Zum 85. Todestag des Schriftstellers Karl Kraus
Selbst fünfundachtzig Jahre nach seinem Tode vermag Karl Kraus (1874 Jičín, Böhmen – 1936 Wien), dieser Dichter und Sprachkritiker, zu entzweien: auf der einen Seite jene, die ihn als Weltenrichter und Missionar, ja, Propheten verehren – jene, die Erlösung in seiner Sprachkritik suchen und finden. Dann jene, die in Kraus zwar einen scharfsinnigen Schreiber sehen, jedoch von Hass und einer unendlichen Geltungssucht getrieben, die nur von seiner Selbstgerechtigkeit übertroffen werden konnte. Mass- und Massstab-Losigkeit werfen sie ihm vor, in der Intensität seiner Polemiken unterscheide er nicht, ob er nun gegen die Verbrechen des Ersten Weltkrieges anschreibe, oder gegen eine unbedeutende Zeitungsannonce, oder gar nur gegen ein falsch gesetztes Komma.
Er hätte Witz, aber keine Weisheit gehabt, und was man eigentlich bei Satirikern der Weltliteratur gewöhnlich findet, vermisst man bei ihm: Selbstironie. Man erinnere sich an den Auftritt Anton Kuhs (1890 Wien – 1941 New York) im Wiener Konzerthaus 1925, als er Kraus in seinem Vortrag „Der Affe Zarathustras“ karikierte und Kraus nicht anders reagierte, als Kuh wegen Ehrenbeleidigung zu klagen.
Kraus selbst wiederum attackierte nicht etwa die reaktionäre, deutschnationale, antisemitische Presse: sein Ziel war vielmehr die liberale Presse, namentlich die Neue Freie Presse mit ihren zumeist jüdischen Schreibern. So etwa geisselte Kraus deren justizkritische Berichterstattung im judenfeindlichen Schauprozess gegen den französischen Offizier Alfred Dreyfus (1859 Mühlhausen – 1935 Paris), genauso wie das Erscheinen von Theodor Herzls Judenstaat, auf das er mit dem Pamphlet Eine Krone für Zion replizierte. Seine Gegner sahen darin nur Selbsthass.
Kraus trat als 25-Jähriger aus der Israelitischen Kultusgemeinde Wien aus, zwölf Jahre danach liess er sich katholisch taufen. Als Taufpate fungierte der Architekt Adolf Loos (1870 Brünn – 1933 Kalksburg bei Wien). Weitere zwölf Jahre später, 1923, trat er aus der Kirche wieder aus. Anlass dafür bot der von ihm heftig befehdete Max Reinhard (1873 Baden bei Wien – 1943 New York), der in der Salzburger Kollegienkirche ein Drama des von Kraus ebenfalls verachteten Hugo von Hofmannsthal (1874 Wien – 1929 Rodaun bei Wien) aufführte.
Karl Kraus. Foto: anonym. Quelle: Wikimedia commons, gemeinfrei, abgerufen am 04.06.2021: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Karl_Kraus.jpg?uselang=de
Karl Kraus, Die letzten Tage der Menschheit, Salzburger Festspiele 2014. Foto: Christian Michelides. Quelle: Wikimedia commons, gemeinfrei, abgerufen am 04.06.2021: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:LetzteTage_6031_Michelides.jpg?uselang=de
Geburtshaus von Karl Kraus in Jičín, Fortna 43, Nerudova, Staré Město. Foto: Martin Veselka. Quelle: Wikimedia commons, gemeinfrei, abgerufen am 04.06.2021: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Jič%C3%ADn-Staré_Město_-_čp._43_na_rohu_ulic_Fortna_a_Nerudova.jpg?uselang=de
Wenn man an Karl Kraus erinnert, sollte man auch des vor fünfunddreissig Jahren verstorbenen, genialen Menschendarstellers Helmut Qualtinger (1928 Wien – 1986 Wien) gedenken.
Erst Qualtinger hat das Mammutdrama „Die letzten Tage der Menschheit“, welches Kraus nach eigener Aussage für ein Marstheater geschrieben hatte, also für unaufführbar hielt, auf bis heute unübertroffen gebliebene Weise als Solist vorgetragen und damit Karl Kraus unsterblich gemacht.