Ausgabe

New York mit russischem Migrationshintergrund Helen Levitt, Richard Avedon, Diane Arbus Berühmte Fotografen in Amerika und Europa, Teil I

Tina Walzer

Drei Künstlerpersönlichkeiten, drei Blickwinkel, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten, auf ein und dieselbe Welt – russische Juden in Amerika.

Inhalt

Helen Levitt wurde in Brooklyn, New York am 31. August 1913 geboren. Die Familien des Vaters Sam Levitt und auch der Mutter May geborene Kane waren aus Russland in die U.S.A. emigriert. Entscheidend für Levitts Leben wurde ihre Begegnung mit dem bewunderten, charismatischen Mitbegründer der Fotografenagentur Magnum, Henry
Cartier-Bresson
(1908–2004). Ihre erste Leica Kamera konnte sie sich 1936 kaufen; mit ihren Werken eröffnete das Museum of Modern Art in New York bereits drei Jahre darauf eine Fotoabteilung. Motive wählte die Künstlerin gemäss Cartier-Bressons Prinzip des Kunstwerks als poetischem Zufall; zugleich wird auch in ihrem filmischen Werk die französische Filmtradition des Poetischen Realismus spürbar. Zwischen 1938 und 1939 arbeitete Levitt als Assistentin von Walker Evans (1903–1975), der sich stark mit der Russischen Avantgarde auseinandersetzte, und ab 1941 als Filmeditorin für den spanisch-mexikanischen Filmregisseur des Surréalismus, Luis Buñuel (1900–1983).1

Berühmtheit erlangten Levitts Bilder aus den 1930er und 40er Jahren von Kindern, die auf der Strasse spielen, im Garment District, in der jüdisch geprägten Lower Eastside und in Manhattans Armenviertel East Harlem, wo vor allem Schwarze und Hispanos lebten. 

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Helen Levitt Retrospektive Albertina Wien, 2018/19, Ausstellungskatalog.

Levitt wählte ihre Motive mit einem empathischen Auge für die Kinder. Vor dem Hintergrund gesetzlicher Anstrengungen, Unterschichten aus dem öffentlichen Raum zu verdrängen beziehungsweise sie auf bestimmte, stark eingegrenzte Räume zu beschränken, um sie stärker kontrollieren zu können, bekommen Levitts Fotografien ein dezidiert sozialpolitisches Gewicht. Bei ihr wird die Strasse mit den dort spielenden Kindern zum ferne imaginierten Stedtl, einem volkstümlichen, fröhlichen Theater, wohingegen im Hintergrund die Armut deutlich erkennbar dargestellt ist; quasi en passant betont die Künstlerin so den harschen Gegensatz zwischen den zerfallenden Gebäuden und der Lebensfreude der abgebildeten Personen. 

 

In ihrer nächsten Schaffensphase widmete sich Levitt fünfundzwanzig Jahre lang der Arbeit an Dokumentarfilmen und erreichte damit eine Oscar-Nominierung. Zeit ihres Lebens arbeitete sie sehr zurückgezogen, mied die Öffentlichkeit und starb im Alter von 95 Jahren am 29. März 2009 in ihrer Heimatstadt. Die Kunstgeschichte bezeichnet sie gerne als Fotografin für Fotografen, die es für ein breites Publikum erst noch zu entdecken gilt.

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Richard Avedon, 2004. Quelle: blaze6t9, Wikimedia commons, gemeinfrei: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Richard_Avedon.jpg

 

Richard Avedon kam am 15. Mai 1923 in New York City als Sohn der russisch-jüdischen Immigranten Jacob Israel und Anna Avedon auf die Welt. Die Eltern besassen ein Kleiderhaus an der 5th Avenue, Manhattans Upper Class-Einkaufsmeile. Avedons Interesse an der Fotografie, das sich aus seinem familiären Umfeld ergab und bereits in der Jugend zeigte, wurde von den Eltern sehr gefördert und durch Berufserfahrung in der Modefotografie gestützt. Avedon arbeitete für berühmte Journale wie Harper’s Bazaar, Vogue und Elle, aber auch direkt mit Modedesignern zusammen wie Dior, Versace oder Calvin Klein. Bereits sehr früh wurde seine berufliche Karriere unter dem Titel Funny Face im Jahr 1957 als Musical verfilmt – in den Hauptrollen sind Audrey Hepburn und Fred Astaire zu sehen. Die Musikstücke dazu wurden aus dem gleichnamigen Broadway-Musical der Brüder George und Ira Gershwin von 1927 übernommen (wiewohl zwischen den beiden Werken inhaltlich keinerlei Übereinstimmung besteht). 

 

Die Beschäftigung mit den Models weckte Avedons Interesse an der Persönlichkeit der Abgebildeten, die sich hinter der modischen Fassade verbarg. Zunehmend suchte er mit der Kameralinse nicht nur die Schönheit, sondern gleichermassen jene Abgründe der menschlichen Psyche festzuhalten, die auch seinen Portraits berühmter Persönlichkeiten wie Buster Keaton, Marilyn Monroe oder Andy Warhol einen eigenwilligen Charakter verleihen. Aufträge aus der Welt der Popkultur folgten, so arbeitete er 1967 mit den Beatles, 1973 dann mit dem Electric Light Orchestra (ELO)

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 Filmplakat Funny Face, 1957. Quelle: Wikimedia commons, gemeinfrei: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Funny_Face_(1957_poster).jpg

Erste Schritte in die kritische-analytische Richtung hatte Avedon bereits in einem 1964 erschienenen Buch gemacht, das er gemeinsam mit seinem Schulkollegen, dem Schriftsteller James Baldwin (1924–1987) aus Fotos und Essays über den Alltag der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung, über lokale Kulturikonen, aber auch die Insassen einer Irrenanstalt zusammengestellt hatte, in einem Versuch, die Befindlichkeiten der amerikanischen Öffentlichkeit jener Zeit auf den Punkt zu bringen. Aus der Zeit seiner Ausbildung an der berühmten New School for Social Research in Greenwich Village, New York beim russischen Fotografen und Designer Alexey Brodovitch (1898–1971) stammte auch Avedons Bekanntschaft mit Helen Levitt und Diane Arbus. 

