Die Marburger „Judengasse“ („Židovska ulica“)1 führt vom Hauptplatz Richtung Stadtmauer und zur Synagoge. Die einstöckigen Häuser in dieser Gasse, Nr. 3 und 5, charakteristisch mit zwei, höchstens drei Fenstern an der Vorderfront, werden auf die Zeit der zweiten und dritten baulichen Veränderung der Synagoge datiert.
Nach der Ausweisung der Juden kauften nichtjüdische Marburger Bürger – vermutlich auch das Ehepaar Druker – ein Haus und Liegenschaften von einem Juden namens Kain, Sohn des Gerl, zusätzlich zur Synagoge. Die beiden Häuser Judengasse 3 und 5 wurden im Zuge der Revitalisierung der Synagoge und des gesamten „Judenviertels“ zu einem einzigen Objekt zusammengefügt, das nur mehr durch seine Gabarite an das (aus alten Stadtansichten zu ermittelnde) Aussehen jüdischer Häuser erinnert. Auch im Haus Judengassse Nr. 8 stellten die Forscher fest, dass dessen Inneres aus zwei früheren Häusern mit einer für jüdische Familienwohnhäuser typischen Raumaufteilung zusammengefügt worden war. Jüdische Siedlungen sind zwar in allen Städten Sloweniens, vom Küstenland mit Piran, Izola oder Koper über Krain (Laibach/Ljubljana), das slowenische Radkerksburg/Radgon, Cilli/Celje, Pettau/Ptuj, Unterdrauburg/Dravograd sowie einigen kleineren Orten belegt, doch nur noch Funde von Grabsteinen bezeugen die Existenz von jüdischen Friedhöfen, damit auch jüdischen Gemeinden, in diesen heute slowenischen Städten. Das jüdische Görz, einst als „Jerusalem am Isonzo“ (Renato Podberšič) gerühmt, hatte seinen Sitz in der heute italienischen Stadt Gorizia, ist aber aus der slowenischen „Konkurrenz“-Stadt, hinter dem Burgberg von Görz und am linken Isonzo-Ufer, Nova Gorica, in einem kleinen Fussmarsch erreichbar. Ljubljana ist die einzige europäische Hauptstadt, die erst 2003 ein Bethaus erhalten hat. Die rund 130 Mitglieder der dortigen jüdischen Gemeinde werden von einem Rabbiner aus Triest betreut.
Juden im mittelalterlichen Marburg
Dokumentarisch belegt ist die Präsenz von Juden im mittelalterlichen Marburg nicht vor dem 14. Jahrhundert, denn ein Liegenschaftskauf eines Weinberges von einem Juden durch den Abt von Admont 1274 und 1296 gibt keinen Hinweis darauf, dass der vermittelnde Jude in Marburg ansässig war. Die ständige Niederlassung von Juden in der mittelalterlichen Stadt wird für die erste Hälfte des 14. Jahrhunderts angenommen. Dies legen auch eine Ernennung von Judenrichtern (vom Landesfürsten ernannte christliche „Funktionäre“, die Streitigkeiten zwischen Christen und Juden zu schlichten hatten), ab dem Jahre 1333 sowie die Existenz eines Judenfriedhofs im Ghetto bis zum Jahre 1354 nahe.
