Ausgabe

Ludwig Hirschfeld (1882–1942) Journalist – Schriftsteller – Komponist

Peter Payer

Es ist eine der vielen Zuwanderer- und Aufstiegsgeschichten von Wien. 
 

Inhalt

Ludwig Hirschfelds Eltern waren Mitte des 19. Jahrhunderts aus Ungarn in die Reichshaupt- und Residenzstadt gezogen. Der Vater, von Beruf Kaufmann, hatte sich als Unternehmer etabliert und gemeinsam mit seinem Bruder die Atzgersdorfer Rollgerstefabrik gegründet. Als jüngstes von vier Kindern wurde Ludwig am 21. Mai 1882 in Wien-Leopoldstadt geboren. Gemeinsam mit seinen Geschwistern wuchs er in einem heute nicht mehr existierenden Gründerzeithaus in der Unteren Augartenstrasse 18 auf, in dem sich auch der Verwaltungssitz der Fabrik befand.

Geprägt vom bürgerlichen Leben der jüdischen Industriellenfamilie, verbrachte er im Viertel rund um den Augarten seine Kindheit und Jugend. Nach dem Besuch der Volks- und Staatsrealschule inskribierte er an der Technischen Hochschule Chemie, brach jedoch sein Studium schon nach wenigen Jahren wieder ab. Während seine beiden Brüder in die väterliche Fabrik eintraten, entschied sich Ludwig, musikalisch und literarisch begabt, für eine künstlerische Laufbahn. Schon 1902, im Alter von zwanzig Jahren, veröffentlichte er seinen ersten Roman. Zahlreiche weitere Erzählungen, Novellen und Komödien folgten. 

Ab 1906 war er für die Neue Freie Presse tätig, vorerst als freier und später als angestellter Mitarbeiter. Der verantwortliche Redakteur Julian Sternberg hatte das Talent des jungen Mannes erkannt und förderte ihn soweit als möglich. Hirschfeld avancierte zu einem klassischen Proponenten des Wiener Feuilletonismus; er führte die Tradition von Hugo Wittmann – des Alt-Stars der Zeitung – mit Verve und Engagement fort.
Auf der Suche nach seinen Themen durchstreifte er die sozialräumlich so verschiedenen Bereiche von Wien, begab er sich in den Musikverein und die Ringstrassen-Cafés, in die Freudenau, auf den Naschmarkt und ins Freihaus, aber auch in die Vorstädte und Vororte oder auf den Kahlenberg. Gekonnt porträtierte er das dort verkehrende bürgerliche Publikum, die „fashionablen Damen und Herren“, für die „gute und tadellose Haltung das Wichtigste“ war, genauso wie die Unterschichten, die Fiaker, Volkssänger oder Obstverkäuferinnen. Als erfahrener Theaterbesucher registrierte Hirschfeld genau die verschiedenen Rollen, die die Menschen in der Stadt spielten und die wechselnden „Bühnen“, auf denen sie auftraten. Eine Auswahl seiner Feuilletons veröffentlichte er bald auch in mehreren Büchern: Wir kennen uns (1909), Die klingende Stadt (1911) und Das sind Zeiten! (1913) hiessen die liebevoll gestalteten Bändchen.

Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs unterbrach Hirschfelds Karriere keineswegs, im Gegenteil. In den folgenden Jahren gelang ihm der eigentliche Durchbruch. Wie viele seiner Kollegen wurde er ins Kriegspressequartier einberufen. Positive Stimmungsmache und Ablenkung vom immer trister werdenden Alltag hiess nun die Devise. Doch je länger der Krieg dauerte, desto mehr hört man aus seinen Texten auch die zunehmende Kriegsmüdigkeit und steigende Sehnsucht nach Frieden heraus.

Zutiefst ambivalent erlebte Hirschfeld die Zeit unmittelbar nach dem Krieg, zumal die Euphorie über den Beginn einer neuen Ära, in der die Masse des Volkes von nun an politisch mitbestimmten konnte. Als Journalist hatte Hirschfeld das Privileg, am 12. November 1918, bei der Ausrufung der Republik Deutsch-Österreich im Parlament persönlich anwesend zu sein. Zum anderen erkannte er recht deutlich die schwierige Herausforderung des Wiederaufbaus und der neuen Identitätsfindung. Denn aus der mächtigen kaiserlichen Reichshaupt- und Residenzstadt war die verelendete Kapitale eines republikanischen Kleinstaates geworden. 