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Filmplakat für den Film The Prince and the Showgirl mit Marilyn Monroe, fotografiert von Richard Avedon, Design Bill Gold, 1957. Quelle: Wikimedia commons, gemeinfrei: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Prince_and_the_showgirl.jpg

Nachdem ernste gesundheitliche Probleme eine längere Ruhephase des Fotografen erzwungen hatten, widmete sich Avedon seinem rückblickend wohl wichtigsten Werk, dem Western Project, in dem er Minenarbeiter, Hausfrauen oder Bauern in ihrem Arbeitsalltag des amerikanischen Westens portraitierte, bei Rodeo-Arenen, auf Ölfeldern und in Schlachthäusern. In ihrer Ästhetik erinnern die Aufnahmen stark an Robert
Capas
Bilder aus der Sowjetunion. Richard Avedon starb am 1. Oktober 2004 in San Antonio, Texas. Sein Enkel Michael Avedon ist heute ebenfalls ein erfolgreicher Fotograf.

 

Diane Arbus

Auch Levitts zehn Jahre jüngere Kollegin Diane Arbus, gleich alt wie Avedon, kam am 14. März 1923 in einer Familie russischer Juden in New York zur Welt, als Diane Nemerov, Tochter von David Nemerov and Gertrude Russek Nemerov. Ihr Grossvater hatte an der 5th Avenue ein gut gehendes Warenhaus, Russeks, gegründet. Ihre Herkunft aus einem wohlhabenden Elternhaus formte ein in den durch Pogrome sensibilisierten europäisch-jüdischen Immigrantenkreisen charakteristisches Interesse an unterschiedlichen Identitäten, im Bemühen, die ihr eigene sozialkritische Sicht auf eine von ihr durchaus distanziert wahrgenommene Umwelt zu formulieren. Zum grossen Vorbild wurde der Fotografin dabei der deutsch-amerikanische Maler und Grafiker der Dada-Szene, George Grosz (1893–1959), ein bekennender Kommunist, mit seinen scharfen, analytisch-politischen Karikaturen.

Zunächst beschäftigte sich Arbus allerdings noch gemeinsam mit ihrem Ehemann Allan Arbus (1918–2013), den sie 1941 geheiratet hatte – ähnlich wie Avedon (aber weniger glücklich als dieser) – mit der Modefotografie. Erst relativ spät in ihrem Leben, ab 1956, konnte sie sich eigenständigen, künstlerischen Arbeiten widmen, die in ihrer Entstehung stark von der surréalistisch geprägten Brodovitch-Mitarbeiterin Lisette Model (geboren in Wien 1901 als Elise Amelie Felicie Stern, gestorben in New York 1983) beeinflusst waren. Bei Model an der New School for Social Research hatte Arbus ab 1955 für zwei Jahre Kurse belegt. In der Folge suchte sie sich ihre Motive unter Randfiguren der Gesellschaft und Exzentrikern, Kranken und Behinderten, Zirkuskünstlern, Kindern und Prominenten. Sie bildete alle Menschen, egal, wie unterschiedlich ihre Herkunft und Lebensumstände sein mochten, gleichermassen direkt ab, ging offen und unerschrocken auf verstörende Situationen zu. Durch ihren unbeirrbaren Zugang kam sie in ihren Werken zu oft schockier-
enden Ergebnissen, die wohl nur möglich waren aufgrund des grossen Vertrauens, dass sie zwischen sich selbst als Fotografin und den portraitierten Personen aufzubauen vermochte. So fotografierte sie unter anderem auch Norman Mailer und Harvey Lee Oswalds Witwe Marguerite.2  

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Depressionen, unter denen sie ähnlich ihrer Mutter litt, führten dazu, dass sich Arbus am Höhepunkt ihrer Karriere am 26. Juli 1971 das Leben nahm. Erst posthum wurden ihre Werke in den berühmtesten Museen der Welt gezeigt; sie finden sich im Pariser Centre Pompidou ebenso wie im Chicago Art Institute, im Metropolitain Museum of Art, im Museum of Modern Art sowie im Whitney Museum in New York, im Amsterdamer Rijksmuseum, im Londoner Victoria & Albert Museum oder im Smithsonian American Art Museum in Washington, D.C. 

 

Doon Arbus, die Tochter, war sechsundzwanzig Jahre alt, als ihre Mutter Selbstmord verübte. Sie arbeitete danach jahrelang mit Richard Avedon zusammen und schrieb mit ihm zwei Bücher: Alice in Wonderland: The Forming of a Company, the Making of a Play (E. P. Dutton, 1973) und Avedon: The Sixties (Random House, 1999).

 

Anmerkung

1 Zum Surréalismus und seiner Rezeption in den U.S.A., insbesondere zu Méret Oppenheim, vgl. Tina Walzer: Judith Kerr, Méret Oppenheim, Ralph Giordano, Nadine Gordimer, Norman Mailer.  In:  DAVID, Heft 136, 35. Jg., Pessach 5783/April 2023, S. 36ff.

2 ebd. zu Norman Mailer und seiner Arbeit über John F. Kennedys Mörder.

 

 

Teil II, Europa: Die Brüder Capa und Gerda Taro, folgt in Heft 138, Rosch Haschana/September 2023.