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Es ist schwer zu glauben: Antiochia, das heutige Antakya, im südöstlichen Zipfel der Türkei, 25 Kilometer westlich der syrischen Grenze gelegen, war einst mit mehr als 200.000 Einwohnern die drittgrösste Stadt im Römischen Reich.
Gegründet etwa 300 v. Chr. vom mazedonischen Feldherrn Seleukos und benannt nach dessen Vater Antiochos, geriet Antiochia in den darauffolgenden zwei Jahrtausenden von der Seleukidenherrschaft in den Besitz der Römer und dann abwechselnd in jenen der Armenier, Araber und Byzantiner, anschliessend der Seldschuken, der Kreuzfahrer und der Mamelucken. 1517 wurde die Stadt dem Osmanischen Reich einverleibt. Nach dessen Niederlage 1918 kam sie
unter französische Besatzung und schloss sich schliesslich 1939 mit einem Volksentscheid als Provinz Hatay und Stadt Antakya der Türkei an. Antiochia hatte im Mittelalter seine einstige Bedeutung verloren. Dazu trugen zwei schwere Verwüstungen massgeblich bei: ein starkes Erdbeben im Jahre 526 sowie 1268 die fast komplette Zerstörung durch die Mamelucken. Das multikulturelle Erbe der Stadt blieb jedoch bis in die Gegenwart erhalten. So liegen Kirche und Synagoge buchstäblich Tür an Tür, und eine der vielen Moscheen befindet sich ihnen direkt gegenüber. Aber seit dem 6. Februar 2023 gibt es in Antakya fast kein intaktes Bethaus mehr. An diesem Tag wurden im Abstand von rund neun Stunden zehn Provinzen der südöstlichen Türkei von zwei Erdstössen der Richterskala 7,6 und 7,7 schwer getroffen. Mit Blick auf Antakya twitterte der Ko-Präsident der Türkisch-Jüdischen Dachgemeinde Ishak Ibrahimzadeh die traurige Nachricht: „Eine Liebesbeziehung von 2.500 Jahren ist zu Ende.“
Noch heute sprechen sie untereinander Arabisch
Tatsächlich gab es eine jüdische Präsenz am Ufer des Grenzflusses Orontes, noch bevor Antiochia gegründet wurde. Diese Bevölkerungsgruppe ging in die Geschichte
Kleinasiens unter der Bezeichnung Romanioten ein; es handelte sich um Altgriechisch und Hebräisch sprechende Juden, die ursprünglich vom Heiligen Land ausgehend als Händler und Siedler nordwärts gezogen waren. Aber Seleukiden und Juden trieben nicht nur Handel, sie führten auch Krieg gegeneinander. So berichtet der Historiker Flavius Josephus in seinem Werk Jüdischer Krieg, dass im Jahre 164 v. Chr.
Judas Makkabäus nach seinem Sieg über den seleukidischen
Herrscher Antiochus IV. Epiphanes Jerusalem befreite und den entweihten Zweiten Tempel wieder eroberte. Dies ist als Auftakt zur Chanukka-Geschichte bekannt. Auch der Talmud berichtet von einer jüdischen Bevölkerung in Antiochia, die im ersten und zweiten Jahrhundert unserer Zeitrechnung von den Religionsgelehrten Rabbi Akiva, Rabbi Eliezer und Rabbi Yehoshua besucht wurde. Später änderte sich das Bevölkerungsprofil nach und nach: Mit der ständigen Zuwanderung mizrahischer („östlicher”) Juden wurden Sitten und Gebräuche vom griechischen an den arabischen Lebensraum angepasst – noch heute sprechen die Juden von Antalya Arabisch untereinander.
Bis zu 400 Jahre alte Thora-Rollen
Von „heute“ kann leider kaum mehr die Rede sein. Das Erdbeben vom 6. Februar 2023, das stärkste der türkischen Republik in ihrem hundertjährigen Bestehen, hat sowohl die Wohnungen der zwölf noch in Antakya verbliebenen türkischen Juden als auch deren einhundertdreissig Jahre alte Synagoge zerstört. Schlimmer noch: Der Gemeindepräsident Saul Cenudioglu und seine Frau Fortuna wurden drei Tage nach der Katastrophe tot aus den Trümmern ihrer Wohnung geborgen. Die Istanbuler Kultusgemeinde war sofort nach dem Beben aktiv geworden; der Ko-Präsident, ein Rabbiner und fünf weitere Mitglieder trafen bereits am ersten Abend nach der Katastrophe und damit lange vor staatlichen Kräften ein, um Suchaktionen in Gang zu setzen und die noch verbliebenen Juden aus Antakya zu evakuieren. Diese zehn Personen sind jetzt bei ihren Istanbuler Familien oder in Heimen der Gemeinde unter-
gebracht. Die bis zu vierhundert Jahre
alten Thora-Rollen
wurden aus der schwer beschädigten
Synagoge geborgen und in das Bethaus
der ebenso ver-
schwindend kleinen Gemeinde in Adana gebracht.