Židovski trg. Judenplatz in Maribor. Foto: Daniel Thornton. Quelle: wikimedia commons, gemeinfrei: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Maribor_-_Zidovski_Trg_(8640584144).jpg
Als bedeutender Vertreter der Judenschaft von Marburg gilt der Rabbiner Isserlein bar Petachja (1390-1460). Er wurde laut slowenischen Daten in Marburg, nicht in Regensburg geboren (wie andere Überlieferungen behaupten) geboren, kam dann aber nach dem frühen Tod seines Vaters als Jugendlicher nach Wiener Neustadt zu Rabbi Aharon Bluemlein2, ging nach Italien, dann für mehrere Jahre nach Marburg und kehrte 1445 nach Wiener Neustadt zurück, wo er 1460 starb. Eine seiner Cousinen heiratete den Marburger Rabbiner Juda Muerklein.3 Petachja gilt als einer der bedeutendsten jüdischen Gelehrten im zweiten Drittel des 15. Jahrhunderts in den österreichischen Ländern. Zu ihm pilgerten Schüler auch aus Böhmen, Mähren, Ungarn, Schlesien, Bayern und dem Rheinland. Er verfasste Auslegungen zum Talmud und zur Halacha, die seine Schüler posthum veröffentlichten. Ein in einer Schrift dieses Rabbi erwähnte Datum, das Jahr 1345, bedeutet einen wichtigen Beleg für das jüdische Marburg aus jüdischer Quelle: es nennt die Namen der Judenrichter in der Stadt. Zudem bot Petachja in seinen Schriften Einblicke in das mittelalterliche jüdische Leben in Marburg, die darauf schliessen lassen, dass die Stadt ein Zentrum jüdischen Lebens in den südlichen Ländern der Habsburger war. Die Synagoge selbst wurde in schriftlichen Quellen erstmals am 2. Jänner 1429 erwähnt: ein gewisser Issaher, Sohn eines Matthäus, sowie Abraham, Sohn eines Jakob, wandten sich im Zusammenhang mit Geldschulden an einen Gregor Schurff. Dieses Dokument wurde gezeichnet als „ausgestellt im Ort Marburg in der Synagoge (“in der stat Marpurg in der sinagog”). 4 Ein Dokument vom 4. November 1354 und ein Dokument von 14215 belegen ebenfalls die Existenz der Marburger Synagoge zu diesen Zeiten, weil nach dem Massaker an der Judenschaft von Wien ein Überlebender, Rabbi Anshel Marpurk, in die Stadt kam. Diese Quellenfunde motivierten die Stadt Maribor und das slowenische Denkmalamt zu Sondierungsgrabungen an der Stadtmauer (1984–1990). So entdeckten die Archäologen die Grundmauern einer der ältesten Synagogen Südosteuropas.
Spätere Spuren der aus Marburg vertriebenen Juden
Nach der Ausweisung der Juden aus Marburg zogen einige von ihnen nach Wien und Niederösterreich, in das ungarische Komitat Ödenburg (ungar. Sopron) sowie nach Mähren oder Polen. Vermutlich mehrere wählten jedoch Triest, Görz, Gradisca, Venedig und Padua; auf nachmals jugoslawischem Territorium war es die Stadt Spalato (heute: Split). Dort, wie in mehreren italienischen Städten – vor allem in Triest, Padua, sogar in Rom – benannten sich die Ausgewiesenen im Gedenken an ihre Herkunft nach „Marburg“, in der lokalen Dialektvariante „Morburg“. Dr. Vid Morpurgo (1838-1911) war der Ur-Urenkel von Moisė Morpurgo, dessen Familie sich nach der Vertreibung aus Marburg in Görz niedergelassen hatte. Seine Nachkommen heirateten in Familien in Dalmatien ein. Dr. Vid Morpurgo engagierte sich als Politiker in der Bewegung des nationalen Erwachens der Slawen und vertrat sie als Abgeordneter im Landtag von Dalmatien; zeitweilig übte er auch die Funktion des Rabbiners von Split aus. Sein Name ist mit dem Beginn des nationalsprachigen Verlagswesens in Split verbunden. Er gründete dort die erste Buchhandlung, die von seinen Nachkommen – Industriellen – weiterhin gepflegt wurde und erst im Jahre 1941 unter dem Druck der italienischen Besatzung Dalmatiens schliessen musste. Dr. Vid Morpurgo wurde auf dem jüdischen Friedhof in Split beerdigt. Seine Nachkommen profilierten sich als Mitbegründer einer Spirituosenfabrik. Sein Urenkel, Ing. Vid Morpurgo, blieb in der Erinnerung lebendig als „guter Geist“ der jüdischen Flüchtlinge, die sich ab 1941 aus dem ganzen, von Hitlerdeutschland zerschlagenen und besetzten Jugoslawien an die dalmatinische Küste retteten. Doch er wurde nach dem Abzug der Italiener aus Split (infolge der Kapitulation Italiens am 8. September 1943 und der deutschen Besetzung von Split am 27. September 1943) im Folgejahr mit den Juden von Split in das Lager Zemun/Semlin bei Belgrad, von dort weiter nach Auschwitz deportiert und dort ermordet. Dr. Mario Morpurger, ein naher Verwandter der Familie Morpurgo in Split, leitete 1941 das Büro der jüdischen Hilfsorganisation für jüdische Emigranten (Delegazione per l’ Assistenza degli Emigranti Ebrei, DELASSEM) in Triest, das jüdische Flüchtlinge aus Jugoslawien über Split nach Triest und in italienische Internierungslager schleuste, wo sie vor der Verfolgung bis zur Kapitulation am 8. September 1943 einigermassen sicher waren und danach den Schutz der Alliierten genossen.
