Ausgabe

Vertrieben und vergessen Die jüdischen Familien von Melk

Christian Rabl

Inhalt

Die Spuren jüdischen Lebens in der Stiftsstadt Melk reichen bis in die 1870er-Jahre zurück. Damals liess sich der aus Miřetic (Böhmen) stammende Josef Weiner hier nieder und eröffnete ein Geschäft für „böhmische Bettfedern und Flaumen“, welches er später mit seinem Sohn Karl führte. Karl war 1874 der erste in Melk geborene Weiner, seine Halbschwester Olga kam 1891 ebenfalls hier zur Welt. Während Karl 1916 ledig und kinderlos starb, heiratete Olga den Architekten Samuel Schneider und bekam zwei Töchter, die in Melk aufwuchsen. Während sich Herta später (katholisch) nach Wien vermählte, wo sie und ihre 1935 geborene Tochter Ruth das NS-Regime in einer sogenannten Mischehe überlebten, blieb Paula in Melk. Sie übernahm das kleine Geschäft samt Magazin sowie das Wohnhaus und pflegte ihre kranke Mutter. Elisabette „Betty“ Kraus, die 1865 in Pravonín geborenen Cousine von Olga, unterstützte sie. 1934 heiratete Paula Ernst Porges aus Scheibbs, im Juni 1937 kam in Melk ihre Tochter Elisabeth Susanne zur Welt. Sie ist eines der letzten Kinder, das in den Geburtsmatrikeln der IKG St. Pölten aufscheint.
Ein Blick in regionale Printmedien vermittelt einen Eindruck davon, wie weit antisemitische Einstellungen in der Mehrheitsbevölkerung bereits um die Jahrhundertwende verbreitet waren. Es kam zwar – soweit bekannt – zu keinen direkten Angriffen auf die Familie Weiner/Porges in Melk, die Lage für die Familien spitzte sich mit dem Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich dennoch dramatisch zu: Paula Porges sah sich Mitte 1938 genötigt, ihr gesamtes Hab und Gut – Wohnhaus, Geschäftslokal und Magazin – am Melker Ariseure zu verkaufen. 

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Paula, Elisabeth Susanne und Ernst Porges mussten die Stadt Melk im Oktober 1938 verlassen, Elisabeth Susanne war zu diesem Zeitpunkt eineinhalb Jahre alt. Foto: USHMM, mit freundlicher Genehmigung: Chr. Rabl.

Ähnlich erging es der seit 1926 im Bahnhof Melk lebenden Familie Weiss – Rudolf und Paula. Der für die ÖBB tätige Oberbaurat wurde 1938 auf Basis der „Verordnung zur Neuordnung des österreichischen Berufsbeamtentums“ zwangsweise in den Ruhestand versetzt. Mit seiner Frau war er daher 1938 gezwungen, nach Wien in eine Sammelwohnung in der Lichtenauergasse zu übersiedeln. Im Mai 1942 wurden Rudolf und Paula nach Maly Trostinec deportiert und ermordet.
Ihres Besitzes und jeglicher Lebensgrundlage beraubt verliessen auch Paula, Ernst und Elisabeth Susanne Porges, Olga Schneider und Betty Kraus die Stadt. Sie reisten am 15. Oktober 1938 nach Wien ab und fanden zunächst Quartier in der Kinderbewahranstalt in der Sickingengasse. Betty ging im Dezember 1938 nach Prag, wurde 1942 über Theresienstadt nach Treblinka deportiert und am 19. Oktober 1942 ermordet. Der Rest der Familie durchlief Sammelwohnungen in der Porzellangasse und in der Rotensterngasse. Ernst gelang im April 1939 die Ausreise nach England. Paula, Elisabeth Susanne und Olga hingegen wurden Ende August 1942 deportiert und am 4. September 1942 in Maly Trostinec ermordet. 
Einzig Ernst Porges überlebte:  Er kehrte nach einer wahren Odyssee, die ihn von England über Australien bis nach Palästina führte, schliesslich 1947 nach Melk zurück. Hier erreichte er die Rückstellung des geraubten Vermögens seiner Frau und eröffnete neuerlich ein Geschäft am früheren Standort in der Linzer Strasse 23, das als Bekleidungsgeschäft bis zu seinem Tod 1968 bestand.

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Am 15. Oktober 2021 werden am ehemaligen Standort des Kaufhauses Weiner (später Porges) in der Linzer Strasse 23 drei „Steine der Erinnerung“ verlegt. Foto: Jüdisches Museum Wien, mit freundlicher Genehmigung: Chr. Rabl.