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Ist das tatsächlich die Aufgabe eines jüdischen Museums? Einhundert Missverständnisse – Ein Ausstellungsbesuch

Thomas Varkonyi

Dient eine Ausstellung in einem Museum der Erhaltung von und der Information über Relevantes aus der näheren und/oder ferneren Vergangenheit, also der Bildung? Dient eine Ausstellung der Provokation im Sinne eines Aufrüttelns der Gesellschaft, um bisher nicht Wahrgenommenes in den Fokus zu rücken, also der zivilgesellschaftlichen Politik? Dient eine Ausstellung dem Abhaken zeitgeistig angesagter Plattitüden des akademischen Betriebs, also postmodernem „virtue signalling“? Gibt es eine Beziehung zwischen Ausstellern, ihrer Thematik und dem Publikum? 

Inhalt

Diese Fragen wollte ich anlässlich der kontroversiell diskutierten Ausstellung „100 Missverständnisse über und unter Juden“ im Jüdischen Museum Wien durch das Besichtigen eben dieser Ausstellung zusammen mit einer Freundin, die weder jüdisch noch besonders an jüdischen Themen interessiert ist oder sich antisemitisch geriert, also sozusagen ein unbeschriebenes Blatt ist, beantworten. Ich selbst beschäftige mich seit vielen Jahren mit dem verschränkten Themenkomplex Jüdische Geschichte und Antisemitismus, bin also eher ein dicht beschriebenes Blatt. 

 

Möchte man ein Thema neutral oder gar wohlwollend beschreiben, so würde man nicht mit Idiosynkrasien beginnen und sich vermutlich auch nicht auf solche beschränken. Das wäre nämlich ein Missverständnis darüber, was eine Person ausmacht. Idiosynkrasie meint hier mit Theodor W. Adorno und Max Horkheimer den irrationalen Ekel, den man anderen gegenüber empfindet; allerdings auch jene Bedeutung, die das Wort im Englischen hat, nämlich Eigenart

 

Aber hier soll ja nicht wohlwollend vorgegangen werden, denn es sollen „philosemitische Vorurteile und Stereotype in den Fokus“ gerückt werden, wie es im Katalog zur Ausstellung auf Seite 5 heisst. Das erscheint wohl dringend nötig, denn Österreich hat sich ja bekanntlich historisch vor allem durch Philosemitismus ausgezeichnet… (irony off). Beim Besuch der Ausstellung kommt man sich wie in einer Blase vor, nämlich jener, die im jüdischen Kontext als „Fringe“, also als „nicht mainstream“ zu bezeichnen ist. Es werden in grosser Anzahl seltene beziehungsweise aufgesetzte oder erfundene Phänomene künstlerisch thematisiert, die dann „entkräftet“ werden. Die Frage liegt nahe, ob es Missverständnisse über und/oder unter Juden sind, die hier gezeigt werden, oder ob es von jüdischen Künstlern Wohlverstandenes über die „kritischen“ Bedürfnisse ihres nichtjüdischen Publikums ist. 

 

Und was heisst hier überhaupt Missverständnis? Laut Duden: falsche Auslegung, Fehldeutung, Fehleinschätzung, Fehlinterpretation, Irrtum, Missdeutung, Verkennung. Wenn schon, so hätte der Titel etwas wie Klischees, Stereotype, Vorurteile heissen sollen. Und warum 100 und nicht 30? Die 30 dafür besser erklärt, mit Kontext und nicht an den Haaren herbeigezogen. Eventuell so, dass man keine spezielle Vorbildung braucht, nachher aber zumindest potenziell etwas gebildeter nach Hause gehen kann. 

 

Die Freundin brauchte jedenfalls mehr Erklärungen als die Ausstellung bot; nicht nur, was das jeweilige Ausstellungsstück war, sondern, warum es überhaupt ausgestellt war, wenn es doch nicht echt, sondern Kunst war? Ein wahrgenommener Bildungsauftrag lässt sich daher leider nicht erkennen. Der im Stil einer konformistischen Rebellion aufgenommene Kampf gegen den angeblich ubiquitären Philosemitismus schon eher. Ist das tatsächlich die Aufgabe eines jüdischen Museums? Jean-Paul Sartre stellte in seinen Betrachtungen zur Judenfrage fest, die Juden hätten „leidenschaftliche Feinde und leidenschaftslose Verteidiger“. 

 

Uns allen – aber vor allem einem jüdischen Museum – stünde es gut an, leidenschaftliche Verteidiger zu sein.