Blick auf das bauliche Ensemble des Marburger Judenviertels. Pogled na nekdanjo mariborsko sinagogo z južne strani (Fotografija: Bojan Nedok, 2007, arhiv Centra judovske kulturne dediščine Sinagoga Maribor).
Marburger Erinnerungen
Im neuzeitlichen Marburg gab es seit dem Auszug der Juden aus der Stadt kein jüdisches Gemeindeleben mehr, obwohl im 19. Jahrhundert im Zuge der Industrialisierung, besonders aber nach dem Ersten Weltkrieg Juden aus dem gesamten Gebiet der untergegangenen Donaumonarchie, vor allem aus Ungarn und der Tschechoslowakei, in Industriellen- und Unternehmerkreisen dominierten. Als säkularisierte Juden und Mitglieder von Freimaurerlogen interessierten sie sich nicht für die Revitalisierung der mittelalterlichen Synagoge. Am 1. Dezember 1918 wurde die Untersteiermark mit Marburg Teil des Königreiches der Serben, Kroaten und Slowenen (SHS-Staat, seit 1929 Königreich Jugoslawien), König Peter I. Karađorđević von Serbien wurde auch zum Monarchen Sloweniens. Da die „Slowenisierung“ der Stadt forciert wurde, hatten schon während des Ersten Weltkrieges und unmittelbar danach unter dem Druck slowenisch-nationaler Kreise deutschsprachige Bewohner, unter ihnen auch Juden, die in der „Gründerzeit“ eher Deutsch als Slowenisch beherrschten, Marburg verlassen. 1910 wurden bei der Volkszählung 79 Prozent Deutsche und 14 Prozent Slowenen gezählt, bei der ersten Volkszählung im SHS-Staat 1921 waren 67 Prozent Slowenen und 21 Prozent Deutsche; bis 1931 war der Anteil der Slowenen auf 81 Prozent gestiegen, der Anteil der Deutschen auf 8 Prozent (rund 3.000 Personen) gesunken. Das slowenische Maribor erlebte nach der Bewältigung der Auswirkungen des Ersten Weltkrieges (Hungersnot und Spanische Grippe) eine rasante Entwicklung zur Industriestadt, zu der die noch dort lebenden jüdischen Mitbürger – die Familien Rosner, Ohrenstein/Obradović, Berger, Schacherl/Šaherl, Loebl/Larič, Hirsch, Kohnstein und Singer – beträchtlich beitrugen. Jüdischen Fabrikanten, vor allem aus der tschechoslowakischen Textilindustrie, aus chemischen und metallurgischen Unternehmen verdankte das damalige Maribor seine führende Position im jugoslawischen Wirtschaftsleben der Zwischenkriegszeit.
