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Marienbad 1. Oktober 1938 Eine Nacherzählung

Roger Reiss

Mit dem Einfall der Nazis in das Sudetenland (Tschechoslowakei) verwehrte man den Juden ihre beliebte Trinkkur

Inhalt

Marienbad 

1. Oktober 1938 

Marienbad (Mariánské Lázně, Tschechische Republik) war ein beliebtes Sommer-Reiseziel.1 In den 1930er Jahren reisten Fischel und Chaye – unsere galizischen Grosseltern, sie hatten sich im Jahr 1917 im Zürcher Schtetl niedergelassen – mit der Eisenbahn zu einem Ferienaufenthalt in das westböhmische Städtchen. Festlich angezogen, verbrachten sie dort eine angenehme Kur, um täglich mit Freunden und Bekannten aus allen Teilen Europas Thermalwasser zu trinken. 

1. Oktober 1938 

Die rasante Verschlechterung des Alltags von Jüdinnen und Juden in Marienbad, selbst wenn diese nur kurz und vorübergehend verweilende Kurgäste waren, konnte vor dem Hintergrund des eskalierenden deutsch-tschechischen Konfliktes auch von der minderheitenfreundlichen Politik der tschechoslowakischen Republik nicht aufgehalten werden. Mit der Eingliederung des tschechoslowakischen Sudetenlandes in das Deutsche Reich infolge des Münchner Abkommens nahm das idyllische Treffen von Kurgästen, wo jeder den anderen rund um ein Glas Mineralwasser respektierte, ein abruptes Ende. Vorwiegend jüdische Klientel wurde unter dem nationalsozialistischen Regime und der von ihm ausgeübten rassistischen Verfolgung ab dem 1. Oktober 1938 von der Inanspruchnahme aller Leistungen ausgeschlossen. Schliesslich, mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges, kam am 1. September 1939 der ganze Kurbetrieb im Westböhmischen Bäderdreieck zum Erliegen. 

Die Ära des Kommunismus 

In den Jahren 1945/46 wurden etwa drei Millionen Deutschböhmen und Deutschmährer aus der Tschechoslowakei, die Teil des kommunistischen Ostblocks wurde, enteignet, abgeschoben und vertrieben. Die sogenannten Sudetendeutschen hatten bis dahin auch in Marienbad die Mehrzahl der Einwohner gebildet. 1946 wurden die Badehäuser verstaatlicht; erst nach dem Zerfall des Kommunismus im Jahr 1989 konnte der Kurbetrieb für Gäste aus dem „westlichen“ Ausland wieder geöffnet werden. Ab den frühen 1950er Jahren also gab es erste Lichtblicke in Marienbad ; das ganze Theater rund ums Thermalwassertrinken konnte wieder frisch-fröhlich losgehen. Doch unsere Grosseltern verbrachten ihre Ferien fortan nur noch in der vom Krieg verschont gebliebenen Schweiz. Zunächst fuhren sie mit der beliebten Rhätischen Bahn in das Unterengadin, zur Thermalstation nach Scuol/Schuls ins Hotel, das von der Familie Kempler geführt wurde. Ab 1957 ging es dann nach St. Moritz-Bad, wo Poldi Bermann das heimische „Hotel Edelweiss“ führte.

Spurensuche 

Nach dem Tod unserer Grosseltern lösten unsere Eltern deren bescheidene Wohnung im Zürcher Aussersihl auf, die von unzähligen Talmud-Bänden überquoll. Viel später, beim Wegzug unserer Eltern ins Altersheim, hinterliessen sie uns eine Schuhschachtel, in der sich verschiedene Foto-Postkarten fanden, auf denen allerlei verschiedene Rabbiner figurierten. Ort und Zeitpunkt der Aufnahmen, geschweige denn die Namen der Dargestellten, konnten wir jahrzehntelang nicht ausfindig machen. Die Details waren in Vergessenheit geraten. Und wer unseren Grosseltern diese Serie unfrankierter Foto-Postkarten geschenkt hatte, blieb ebenfalls für viele Jahre rätselhaft.

Marienbad aus dem Jahr 1937 

Erst vor kurzem habe ich eine identische Postkarte auf der Webseite judaica.cz („Old Jewish Postcards of Europe“) entdeckt. Glück hatte ich, dass der Webmeister Frantisek Banyai sich als beflissener Postkartensammler entpuppte und die abgeknipste Rabbiner-Postkarte auf den Sommer 1937 festlegen konnte. Sie war vom Studio Hans Lampalzer während des Dritten Kongresses der Agudas Yisroel – eine europäische Dach-Organisation aller berühmten orthodoxen und chassidischen Bewegungen – aufgenommen worden.

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1930, Marienbad. In der Mitte, dritte Reihe: Chaye und Fischel beim gemütlichen Thermal-Wassertrinken. Foto-Postkarte: Studio Hans Lampalzer, Marienbad.

