Vor der historischen Ghriba-Synagoge – der ältesten Nordafrikas – auf der tunesischen Insel Djerba wurde am 9. Mai 2023 ein Anschlag verübt. Fünf Menschen starben dabei.
Ein Wachmann richtete seine Dienstwaffe auf einen Polizisten, tötete ihn, riss dessen Munition an sich, eilte in Richtung Synagoge und eröffnete das Feuer auf dem Vorplatz, wo sich rund eintausend Pilgerinnen und Pilger aufhielten. Als sich unter der Menschenmenge Panik ausbreitete, schoss er wild um sich. Er tötete zwei Pilger, den 42-jährigen Benjamin Haddad aus Frankreich und seinen 30-jährigen Cousin Abdiel Haddad aus Tunesien sowie zwei Wachmänner. Zudem verletzte er mindestens zehn weitere Besucherinnen und Besucher der Synagoge sowie fünf der dort postierten Wachleute. Die Sicherheitskräfte erwiderten die Schüsse des Angreifers und töteten ihn. Nachher wurde bekannt, dass der Attentäter wegen seiner islamistischen Tendenzen von der Nationalgarde suspendiert worden war. Die nach der Revolution im Jahr 2011 regierenden Islamisten hatten insgesamt 150.000 Parteigänger in den Staatsdienst aufgenommen und damit den Beamtenapparat infiltriert.
Der Anschlag 2023 ereignete sich während der jährlichen Pilgerfahrt anlässlich von Lag baOmer zur Synagoge, an der jeweils Tausende von Gläubigen und interessierten Touristen teilnehmen. Während des Covid-Ausnahmezustandes waren die Feierlichkeiten ausgesetzt worden. Für israelische Staatsbürger, darunter alljährlich viele Israeli mit tunesischen Ursprüngen, gilt eine Ausnahmeregelung: Sie dürfen an der viertägigen Pilgerfahrt teilnehmen, obwohl Tunesien keine diplomatischen Beziehungen mit Israel unterhält.
Bereits am 11. April 2002 hatte sich ein Bombenanschlag durch al-Qaida auf die Ghriba-Synagoge ereignet. Durch die Detonation kamen vierzehn deutsche Besucher, zwei Franzosen und drei Tunesier ums Leben, mehr als 30 Personen wurden verletzt.
Und zu Simchat Tora 1985 waren bei einem Anschlag durch einen Polizisten in der Synagoge zwei Betende und ein Kind getötet worden.
Vor genau fünf Jahren nahm der Schreibende selbst an der Pilgerfahrt zur Ghriba-Synagoge teil – es war ein denkwürdiges Ereignis und die Sicherheitsmassnahmen waren umfassender und schärfer als alles, was ich je zuvor erlebt hatte; Israel eingeschlossen.
Die jüdische Gemeinschaft in Tunesien, deren Mitgliederzahl sich vor der Unabhängigkeit von Frankreich im Jahr 1956 auf rund 100.000 Personen belief, reduzierte sich wegen der Auswanderung nach Frankreich und Israel auf heute höchstens 1.800. Die Geschichte und Tradition der Juden auf Djerba – einst der grössten jüdischen Gemeinschaft Tunesiens – ist überaus reich und spannend. Allgemein ist heute beim Aufenthalt in Tunis grosse Sympathie und betonter Respekt vor den Juden zu verspüren – und offen geäussertes Bedauern, dass diese das Land verlassen hatten. Viele der Goldschmiede in der Medina von Tunis und vor allem auf Djerba sind noch heute Juden. Die immer noch sehr vitale jüdische Gemeinschaft auf Djerba, die mit 1.500 Menschen grösste Tunesiens, ist die zweitgrösste aktive Gemeinde der gesamten arabischen Welt. Von den früher zwanzig Synagogen und Jeshiwas auf der Insel sind die meisten inzwischen stillgelegt.
Postkarte, vor 1930. Quelle: Wikimedia commons, gemeinfrei: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Djerba_synagogue_interieur.JPG?uselang=fr
Die heutige Ghriba-Synagoge wurde im 19. Jahrhundert anstelle eines antiken Gebäudes aus dem 6. Jahrhundert im tunesisch-jüdischen Stil errichtet und 1920 sowie in den 1930er Jahren renoviert beziehungsweise umgebaut. Sie steht in einem der drei früheren jüdischen Dörfer, in Hara Seghira (heute: Er-Riadh), sieben Kilometer südwestlich von Houmt Souk, der Hauptstadt der Insel Djerba.
Tunesiens jüdische Minderheit blickt auf eine nahezu 3.000-jährige Tradition zurück: Die Juden sollen bereits im 10. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung mit den Phöniziern, die Karthago gründeten, ins heutige Tunesien gekommen sein. Nach der Legende sollen Hohepriester, Kohanim, nach der Zerstörung des Tempels in Jerusalem 586 vor unserer Zeitrechnung ein Fragment der Tore zum Tempel Salomons auf ihrer Flucht nach Djerba mitgenommen haben. Sie bewahrten das Holzfragment sorgsam als eine Art Reliquie in einer Höhle auf, über der später die Ghriba-Synagoge errichtet wurde. Das ist der Ursprung der jährlichen Pilgerfahrt.
Alle Abbildungen ausser oben li.: cer, mit freundlicher Genehmigung.