Ausgabe

Jüdisches Leben in Nizza

Tina Walzer

Bereits seit der Antike leben in der Stadt an der französischen Côte d‘Azur Juden

Inhalt

Juden leben in Nizza seit der Zeit der Antike ohne Unterbrechung, und die Stadt ist nach wie vor Mittelpunkt eines sehr lebendigen jüdischen Gemeindeverbands. Dieser spannt sich die französische Riviera entlang bis hinüber nach Monaco und Italien. Unter den vielen illustren Persönlichkeiten, die ab dem 19. Jahrhundert zur Kur, zur Erholung oder zur Partnersuche in die Küstenstadt kamen, führen einige Verbindungen auch zu den Familien Jellinek und Ephrussi in Wien. In Nizza geboren wurde die Holocaust-Überlebende, mehrfache französische Ministerin und Präsidentin des Europäischen Parlaments, Simone Veil (1927 – 2017).


Die Ansiedlung von Juden in Nizza geht vermutlich bereits auf die griechischen Phokäer im 4. vorchristlichen Jahrhundert zurück. Die jüdische Bevölkerung Nizzas zählt zu einer der autochtonen jüdischen Gruppen des Mittelmeerraumes, ähnlich den Romanioten in Griechenland. Anders als im restlichen Frankreich, waren Juden während des gesamten Mittelalters, der Neuzeit und selbst über die Shoah hinaus kontinuierlich im Territorium der Grafschaft Nizza ansässig und wurden niemals komplett vertrieben. Der älteste schriftliche Nachweis einer jüdischen Gemeindeorganisation datiert aus 1342. Nizza kam 1388 an das Haus Savoyen. Bis Anfang des 16. Jahrhunderts hatten Juden dieses Fürstentum verlassen, nur in der Stadt an der Côte d‘Azur blieb die jüdische Gemeinschaft, wo sie war: sie bildete dort weiterhin die „Université Juive“, eine selbstverwaltete kollektive Körperschaft, mit ihren höchstens dreihundert Mitgliedern klein, aber präsent. Sie benutzte ihre eigene Sprache, das Judéo-Niçois, einen lokalen Dialekt vermengt mit hebräischen Wörtern. Seit dem frühen 15. Jahrhundert sind eine Synagoge, ein Friedhof, zunächst beim Lympia-Hafen, später in den Hügeln des Hinterlands (bei der heutigen rue Sincaire) und eine Koscherfleischbank dokumentiert.

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Villa Kérylos der - mit den Ephrussi verschwägerten - Familie Reinach in Beaulieu-sur-Mer, Schlafraum: Rekonstruierte griechische Antike. Foto: T. Walzer, mit freundlicher Genehmigung.
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Théodore Reinach, auf die griechische Antike spezialisierter Archäologe, liess sich die Villa Kérylos als exakte Replika einer antiken griechischen Landhausanlage erbauen. Foto: T. Walzer, mit freundlicher Genehmigung.

Jüdische Zuwanderer
Bereits 1499 war eine Gruppe jüdischer Flüchtlinge aus Rhodos eingetroffen. Anfang des 17. Jahrhunderts machte sich die jüdische Gemeinde von jener in Turin, zu der sie bis dahin organisatorisch gehört hatte (die Herrschaft Savoyen wurde von dort aus regiert) unabhängig. 1648 lud der damalige Herzog Charles-Emanuel II. von Savoyen weitere Juden ein, sich hier niederzulassen und versprach ihnen die Handelsbegünstigungen des Freihafens Ville Franche (heute Villefranche-sur-Mer). In der Folge zogen 1651 Gruppen aus Flandern und aus Holland zu, und 1654 auch rund hundert portugiesische Marranos, die vor Verfolgungen durch die Inquisition via Toulouse in die Stadt geflohen kamen. 1669 schliesslich erreichte ein weiterer Flüchtlingsstrom Nizza aus dem Gebiet von Oran, andere kamen aus der Stadt der Päpste, Avignon, sowie aus der historischen Region um sie herum, dem Comtat Venaissain. Die Juden aus Portugal und dem Oranais durften ihre eigenen Universités, von der alteingesessenen jüdischen Gemeinde unabhängige, selbstverwaltete Institutionen, gründen. Wiewohl die verschiedenen Gruppen in den folgenden Jahrzehnten zu einer einzigen zusammenschmolzen, gaben ab nun die Portugiesen den Ton an. Aus der Gruppe der Avignoneser und Comtadins aber gingen im 19. und 20. Jahrhundert bedeutende Persönlichkeiten Frankreichs hervor.

