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Sein erstes Wort war „allein“ Zum 10. Todestag des Malers Lucian Freud

Stephan Templ 

Der britische Maler Lucian Freud (8. Dezember 1922, Berlin – 20. Juli 2011, London) ragte schon allein durch seinen prominenten Grossvater Sigmund Freud (1856 Freiberg, Mähren/tschech. Příbor – 1939 London) hervor. 
 

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Einige Kunsthistoriker wollen auch eine geistige Verwandtschaft der beiden entdeckt haben: Liess der Psychoanalytiker seine Patienten stundenlang auf der Couch liegen, um sich ihre Träume und Ängste erzählen zu lassen und daraus ein Bild ihres psychischen Zustandes zu formen, so sind Lucians Modelle seinem bohrenden Blick, der tief unter die Haut gehen mag, tage- und wochenlang ausgesetzt. 

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Lucian Freuds Grab, Highgate Cemetery, London. Foto: Simon Edwards Esq. Quelle Wikimedia commons, gemeinfrei, abgerufen am 03.06.2021: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Grave_of_Lucian_Freud_at_Highgate_Cemetery.jpg

Eine Therapiestunde für den Künstler?
Über seine Arbeit sagte Lucian Freud: 
„Mein Werk ist rein autobiographisch. Es ist über mich selbst und meine Umgebung. Es ist ein Versuch eines Berichts. Ich arbeite über Leute, die mich interessieren, die ich mag und über die ich nachdenke, in Räumen, in denen ich lebe und die ich kenne.“1
Schonungslos exponiert er seine Modelle, nackt, oft mit erschlafften Sexualorganen. Sein berühmtestes Modell, Sue Tilley (geb. 1957), „Big Sue“, die füllige Arbeitsamt-Angestellte, die mehrere Jahre in Freuds Atelier im Londoner Stadtteil Kensington verbrachte, bat wiederholt, der Meister möge sie doch bekleidet und geschminkt malen. Doch sie stiess auf taube Ohren.

Als Maler war Lucian Freud zweifellos ein Einzelgänger. Seine Mutter wurde nicht müde zu erzählen, sein erstes Wort sei „allein“ gewesen. Leonardo da Vinci (1452 – 1519) verachtete er, fand sein Streben nach einer höheren Ästhetik lächerlich. Francisco Goya (1746 – 1828), Gustave Courbet (1819 – 1877) und Jean Siméon Chardin (1699 – 1779) inspirierten ihn; man könnte auch durchaus auf das Werk Egon Schieles (1890 – 1918) verweisen.
Eine besondere Beziehung zu Wien ist nicht bekannt. Als Dreizehnjähriger – bereits im britischen Exil lebend – besuchte er einmal den Grossvater Sigmund in Wien. Seine Mutter Lucie Brasch (1896 – 1989) stammte aus Berlin, und dort wuchs er bis 1933 auf, als Sohn des jüngsten Sohnes Sigmund Freuds, des Architekten Ernst L. Freud (1892 Wien – 1970 London). Im Jahr der nationalsozialistischen Macht-
übernahme in Deutschland konnte die Familie nach London emigrieren.
Mit Lucian Freud verlor die Welt einen der bedeutendsten Portraitmaler der vergangenen hundert Jahre. Er zählte zur Gruppe figurativ-gegenständlicher Maler der vom amerikanisch-jüdischen Maler Ronald B. Kitaj (1932 Chagrin Falls bei Cleveland, Ohio – 2007 Los Angeles) so genannten School of London. Neben Kitaj und Francis      Bacon (1909 Dublin – 1992 Madrid) gehören und gehörten ihr auch die jüdischen Maler Frank Auerbach (geb. 1931 in Berlin) und Leon Kossoff (1926 London – 2019) an. Lucian Freuds Grab findet sich auf dem berühmten Highgate Cemetery in London.

1 zitiert nach:  David Kamp: Freud, Interrupted, Vanity Fair, January 31, 2012