Hirschfeld war Zeuge dieses epochalen Umbruchs. Voll Mitleid schildert er die neuen Grossstadt-Typen, die knienden Bettler und „schaurigen Schattenbilder des Hungers“. Die sich weiter verschärfende Wirtschaftskrise, die nicht enden wollenden Preissteigerungen und die galoppierende Inflation, die Massenarbeitslosigkeit bis hin zur Verelendung des Mittelstandes, all das floss in seine nunmehr mit beständiger Regelmässigkeit erscheinenden Feuilletons ein. Diese waren als kritische Kommentare eines bürgerlichen Zeitgenossen zu verstehen und in gewissem Sinne auch als Gegen-Sicht auf das sich etablierende Rote Wien.

Es war ein enormes Arbeitspensum, das Hirschfeld damals bewältigte. Denn neben seiner bisherigen Tätigkeit übernahm er für fast ein Jahrzehnt, von 1918 bis 1927, die Chefredaktion der Kultur- und Modezeitschrift Die moderne Welt. Und zusätzlich veröffentlichte der unermüdlich Schreibende noch unzählige literarische Werke, gab eine weitere Sammlung seiner Stadt-Feuilletons heraus (Wo sind die Zeiten..., 1921) und den „alternativen“ Stadtführer Das Buch von Wien. Was nicht im ‚Baedeker’ steht (1927). Letzteres sollte zu seinem bisher erfolgreichsten und sogar ins Englische übersetzten Werk werden. 
Seine Literaten- und Journalisten-Kollegen waren voll des Lobes über den talentierten Schreiber. Karl Kraus nannte ihn einen „mondänen Causeur, der lachend die Wahrheit sagt.“ Nur die Arbeiter-Zeitung, in ihrer Blattlinie naturgemäss konträr, warf Hirschfeld wiederholt allzu selbstverliebte „Plauderei“ vor. Hirschfeld selbst sah sich übrigens schlicht als „Humorist und Sonntagschroniqueur“ mit Hang zur Melancholie. Sich selbst persiflierend meinte er einmal: 
„Ich habe Gemüt und eine reichhaltige Krawattensammlung, ich kann in Aphorismen sprechen, ich bin allgemein gebildet, das heisst, ich habe so viel Bildung, um meine Unbildung zu verbergen. Ich bin neckisch und nachdenklich, zynisch, feinsinnig und unverschämt.“

1937 erreichte Hirschfeld den Höhepunkt seiner Karriere. Er hatte mittlerweile an die tausend Feuilletons geschrieben, dazu unzählige Literatur-, Theater- und Filmrezensionen. Und auch als Komponist war er in Erscheinung getreten, hatte mehrere populär gewordene Schlager geschaffen (Auf der Pupperlhutsch’n, Ich hab’ eine Tante in Peking, Komm auf einen Sprung zu mir und andere). Seine Werke wurden auf den Bühnen des gesamten deutschen Sprachraums aufgeführt, er konnte auf eine Zusammenarbeit mit den Grössen seiner Zeit verweisen, darunter Karl Farkas, Robert Stolz, Edmund Eysler, Leo Ascher, Paul Frank, Julius Bittner, Ralph Benatzky oder Oskar Straus.

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Auf der Pupperlhutsch'n, Programmheft, 1926. Sammlung Peter Payer, mit freundlicher Genehmigung.

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Publikation aus dem Jahr 1912, Covergrafik von Theodor Zasche. Sammlung Peter Payer, mit freundlicher Genehmigung. 

Trotz all der Anerkennung war Hirschfeld nicht blind für die politischen Verhältnisse ringsum. Die steigende Verhetzung und den zunehmenden Antisemitismus registrierte er mit Verachtung und Abscheu. Seine schlimmsten Befürchtungen sollten letztlich Realität werden. 
Unmittelbar nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten wurde er verhaftet und acht Wochen im Konzentrationslager Dachau interniert. Durch Fürsprache von Freunden und seiner Frau gelang die Freilassung. Zusammen mit den Kindern verliessen die Hirschfelds Wien und flohen nach Paris. Es folgten vier schwierige Jahre mit wechselnden Aufenthalten in Westfrankreich, ehe die gesamte Familie interniert und in das Anhaltelager Drancy verbracht wurde. Von dort ging am 6. November 1942 der Transport nach Auschwitz. 


Peter Payer ist Historiker und Stadtforscher. Er führt ein Büro für Stadtgeschichte und arbeitet als Kurator im Technischen Museum Wien. Herausgeber des Buches „Ludwig Hirschfeld: Wien in Moll. Ausgewählte Feuilletons 1907–1937“ (Löcker Verlag, 2020),  www.stadt-forschung.at