Keine Bange – es geht nicht um mich. Und doch sind zwei Sätze fürs bessere Verständnis nötig. Zwar wollte ich bereits in der Wiege Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde Innsbruck werden, musste aber bis dahin etwas anderes tun. Ich wurde Schauspieler, war in den 1980er-Jahren am Tiroler Landestheater, und dort kam es zur Aufführung des einzigen Viktor Frankl-Stückes. Ich weiss nicht mehr, war es die Uraufführung, oder war uns jemand zuvorgekommen? Das Stück wurde aber sicher seither nicht wieder aufgeführt.
Im Titel war das Wort „Birkenwald“ enthalten. Ich erinnere mich, dass ein enttäuschtes Paar – er im Steireranzug, sie im Dirndl – das Theater verliess. Es war nicht das von ihnen erwartete Heimatstück. Das Theater selbst zweifelte an der Zugkraft des Stückes und setzte es nicht im grossen Haus an, nicht einmal in den Kammerspielen, sondern im noch kleineren Werkraumtheater. Man hatte die Menschen unterschätzt, die Zugkraft des Stückes nicht bedacht – es wurde nach ausverkauften Vorstellungen abgesetzt. Als Halbgebildeter hatte ich Frankls Trotzdem Ja zum Leben sagen gelesen, es grossartig gefunden und Frankl – nach Freud und Adler – in meiner persönlichen Hitparade auf einen Ehrenplatz eingereiht. Etwas befremdet hatte mich Frankls Liebe zu den Bergen, zum Klettern – mich hätte, wäre ich je eingetreten, der Ausschluss aus dem Alpenverein nicht in Depression gestürzt.
Dann kam er, hielt einige Vorlesungen an der Universität Innsbruck, beantwortete geduldig Fragen mittelmässiger Journalisten und nahm an unseren Proben teil – höflich, dankbar und gerührt, seine geschriebenen Worte Fleisch werden zu sehen. Anfangs fand ich ihn etwas primadonnenhaft, er bestand auf einem Hotel, in dem man keine Kirchenglocken hören konnte. Ein Mitarbeiter des Theaters ging im Umland probeschlafen und fand schliesslich eine 1-Stern-Pension, die nur über einen Schotterweg zu erreichen war. Versöhnt hat mich dann die Erklärung: Er hatte, als er in Auschwitz war, am Sonntag – hungernd, frierend, gedemütigt und unsicher, ob er das überleben würde – die Glocken aus der Stadt gehört und das Bild vor sich gesehen, wie ausgeruhte, gut genährte Menschen festlich gekleidet zur Kirche und anschliessend zum Frühschoppen gingen. Seither konnte er Kirchenglocken nicht mehr hören.
Das Stück war eine Verdichtung seines Schreibens und Denkens. Als er nach einer guten Woche und der doch umjubelten Premiere abreiste, hatte ich eine tiefe Zuneigung zu ihm gefasst, fleissig Frankl nachgelesen – und kann Ihnen dies nur empfehlen!
Nachlese
Viktor Frankl: Trotzdem Ja zum Leben sagen. Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager. Neuausgabe: 2009; 7. Auflage, Kösel, München 2015.
ISBN 978-3-466-36859-4;
Taschenbuchausgabe: Deutscher Taschenbuch Verlag, München (= dtv. Bd. 30142), 26. Auflage, März 2006.
ISBN 3-423-30142-2.
Zum Autor
Günter Lieder, österreichischer Schauspieler, Regisseur und Autor, ist seit 2016 Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde Innsbruck.