Lebendiges Judentum in den böhmischen Wäldern

Nach heutigen Kriterien würde man die mit der Aufschrift „Marienbader Original Typen“ bedruckte Postkarte höchstwahrscheinlich als politisch inkorrekt einstufen – bleibt die Frage, weshalb das Marienbader Studio diese zwiespältige Betitelung wählte? Waren äussere Kräfte am Werk? Fürchtete das Studio, im Fall einer deutschen Einverleibung des Sudetenlandes könnten die Nürnberger Gesetze vom 15. September 1935, welche die jüdischen Mitbürger zu Staatsbürgern minderen Rechts abstempelten, und gegebenenfalls das vom Deutschen Reich eingesetzte NS-Regime hier eingeführt werden? Oder wollte der Fotograf sich vorsichtshalber mit dieser „ausgrenzenden Vermerkung“ vor den Übergriffen der Nazi-Schergen, die sich aggressiv gebärdeten, schützen? 

Sommerlicher Antisemitismus 

Von da her zu behaupten, es hätte über viele Jahre in Karlsbad während der sommerlichen Hochsaison, aber nicht nur dann, keinen offen ausgetragenen Antisemitismus gegeben, hiesse, den konfliktgeladenen Alltag zu beschönigen. Mit dem vermehrten Aufmarsch osteuropäischer Juden verstärkte sich tatsächlich der Antisemitismus unter den Hotelbesitzern, welche nun (sehr zum Missfallen der Kurverwaltung) ihre Kundschaft nach rassistischen Kriterien auszusondern begannen.

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1937, Waldlichtung. Der Gerer Rebbe Avraham Mordechai Alter, Vorsteher der Partei Agudas Yisroel Polen. Untertitelt: „Marienbader Original Typen“. Studio Hans Lampalzer, Marienbad.

Die Bügelfalte des Antisemitismus 

Von den offen ausgetragenen Kämpfen zwischen Hoteliers wurde im satirischen Karlsbader Blatt Kikriki ausführlich berichtet. Der interne „ewige Streit“ wurde zwischen den Bürgern der Kurorte selbst im schlecht frequentierten Winter mit aller Härte ausgetragen; so wurde Juden im Winter 1925 der Zugang zu einer Theateraufführung verwehrt.  Um diese aufgeladene Stimmung wahrheitsgetreu einzufangen, hat die Historikerin Mirjam Zadoff im Rahmen einer deutsch-israelischen Forschungskooperation, die von der Universität München durchgeführt wurde, unter dem Titel Nächstes Jahr in Marienbad. Gegenwelten jüdischer Kulturen der Moderne zeitgenössische Quellen zusammengestellt. Das Buch, erschien im Jahr 2007, stellt eine sehr aufgeschlossene Untersuchung dar; hier eine kleine Kostprobe daraus:

 

„Die alljährliche Verwandlung der Stadt – von der internationalen Kurstadt in die Provinzstadt am nordwestlichen Rand der jungen Republik – brachte aber noch weitaus problematischere Seiten mit sich. Jeden Herbst artikulierten Mitglieder der Stadtgemeinde nicht nur ihre deutschnationale Gesinnung, sondern auch einen zunehmend aggressiven und manchmal sogar handgreiflichen Antisemitismus.“  

 

Im Weiteren zitiert das Buch aus dem Kikriki

„Der Herbst ist wieder da. Betrachtungen aus Stadt und Land. Rasch den untersten Schub des verwanzten Ledersofas geöffnet und das während des Sommers dort verwahrte Nationalbewusstsein hervorgeholt, die Bügelfalte des Antisemitismus darin frisch nachgeplättet, denn jetzt dürfen wir es uns erlauben, wieder deutschradikal zu denken und zu fühlen, sowie, wenn sich die Gelegenheit bietet, den Juden zu verhauen. Ach, selig waren sicher die Zeiten, wo man ihn verbrennen durfte, aber heute lässt er es sich nicht mehr gefallen, und, was das Schrecklichste ist, nicht einmal prügeln will sich der Stinker lassen, denn oft kommt es vor, dass die Hakenkreuzknaben die Verprügelten sind, so sie die Kühnheit besitzen, einen Juden anzustänkern.“

 

Selbst unter der Annahme, dass einzelne hier angesprochene Sachverhalte im Kikriki satirisch zugespitzt formuliert wurden, öffnete eine derartige Polemik, wie die Autorin warnt, Möglichkeitsräume. Mirjam Zadoff hat das saisonale „Zweisehertum“ mit viel Fingerspitzengefühl ausführlich dokumentiert.

 

RR/2. Mai 2023, gegengelesen von Mirjam Zadoff, Direktorin des NS-Dokumentationszentrums München.

 

 

Anmerkung der Redaktion: 

1 Vgl. auch den Coverbeitrag von Lorenzo Valeriano: Die Synagoge des westböhmischen Kurortes Marienbad. In: DAVID Heft 130, 33. Jg., Rosch Haschana 5782, September 2021, S. 2 und S. 8-11; link: https://davidkultur.at/die-synagoge-des-westboehmischen-kurortes-marienbad

 

Alle Abbildungen: Mit freundlicher Genehmigung: R. Reiss.