Ausgabe

Dem Prediger Adolf Jellinek zum 200. Geburtstag

Tina Walzer

Adolf Jellinek prägte die Entwicklung des Wiener Judentums auf seine Weise. Er war eine herausragende Persönlichkeit, gemässigt reformorientiert. Jellinek folgte Isak Noah Mannheimer 1864 als Prediger der Israelitischen Kultusgemeinde Wien
 

Inhalt

Die Familie Jellinek ist uns im Alltag durch die Automarke Mercedes bekannt – war es doch der Rabbinersohn, Automobilpionier und Unternehmer Emil Jellinek (1853 – 1918), der 1898 in Nizza einem Daimler-Tourenwagen den Namen seiner Tochter Mercédès (1898 – 1929) gab und damit Automobilgeschichte schrieb. Zu seinem weitläufigen Immobilienbesitz zählten unter anderem der Mercedes-Schauraum auf den Pariser Champs-Élysées, die Hotels Royal und Scribe in Nizza sowie das Astoria in Paris, in Nizza weiters die Villa Mercedes auf 57, Promenade des Anglais sowie gegenüber auf 54 die Villa Mercedes II, in Baden bei Wien die Villa Jellinek-Mercedes (Wienerstrasse 39–45, 1945 zerstört), und last, not least, das Château Robert zwischen Nizza und Toulon.

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Das erste Semmering-Bergrennen am 27. August 1899. Der Gewinner war Emil Jellinek auf seinem 24-PS Daimler Phönix Double Phaeton. Quelle: Wikimedia commons, gemeinfrei, abgerufen am 09.06.2021: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Jellinek-Daimler.jpg?uselang=de

 

Der heute weit weniger geläufige Aron Adolf Jellinek (1820 Derslawitz/Mähren; heute Drslavice u Uherského Brodu, Tschechische Republik – 1893 Wien) zählt zu den angesehensten Predigern des 19. Jahrhunderts. Nachdem er in seiner Jugend für die Reformgemeinde Leipzig tätig gewesen war, wurde er mit den Jahren deutlich gemässigter und 1856 an den – damals noch gar nicht fertig gestellten – Leopoldstädter Tempel (Architekt: Ludwig Förster, eröffnet 1858) berufen. 1864 wechselte er nach dem Tod Isak Noah Mannheimers (1793 Kopenhagen – 1863 Wien) als Prediger an den Wiener Stadttempel und versah diese Funktion bis zu seinem Lebensende. Darüber hinaus arbeitete er als Orientalist und veröffentlichte Werke zur jüdischen Religionsgeschichte und –philosophie. Seine anderen beiden Söhne waren ebenso bekannt, Georg als Staatsrechtslehrer und Hermann als Germanist. Adolf Jellineks Bruder Herschel wurde 1848 als Revolutionär hingerichtet, sein jüngster Bruder Moriz Jellinek gilt als Begründer des Strassenbahnverkehrs in Budapest.

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Adolf Jellinek in Leipzig. Sammlung Leo Baeck Institut Inr. 56.45. Quelle: Wikimedia commons, gemeinfrei, abgerufen am 09.06.2021: https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/1/15/Adolph_Jellinek_%281503618%29.jpg?uselang=de 
 

Eine von Adolf Jellineks wichtigsten Initiativen war 1863 die Gründung des jüdischen Lehrhauses Beth haMidrasch, geplant als Volkshochschule, Rabbinerausbildungsstätte und Lehranstalt für Jugendliche. Wiewohl die Ziele von der schlecht dotierten Anstalt schwer ausgefüllt werden konnten, sind die Leistungen dieser ersten säkular orientierten jüdischen Bildungseinrichtung in Wien nicht zu unterschätzen. Ein breites Publikum, das infolge der Haskala weder Hebräisch noch Jiddisch verstand, an die Texte der klassisch-hebräischen Literatur heranzuführen und ihm damit im Kampf gegen den aufkommenden Antisemitismus den Rücken zu stärken, war für diese kleine Organisation eine erstaunliche Leistung. Die hervorragenden Lehrer trugen dazu massgeblich bei. Hintergrund von Jellineks Initiative war der innerhalb der IKG schwelende Konflikt mit orthodoxen Gruppierungen. Die „objektive“, historisierende Wissenschaft des Judentums (Heinrich Graetz, Abraham Geiger, Leopold Zunz in Deutschland) sollte gegen die osteuropäisch-orthodoxe Vorstellung vom Offenbarungscharakter einer unverrückbaren Halacha ins Treffen geführt werden und deren Prozesscharakter herausarbeiten. Jellinek sagte: „Der Forschung darf keine Beschränkung auferlegt werden.“ Jellineks Nachfolger erst am Leopoldstädter Tempel, später am Stadttempel, Wiens erster offizieller Oberrabbiner Moritz Güdemann (1835 Hildesheim – 1918 Baden bei Wien) arbeitete an der Institutionalisierung eines Rabbinerseminars in Wien und führte das Beth haMidrasch in die neu gegründete, weithin berühmte Israelitisch-Theologische Lehranstalt über. 

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Das Grabmal von Emil Mercédès-Jellinek in Nizza/cimetière du Chateau. 
Foto: T. Walzer, mit freundlicher Genehmigung.

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Die Jardins du roi Albert I. an der Promenade des Anglais in Nizza, um 1900. Das Hotel Royal im Hintergrund gehörte Emil Jellinek. Foto: Metapolisz Images. Quelle: wikimedia commons, gemeinfrei, abgerufen am 09.06.2021: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Les_Jardins_du_Roi_Albert_I._-_Nizza_(1).tif