Maribor in der Shoah
Der Anschluss Österreichs und des Sudetenlandes 1938 sowie die Zerschlagung der Tschechoslowakei signalisierten jedoch eine drastische „Trendumkehr“ mit einer drastischen Verschlechterung des Status der in Jugoslawien lebenden Juden, denn Jugoslawien lehnte sich wirtschaftlich enger und enger an das Deutsche Reich an – im irrigen Glauben, beim Plan der „Neuordnung Europas“ eine gleichberechtigte Rolle spielen zu können, und in der Hoffnung, das Schicksal Österreichs und der Tschechoslowakei vermeiden zu können. Da Jugoslawien aber auch auf seine Beziehungen zu den Entente-Mächten (insbesondere zu Grossbritannien) Rücksicht nehmen wollte, waren jüdische Flüchtlinge aus den annektierten Ländern nicht mehr willkommen. Die Transitrouten nach Palästina auf dem Landweg wurden geschlossen und der Verkehr auf der Donau Richtung Schwarzes Meer und Türkei behindert. Jüdische Flüchtlinge aus den von den Deutschen annektierten Ländern mit Reiseziel Palästina wurden an den jugoslawischen Grenzen rigoros zurückgewiesen. Gerade deshalb wurde Marburg zum Stützpunkt der illegalen Einwanderung über die grüne Grenze bei Spielfeld und aus dem Burgenland. Schlepper aus den grenznahen Orten in der „Ostmark“ hatten Hochkonjunktur – einer der aktivsten war der Grazer Josef Schleich. Ein von Josef Schleich nach Jugoslawien geschmuggelter Alijah-Flüchtling, Robert Weiss, der mit Mutter, Tante und Cousine glücklich nach Maribor geschleust wurde und so ins Exil entkommen konnte, lebte noch bis 2011 in Florida und schilderte der Autorin seine Erfahrungen auf dieser Schmugglerroute von Graz via Spielfeld und Ehrenhausen über den Radlpass und dann auf einem als Bretterladung getarnten Pferdegespann hinunter ins Tal bis Maribor, im Winter 1941, knapp vor dem deutschen Angriff auf Jugoslawien. In Maribor wurden die Flüchtlinge von den jüdischen Bewohnern betreut. Der Textilfabrikant Marko Rosner war vom Palästina-Büro in Zagreb zum Koordinator der Betreuung ernannt worden; zusammen mit den tschechischen Fabrikantenfamilien Jurij Polak und Pavel Weiss errichtete er ein Beziehungsgeflecht aus Taxifahrern, Spediteuren und Ärzten; Bahnbeamte wirkten mit und ermöglichten abgeschobenen Flüchtlingen den Sprung aus den Zügen vor dem Erreichen der deutschen Grenzstation. Auch eine Gruppe von Alija-Mädchen aus Wien und aus deutschen Städten kam 1941 auf diesem Weg an die österreichische beziehungsweise deutsch-jugoslawische Grenze, wurde jedoch angesichts der jugoslawischen Grenzpolizei von ihren Schleppern im Stich und somit ihrem Schicksal überlassen. In diesem Fall war es der nichtjüdische Grenzpolizist Uroš Žunj, der sich der Mädchen erbarmte und die unmenschlichen Einreiseverbote für Jüdinnen und Juden übertrat. Er ignorierte die Dienstvorschrift, die die Abschiebung gebot und brachte die Mädchen mithilfe der Familie Rosner in ein Hotel in Maribor und von dort weiter in die Obhut der Jüdischen Gemeinde Zagreb. Der Kommunismus wusste dies nicht zu schätzen: Uroš Žunj ging zu den Partisanen, um sich gegen kommunistische Intrigen gegenüber seiner Person zu schützen und liess sich nach dem Krieg in Triest nieder – nicht mehr in seiner Heimatstadt. Jüdische Überlebende setzten durch, dass er zum Gerechten unter den Völkern erklärt wurde.
