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Ausgabe

100 Missverständnisse über und unter Juden Eine viel diskutierte Ausstellung im Jüdischen Museum Wien

Christoph Tepperberg

Im Jüdischen Museum Wien war vom 30. November 2022 bis 4. Juni 2023 eine ungewöhnliche Ausstellung zu sehen. „Missverständnisse“ steht für eine satirische Umschreibung positiver und negativer Vorurteile. 

Inhalt

Die Ausstellung fragte nach Stereotypen und Klischees rund um das Judentum. Erstmals rückte sie auch philosemitische Vorurteile und Stereotypen in den Vordergrund, die im Gegensatz zu Antisemitismus und Judenhass bisher kaum in den Fokus genommen worden waren. Einhundert solcher „Missverständnisse“ werden dem Besucher in acht Kapiteln präsentiert (Intro, Romantisierung, Schoa, Überschreitungen, Stereotypisierung, Voyeurismus, Abneigung und Outro). 

 

Die Ausstellungsstücke stammen durchwegs von jüdischen Künstlerinnen und Künstlern, insbesondere des 20. und 21. Jahrhunderts. Sie reissen den Besucher aus seiner musealen Wohlfühlzone und führen ihn in eine Welt der entmythologisierenden und relativierenden Sicht auf das Judentum. Bemerkenswert ist der Blick auf den „Messias“ (Katalog Nr. 55-59), auf das „privilegierte auserwählte Volk“ (Nr. 60) oder auf Israel als „Heimat von Jüdinnen und Juden“ (Nr. 62). 

 

Nicht alle der 100 „Missverständnisse“ sind selbsterklärend und bedürfen eingehender Kontextualisierung. Andere wiederum sind leicht als Stereotype erkennbar, etwa, dass es eine typisch jüdische Nase gibt, alle Juden religiös sind, nur Juden beschnitten sind, lange Bärte tragen, nur koscher essen, das Schwein für sie als absolut unrein gilt und kein Jude Sinn für die Musik des Antisemiten Richard Wagner hat (Nr. 44, 65-66, 68, 71, 78, 90-91). Nicht wirklich als Vorurteil argumentierbar ist, dass es ein „spezielles jüdisches Lernen“ oder typisch jüdische Vor- und Nachnamen gebe (Nr. 9, 74, 75). 

 

Dass jüdische Witze lustiger (tiefsinniger) seien als solche von Nichtjuden, kann zumindest für die Zeit der europäischen Diaspora nicht vorbehaltlos als philosemitisches Vorurteil gelten (Nr. 46). Dass israelische Soldaten besonders tapfer, israelische Soldatinnen besonders schön und tapfer seien (Nr. 15, 16) ist zwar ein positives Vorurteil, doch nehmen analog auch andere Staaten solches für ihre Soldatinnen und Soldaten in Anspruch. Ein Teil der behaupteten „Missverständnisse“ erscheint konstruiert. Dem Wert der ausgestellten Kunstwerke (Exponate) und der Auseinandersetzung mit deren Inhalten tut dies freilich keinen Abbruch. 

 

Satirische Kunst verlangt dem Betrachter einiges ab. So zeigt die Ausstellung auch Bilder, die auf manche Besucher verstörend wirken. „Kaufen macht frei“ (Nr. 26), „Tanzen in Ausschwitz?“ (Nr. 29), der Lego-Bausatz eines KZ (Nr. 31), der Hitlerteppich/“Hitler Rug“ (Nr. 39), die Lichtinstallation “Endsieger sind dennoch wir“ (Nr. 41), „Eine jüdisch-nationalsozialistische Hochzeit“ (Nr. 82), „Nackte Tatsachen“ im KZ (Nr. 84) und der „Judenfreund“ (Nr. 95) werden erst bei ernsthafter Beschäftigung verständlich. 

 

Satire und kritische Reflexion wirken bewusstseinserweiternd, zerstören zugleich das liebgewonnene Idyll. Das liegt nicht primär an der Umsetzung eines Ausstellungskonzepts, sondern vor allem an der sensiblen Materie und den unterschiedlichen Erwartungshaltungen. Die Ausstellung ist mutig und innovativ. 

 

Das Museum will offenbar neue Wege beschreiten und wird dabei hoffentlich viele seiner bisherigen Freunde mit auf den Weg nehmen. 

 

Nachlese

Katalog: Barbara Staudinger/Hannes Sulzenbacher/Agnes Meisinger (Hrsg.): 100 Missverständnisse über und unter Juden. Wien: Jüdisches Museum Wien, 2022. 

Klappenbroschur, Grossformat (30 x 12 cm), 232 Seiten, 24,90 Euro. 

ISDN: 978-3-903419-06-3. 

Videotipp: https://www.3sat.de/kultur/kulturzeit/ausstellungstipp-100-missverstaendnisse-ueber-und-unter-juden-100.html