Die Bergung der Thora-Rollen aus der zerstörten Synagoge von Antakya durch Rabbi M. Chitrik.
Bald wird sich kaum einer mehr erinnern
Aber warum gab es zuletzt nur noch so wenige Juden in Antiochia? Für eine Erklärung muss man in der Geschichte der türkischen Juden zurückblicken. Anfang des 20. Jahrhunderts betrug die Anzahl der Juden auf dem Gebiet der heutigen Türkei weit mehr als 100.000. Mit zunehmenden (aber nur zu Teilen rein antisemitischen) Ausschreitungen gegen die nichtmuslimische Bevölkerung seit den Dreissigerjahren, der Staatsgründung Israels und der negativen wirtschaftlichen Entwicklung der vergangenen Jahre verliessen viele Juden das Land; heute leben in der Türkei nicht mehr als 15.000 Juden und von ihnen mehr als 90 Prozent in Istanbul. Diese Entwicklung spiegelt sich in der Entwicklung der jüdischen Bevölkerung von Antakya wider: Vor allem die Jüngeren sind seit den Siebzigerjahren nach Istanbul umgezogen, aber auch ins Ausland, unter anderem nach Israel. Noch vor neun Jahren meinte der Gemeindepräsident Cenudioglu in einem Gespräch mit dem U.S.-jüdischen
Magazin Forward, in fünfzehn bis zwanzig Jahren werde man in Antakya fragen: „Wisst Ihr, dass hier seinerzeit auch Juden gewohnt haben?“
Der ehemalige Jüdische Gemeindepräsident von Antakya, Herr Saul Cenudioglu, in der Synagoge.
Die Stadt als „Treffpunkt dreier Religionen“
Cenudioglu, geboren 1941 und seit 2001 Gemeindepräsident, erinnert sich an seine Kinderjahre, als noch regelmässige Beziehungen zur Grossgemeinde in Damaskus bestanden. Es gab Zeiten, in denen in Antakya etwa fünfhundert Juden lebten und es zu den religiösen Feiertagen schwer war, in der Synagoge einen Platz zu ergattern. Diese war ein prächtiger Holzbau mit dem Thora-Schrein, der nicht – wie in Europa üblich – gen Osten gerichtet war, sondern zum Süden hin, weil die Stadt ja nördlich von Jerusalem liegt. Die Juden waren grösstenteils Textilhändler mit kleineren Geschäften im örtlichen Basar und vertrugen sich ausgezeichnet mit der übrigen Bevölkerung. Auch mit der lokalen Stadtverwaltung bestanden sehr gute Beziehungen – zu manchen Zeiten sogar bessere als mit der Dachgemeinde in Istanbul – vor allem, weil sich die Bürgermeister Antakyas mit ihrer Stadt als „Treffpunkt dreier Religionen“ profilieren wollten, was auch den Tourismus dorthin massgeblich förderte.
Ein Ehepaar wollte trotz allem bleiben
In den vergangenen Jahren erlebten die Beziehungen zwischen den Juden von Istanbul und Antakya jedoch eine Blütezeit: mit ständigen Gruppenreisen Istanbuler Gemeindemitglieder in den Südosten des Landes und regelmässigen Entsendungen von Rabbinern zu den hohen jüdischen
Feiertagen in diese kleine, schmucke Synagoge. Während
seiner Reise zu den „Ursprüngen der Juden in der Türkei“, die der Istanbuler aschkenasische Rabbiner Mendy Chitrik im Sommer 2021 unternahm, besuchte er auch das Bethaus von Antakya und führte mehrere Gespräche mit den noch ver-
bliebenen, allesamt über sechzig Jahre alten zwölf jüdischen Gemeindemitgliedern. Diese dort noch wohnhaften älteren Herrschaften dachten nicht im Entferntesten daran, ihre
Heimat zu verlassen – auch wenn sie Kinder und Kindes-
kinder in Istanbul oder Israel hatten. In der vergangenen Woche
wurden sie notgedrungen evakuiert. Ein Ehepaar wollte trotz allem weiter in Antakya verbleiben – aber Rabbi Chitrik, der auch die Thora-Rollen nach Adana brachte, sagte im Gespräch:
„Das konnten wir auf keinen Fall zulassen. Ohne elektrischen Strom, ohne fliessendes Wasser und in einer halb demolierten Wohnung ist ein Aushalten selbst unter den edelsten Vorsätzen nicht möglich.“
Mit freundlicher Genehmigung der Frankfurter Allgemeinen Zeitung:
Dieser Artikel von Dr. Robert Schild nach dem Erdbeben in der südöstlichen Türkei vom 6. Februar 2023 ist erstmals erschienen in der FAZ vom 13. Februar 2023.
Für die Fotos danken wir der Jüdischen Gemeinde Istanbul.