Flüchtlinge und Deportationen
In Maribor wurden alle Immigranten vom Marburger Textilfabrikanten Marko Rosner empfangen, der mangels einer organisierten jüdischen Gemeinde von HICEM in Zagreb mit der Aufnahme jüdischer Flüchtlinge betraut worden war. Jüdische Unternehmer, auch aus anderen slowenischen Orten, bildeten das Rückgrat der Unterstützungen, aber auch die slowenischen Einwohner der Stadt beteiligten sich. Robert Weiss und die Alijah-Mädchengruppe gelangten mit Hilfe des Marburger Hilfsnetzes bis nach Zagreb, und dank des Zagreber Palästinabüros mit seinem dortigen Aktivisten Josip „Josko“ Indig weiter in den italienischen Teil von Slowenien zum Jagdschloss Horjul. Drei Jugendliche aber mussten, damit die Rettung der Gruppe gelingen konnte, als „Geiseln“ für den Erhalt von Reisegenehmigungen durch die kroatische faschistische Ustascha zurückbleiben, um zum „Arbeitsdienst“ abgestellt werden: Sie wurden mit jüdischen und serbischen Opfern der Ustascha ermordet und in die Karsthöhlen des Velebit-Gebirges geworfen. In Horjul zwangen Partisanenangriffe die Gruppe zur weiteren Flucht, erst bis Modena, und dann bis zu einem piemontesischen Gut bei der Villa Emma. Die gesamte gerettete Gruppe wurde noch rechtzeitig vor der Besetzung Italiens durch die SS von Schleppern in die Schweiz gebracht, dort interniert und landete schliesslich, nach dieser Odyssee, in Palästina.6
Blick in die Judengasse (Židovski ulica) in Maribor. Foto Matic18. Quelle: Wikimedia commons, gemeinfrei: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Jewish_Street_in_Maribor.JPG
Die Untersteiermark musste nach dem Willen des „Führers“ „wieder deutsch werden“: Die slowenische Bevölkerung litt unter brutaler Diskriminierung und Disziplinierung, an der sich auch die zahlenmässig kleine, aber „mächtig“ gewordene deutsche Minderheit beteiligte. Marko Rosner und auch alle anderen jüdischen Unternehmer verloren ihre Unternehmen; einige konnten in den italienisch annektierten Teil Sloweniens fliehen, in die Provinz Laibach („Provincia di Lubiana“). Ihre Fabriken wurden enteignet und funktionierten als „deutsches Eigentum“ weiter. Der Kommunismus nach 1945 spielte Marko Rosner und anderen jüdischen Enteigneten dann noch übel mit: Sie wurden 1945 von jugoslawischen Militärgerichten als „Kollaborateure“ und „Volksfeinde“ zum Tod verurteilt – die meisten, wie Rosner, in Abwesenheit. Diese Rechtsbeugung wurde von der kommunistischen Herrschaft gegen jüdische Unternehmer und Kaufleute in ganz Jugoslawien angewendet, um deren Ansprüche auf die Restitution des enteigneten Vermögens oder auf Schadensersatz abzuwehren.
Marburg, neben Cilli (Celje) von den Nazis als „Hauptstützpunkt des deutschen Volkstums im Südosten“ propagiert, erlebte im Krieg einen demographischen Niedergang durch die Deportation der slowenischen Bevölkerung – die „unverbesserlich nationalistisch“ eingestuften Slowenen nach Kroatien und Serbien, die „eindeutschungsfähigen“ in die Lager der „Volksdeutschen Mittelstelle“ ins Reich, zwecks Verstärkung des deutschen Volkstums im Generalgouvernement, de facto der Umsiedlung nach Polen. Nur der Vormarsch der Roten Armee verhinderte diese Entwicklung. Die wenigen in Marburg verbliebenen Juden, die sich durch ihre zumeist deutschen Familiennamen geschützt geglaubt hatten, wurden gemeinsam mit den Slowenen und den Romi aus ländlichen Ortschaften nach Serbien „umgesiedelt“: Aber auch bei diesen Deportationen erwiesen sich manche slowenische Betroffene trotz ihres eigenen Leides als inhuman und unsolidarisch: sie weigerten sich, gemeinsam mit Juden und „Zigeunern“ in den gleichen Lastwägen transportiert zu werden. Juden und Romis aber holte die kroatische Ustascha in Kroatien dann aus den slowenischen Deportationstransporten und lieferte sie in ihr zentrales Konzentrationslager Jasenovac ein: zumindest die Roma wurden dort ausnahmslos ermordet.
