Ausgabe

Die jüdische Nase

Inhalt

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Thomas Meyer: Was soll an meiner Nase bitte jüdisch sein? Über den Antisemitismus im Alltag. 
Elster & Salis AG, Zürich: 2021
124 Seiten, Leinen, Preis: 18,50 Euro
ISBN: 978-3-03930-014-3

Autor des Buches ist der 1974 als Sohn einer jüdischen Mutter und eines christlichen Vaters in Zürich geborene Schweizer Schriftsteller, Drehbuchautor, Werbetexter und Aktionskünstler Thomas Meyer. Bekannt wurde er mit seinem 2012 veröffentlichten Debütroman „Wolkenbruchs wunderliche Reise in die Arme einer Schickse“ und der 2018 unter dem Titel „Wolkenbruch“ erfolgten Verfilmung, wozu Mayer das Drehbuch verfasste. (www.thomasmeyer.ch)

Antisemitismus hat viele, meist sogar freundliche Gesichter. Doch selbst gute Manieren schützen nicht davor, Unsinn zu glauben. Zum Beispiel, dass alle Juden grosse Nasen haben oder gut mit Geld umgehen können. Thomas Meyer wurde wegen seines Jüdisch-Seins nie verprügelt, doch viele Male verspottet, beleidigt und mit irrwitzigen Behauptungen konfrontiert. Irgendwann hörte er auf zu diskutieren und begann, seine Erlebnisse niederzuschreiben. Daraus entstand ein kompakter, wirkungsvoller Essay. 

Das Büchlein wendet sich primär an Nichjuden. Es thematisiert den Antisemitismus sehr anschaulich als Problem des jüdisches Alltags und stellt diesem nicht-jüdisches Unverständnis, Kopfschütteln und Gekränktheit gegenüber. Nicht immer werden jüdische Gefühle von Nichtjuden akzeptiert, gerade wenn deren Verhalten weit weg ist von Aggressivität, Verhöhnung oder Gewaltbereitschaft. Durch Schilderungen aus eigenem Erleben versetzt der Autor Nichtjuden in die Lage, Gefühle von Juden besser zu verstehen.

Eingangs formuliert Thomas Meyer einige bemerkenswerte Grundwahrheiten des Judentums. (S. 11-12, 16) Dann folgt das eigentliche Thema, der gewaltfreie Antisemitismus. Er beschreibt den niemals handgreiflichen, stets freundlichen, aber pauschalisierenden und herab setzenden Antisemitismus, der aus der Mitte der Gesellschaft kommt. (S. 40) Als Nichtbetroffene können Nichtjuden die Reaktion von Juden auf antisemitische Vorurteile oft nicht nachvollziehen, interpretieren sie als Überempfindlichkeit oder Wichtigtuerei. (S. 39ff., 54ff.) 

Der Autor gibt unzählige Beispiele aus eigenem Erleben. Als ihm etwa ein Nachbar empfahl, er solle, bei einer Kamera, die der kleine Thomas kaufen wollte, den Preis einfach »runterjuden«. Da man um seine jüdische Mutter wusste, ging man einfach davon aus, dass »auch« ihm die Fähigkeit gegeben sei, vorteilhafte Konditionen auszuhandeln. Weit mehr verstörten ihn die Witze seiner Mitschüler über »vergaste« und »verbrannte« Juden. Seine Kameraden lachten sich dabei kaputt, während er still danebenstand und Bauchschmerzen hatte. (S. 36-37) Mayer spricht über seine angeblich »jüdische Nase«, seinen »Judenbart«, seine Augen, die auch »irgendwie so jüdisch« seien, seine »jüdische Gestik« und überhaut seine ganze »jüdische Art«. Unzählige Male nannte man ihn nicht »Thomas«, sondern »Jud« oder »Judenbengel«. (S. 49ff.)  Am Ende seines Essays zitiert Mayer seine Mutter, die Zeit ihres Lebens davor Angst haben musste, »dass jemand einen antisemitischen Spruch macht.« (S. 121)

Die Alltäglichkeit und oft erschreckende Direktheit von Meyers antisemitischen Erlebnissen nimmt einen in die Pflicht. Er schont auch sich selbst nicht, geht seinen eigenen Ressentiments ebenso auf den Grund. Sein Essay ist ein radikal subjektiver, persönlicher Beitrag zur Antisemitismus-Debatte, ein kleines Buch mit grosser Sprengkraft. Und offenbar ist seine Nase ganz »normal«. Ein höchst empfehlenswertes Büchlein, auch wenn, oder gerade weil einem Nichtjuden manches darin unverständlich, überzogen und arrogant erscheinen mag. 

Christoph Tepperberg