria (1891–1938). Belege-Sammlung zur Chronik einer Wiener jüdisch-nationalen Studentenverbindung. Graz: Selbstverlag 2023.

Zahlr. Ill., A4 brosch., 524 Seiten, Euro 36,00.- (zzgl. Porto).  

Erhältlich beim Herausgeber unter: c.h.seewann@aon.at oder Prof. Harald Seewann, Resselgasse 26, 8020 Graz.

Die im Herbst 1882 erfolgte Gründung der Wiener „Kadimah“ bildete den Ausgangspunkt einer speziellen jüdisch-verbindungsstudentischen Lebensform, die bald an den Wiener Hochschulen und zahlreichen weiteren Bildungsstätten der Monarchie sowie darüber hinaus regen Zulauf erhielt. Die 1891 entstandene „Ivria“, neulateinisch für die „Hebräische“, widmete sich nicht allein der Sprachpflege und -wiederbelebung. Vielmehr ist ihre bis 1938 nachweisbare Tätigkeit untrennbar mit der Verbreitung der politischen Ideenwelt ihres Ehrenmitglieds Theodor Herzl verbunden, und zwar speziell im Herkunftsraum des Grossteils ihrer Mitglieder, den beiden Kronländern Mähren und Österreichisch-Schlesien, die auch von der zionistischen Organisation als geographische Einheit unter dem Kürzel „MS“ zusammengefasst waren. „Ivria“ konnte ihr zionistisches Engagement auch nach der Grenzziehung 1918 in der Ersten Tschechoslowakischen Republik fortsetzen. In Israel fanden die überlebenden Ivrianer als Altherrenrunde zusammen, ohne wieder eine studentische Aktivität entwickeln zu können. 

 

Ein bleibendes Verdienst der „Ivria“ ist die Popularisierung der „Hatikwah“, der Nationalhymne des von ihren Mitgliedern erträumten, erdachten und erstrittenen Staatswesens. Der Ivrianer Louis Poborski (1872–1939), singender Augenarzt und Sohn des Oberkantors von Teschen (Český Těšín, Tschechien), war auf das Lied nach einem Gedicht des galizischen Dichters Naftali Herzl Imber (1856–1909) aufmerksam geworden, das 1886 erstmals in Jerusalem im Druck erschienen und von einem Kolonisten aus Erez, David Schub, 1895 in einer Vertonung von Samuel Cohen nach Europa mitgebracht worden war. Auf einem Kommers der „Kadimah“ zu Ehren Herzls am 21. Oktober 1896 im Wiener „Ronacher“ trug er es mit einem Ensemble der „Ivria“ zur Klavierbegleitung vor… the rest is history. Kurz davor waren die Ivrianer als erste der Wiener jüdischen Verbindungen mit dem schwarz-gold-lichtblauen Burschenband auf der Universität erschienen – handgreifliche Reaktionen der etablierten deutschnationalen Studentenschaft mit eingeschlossen. 

 

Der Ivrianer Jakob Ehrlich, Rechtsanwalt, Funktionär der Wiener Kultusgemeinde und ab 1919 im Wiener Gemeinderat, wurde als erster Österreicher am 17. Mai 1938 im Lager Dachau ermordet. Sein Bundesbruder Ignaz Hermann Körner zeichnete als Mitgründer und Präsident des Sport-Klubs „Hakoah“ in den Jahren 1919–1928 für die grossen Erfolge und den Meistertitel der Fussballsektion verantwortlich. 

 

Wer die in den letzten Jahren erschienenen Quelleneditionen Harald Seewanns, der sich seit sechs Jahrzehnten mit der Geschichte der jüdischen-nationalen Studentenverbindungen beschäftigt und dessen publiziertes Werk mehrere tausend Seiten umfasst, kennt, weiss, dass auch in der nun erschienenen Veröffentlichung zur „Ivria“, deren Restarchiv in der Obhut des Herausgebers ist, die Gestalt einer längst vergangenen studentischen Gemeinschaft mit Präzision und Genauigkeit nachgezeichnet wird. 

 

Gerade in einer Zeit, in der die Zeitzeugenschaft und damit die Wiedergabe von selbst Erlebtem durch Kulturzeugnisse als Informationsträger abgelöst werden, ist Seewanns Werk, in das Interviews und teilweise sehr persönliche Korrespondenzen von Ivrianern eingewoben sind, von geradezu einzigartiger Bedeutung, da es eine Unmittelbarkeit erzeugt, die über die gewohnt minuziös und akribisch zusammengestellte Sammlung von Archivquellen und Presseberichten weit hinausgeht.