Blick auf Maribor, Bildmitte rechts Synagoge und Judenturm. Foto: Janezdrilc, Quelle: Wikimedia commons, gemeinfrei: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Maribor_09.JPG
Marburg erlitt zwischen Herbst 1943 und dem 1. April 1945 neunundzwanzig Bombardements der Alliierten, die auf dem An- oder Rückflug auf die Industriezonen in Graz und Wiener Neustadt auch die um Marburg konzentrierte Schwerindustrie und die dort stationierten zentralen Servicestellen der Deutschen Bahn (ehemals Südbahn) zerstörten. Als Kollateralschäden blieben Schneisen in den Wohngebieten im Stadtzentrum, wie in vielen bombengeschädigten deutschen Städten, die nicht mehr bebaut wurden, sowie weite freie Plätze innerhalb der Wohnviertel. Sie bedeuteten keine grosszügige Raumordnung, sondern machten aus der Not eine Tugend: umfunktioniert zu unverhältnismässig breiten innerstädtischen Strassen sollten sie für Geschichtsbewusste zur Erinnerung an die Zerstörungen der Stadtinfrastruktur dienen.
Entwicklung der jüdischen Bevölkerung
Die offiziellen Statistiken für das erste Jahrzehnt des Millenniums (2002) wiesen in ganz Slowenien 28 ethnische Juden und 99 Angehörige des mosaischen Glaubensbekenntnisses aus. 400 bis 600 Personen sind entweder jüdischer Abstammung oder haben „einen jüdischen Hintergrund“. Während die Zahl der in Maribor und Umgebung wohnenden, sich als Juden und Jüdinnen deklarierenden Personen die Zahl Zehn nicht überschreitet, sind es in Ljubljana rund einhundertdreissig. Die heute nach Marburg gravitierenden Jüdinnen und Juden stammen von jenen ab, die sich nach der Vertreibung 1496/1497 auf ungarischen Adelsgütern im Übermur-Gebiet niedergelassen hatten. Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts entstanden nach dem Zuzug ungarischer und galizischer Juden jüdische Siedlungen mit Synagogen in Lendava, Murska Sobota und Beltinci.
Lendava
Murska Sobota wurde das religiöse Zentrum der Region, Lendava das bürgerlich-intellektuelle. 1866 wurde in Lendava eine kleine Synagoge errichtet. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, nachdem die dortigen jüdischen Einwohner von den Ungarn und ab 1944 von den Deutschen verfolgt und ermordet worden waren, diente diese Synagoge als Lagerhaus, wurde aber nach dem Jahre 2000 aufwendig renoviert. Der ehemalige Sakralbau beherbergt jetzt eine Dauerausstellung mit Judaica und bietet auch Wanderausstellungen und Konzerte. Der Friedhof, 1834 von der örtlichen Chewra Kadischa angelegt, wird von der Stadt mehr schlecht als recht erhalten. 1998 wurde der letzte jüdische Bewohner von Lendava, ein Holocaust-Überlebender, auf dem Areal bestattet. In der Mitte des Friedhofs erinnert ein Denkmal an die aus dem Übermur-Gebiet zumeist nach Auschwitz deportierten Jüdinnen und Juden – in Gestalt eines abgeschnittenen Baumstammes aus weissem Marmor.
Murska Sobota
Murska Sobota (ungar. Muraszombat) zählte bis zum Ende des 19. Jahrhunderts nahezu zweihundert jüdische Mitbürger, war Zentrum der Region „Übermur-Gebiet“, wirtschaftlicher sowie Verwaltungsmittelpunkt und hatte drei Synagogen. Das grösste, vom ungarischen Architekten und Synagogenexperten Lipót Baumhorn7 geplante Bauwerk überstand sogar den Zweiten Weltkrieg, nicht aber die „Fortschrittsideologie“ der Kommunisten. Die evangelische Gemeinde der Stadt wäre an der Erhaltung und Nutzung des Synagogengebäudes interessiert gewesen, dieses aber musste 1954 einem Wohnblock weichen. Dasselbe widerfuhr auch der ersten und ältesten Synagoge in Murska Sobota, die in einem Privathaus eingerichtet worden war: 1995 wurde das Haus abgetragen. Der Friedhof wurde zu einem Park „eingeebnet“, aber in dessen Mitte ein Denkmal für die ermordeten jüdischen Mitbürger, unter ihnen der letzte Rabbiner Dr. Lazar
Roth (1944 in Auschwitz ermordet) errichtet.
Besser erhaltene jüdische Grabsteine wurden zu einem Halbkreis angeordnet; da alle deutsche Inschriften tragen, können auch heutige Bewohner von Murska Sobota, denen die jüdische Geschichte der Stadt durchwegs kaum bekannt ist und die mehrheitlich der Evangelisch-Reformierten Kirche angehören, auf ehemalige Bewohner von Murska Sobota schliessen.
Anmerkungen
1 1315 erstmals in einem Dokument erwähnt.
2 Slowenischen Quellen zufolge sein Grossvater, laut Martha Keil sein Onkel.
3 Laut Dokumenten im Steiermärkischen Landesarchiv Graz.
4 Es befindet sich im Tiroler Landesarchiv in Innsbruck, Handschriftenbestand 264, Fol. 23v-24v.) Es handelt sich hierbei um ein Kopialbuch über Geschäftsbeziehungen der vor allem im Tiroler Unterinntal ansässigen Familie Schurff aus dem 16. Jahrhundert, deren Vorfahren schon in den Diensten Kaiser Maximilians I. sowie Erzherzog Sigmunds von Tirol standen. Aus dem Kopialbuch lassen sich Geschäftsverbindungen der Schurffs in der Steiermark im 15. Jahrhundert erschliessen (Mailantwort des Tiroler Landesarchivs an die Autorin, GZl. TLA-F-05/5155-2023 vom 19. Mai 2023).
5 Im Österreichischen Staatsarchiv Wien.
6 Die Kinder der Villa Emma, von Klaus Voigt bearbeitet, wurde 2016 vom österreichischen Regisseur Nikolaus Leyer verfilmt.
7 Baumhorn hat auch die Synagoge in Rijeka projektiert; vgl. DAVID Heft 125, Sommer 2020).
Nachlese (soweit nicht bereits weiter oben angeführt)
Brunner Walter, Josef Schleich– Fluchthelfer, Menschenfreund oder Opportunist und Nutzniesser fremder Not? Vortrag vor der Historischen Gesellschaft Steiermark. (Manuskript o. J.).
Hajdinjak Boris, Maribor in mariborski Judje 1938–1941 [Maribor und die Juden von Maribor)]. In: Vsako leto eno ime: Reševanje Judov 1938–1941 in slovenski pravičnik Uroš Žun. Znanstveno srečanje v okviru projekta Šoa-spominjajmo se ob mednarodnem devu spomina na žrtve holokavsta [Jedes Jahr ein Name: Die Lösung der Judenfrage 1938–1941 und der slowenische Gerechte unter den Völkern. Uroš Žun. Wissenschaftliches Symposion im Rahmen des Projektes Shoa – Treffen zum Internationalen Gedenktag an die Opfer des Holocaust]. Maribor, 26.1.2011, S. 1–3; hier S. 2. www.zss. si/ htm.
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Jelincic Klemen Boeta: Jews of Medieval »Slovenia« until the Expulsions of 1496–1515: file:///C:/Users/Korisnik/Downloads/906-Besedilo%20%C4%8Dlanka-3554-1-10-20200610%20(2).pdf (10.6.2020 – aufgerufen 15.2.2023) erschienen in Zgodovinski casopis [Zeitschrift für Geschichte], Jg. 63, Ljubljana 2009 . Hr. 1-2, Nr. 140), S. 288–317.
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