Diskriminierungen
In den 1720er Jahren zwang der Herzog Victor Emanuel III. auch Nizzas Juden, ab nun (wie schon im Mittelalter) wieder ein äusserlich sichtbares Abzeichen zu tragen, das diese als Angehörige der jüdischen Bevölkerungsgruppe auswies. Im Falle Nizzas war dies, anders als etwa in den deutschen Ländern, ein ringförmiges, gelbfarbiges Stück Stoff, dass an der Überkleidung fixiert werden musste. Dieser Zwang zur öffentlichen Selbstkennzeichnung bestand bis in die Zeit der Französischen Revolution fort, wiewohl ab den 1750er Jahren Verstösse dagegen de facto nicht mehr geahndet wurden. 

1733 wurde die bis dahin über die Innenstadt verstreut lebende jüdischen Bevölkerung Nizzas auch wieder in ein klar abgegrenztes Stadtgebiet, die 1430 erstmals eingerichtete Giudaria umgesiedelt. Diese ursprünglich mittelalterliche Judengasse besteht heute noch in Nizzas Altstadt am Fusse des Festungshügels unter dem Strassennamen rue Benoît Bunico und ist dort auf einer zweisprachigen Strassentafel auch so bezeichnet. Die Beschränkung der Ansiedlung auf das Judenviertel wurde 1750 gelockert, die Giudaria durfte vergrössert werden und neue Bauplätze beim Hafen wurden gestattet, um Gebäude, Geschäfte, Fabriken und Manufakturen zu errichten. 1773 konnte in der heutigen rue Benoît Bunico eine Synagoge eingerichtet werden, die Vorgängerin der heutigen Grossen Synagoge. 

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Ausblick von der Gartenterrasse der Villa Ephrussi de Rothschild auf Cap Ferrat Richtung Südwesten über die Bucht von Villefranche zur französischen Côte d‘Azur. Foto: T. Walzer, mit freundlicher Genehmigung.

1792 bis 1814 gehörte Nizza zu Frankreich und die Juden erhielten nach dem Code Civil auch bürgerliche Rechte verliehen. Als die Stadt aber 1828 zurück unter die Verwaltung Sardiniens kam, wurde der Ghettozwang wiedereingesetzt. Der Nizzaer Politiker Benoît Bunico (1801 – 1863) hob das Ghetto im Jahr 1848 auf und setzte die Emanzipation durch, noch bevor die Stadt 1860 schliesslich wieder Frankreich zugeschlagen wurde. In der Folge wuchs die jüdische Bevölkerung Nizzas an, und der Gassenverlauf der Giudaria wurde zum Dank nach dem Wohltäter benannt.

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Die Villa Ephrussi de Rothschild in Saint-Jean Cap Ferrat: Neun Gärten aus aller Welt. Blick über das formal gestaltete Gartenparterre. Foto: T. Walzer, mit freundlicher Genehmigung.
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Blick zum Gebäude der Villa Ephrussi de Rothschild in Saint-Jean Cap Ferrat. Foto: T. Walzer, mit freundlicher Genehmigung.
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Blick in den Innenhof der Villa Ephrussi de Rothschild im Stil maurischer Paläste. Foto: T. Walzer, mit freundlicher Genehmigung.
 

Die Shoah in Nizza
In den Anfangsjahren des Zweiten Weltkriegs lag Nizza in der entmilitarisierten Zone zwischen Vichy-Frankreich, das mit NS-Deutschland kollaborierte, und Italien. Ab Herbst 1942 wurde die Stadt Italien unterstellt, und dramatische Szenen spielten sich ab: die Deutschen hatten im August jenes Jahres mit der Organisation von Deportationen der Juden aus der Region begonnen, im September weigerten sich aber die Italiener, die Juden in Nizza an die Deutschen auszuliefern. Daraufhin strömten mehr als einhunderttausend jüdische Flüchtlinge in die Stadt. Unter ihnen war auch Serge Klarsfeld (geboren in Bukarest 1935).  Ein Jahr später, nach dem Waffenstillstand zwischen Italien und den Alliierten, besetzten die Deutschen die vormals italienischen Gebiete; ihr Anführer in Nizza war ausgerechnet Adolf Eichmanns Mitarbeiter, der Kriegsverbrecher Alois Brunner. Die französischen Behörden, die ihrerseits die jüdischen Flüchtlinge genau beobachtet hatten, teilten ihre Informationen mit Brunner und halfen ihm, seine Opfer aufzuspüren. In der Grossen Synagoge Nizzas richteten die Nazis ein Internierungslager ein, aus dem Hôtel Excelsior machten sie ein Gefängnis. Zwischen September 1943 und Januar 1944 liessen sie fünftausend Juden aus Nizza deportieren, ins Durchgangslager Drancy und von dort ins KZ Auschwitz, unzählige weitere wurden vor Ort verfolgt, gefoltert und ermordet. Nur der mutigen Haltung der Einwohner Nizzas, Zivilisten und Geistliche, die viele Juden versteckten, beschützten und ihnen zur Weiterflucht verhalfen, der französischen Widerstandsbewegung Résistance und den jüdischen Jugendorganisationen ist es zu verdanken, dass nicht noch mehr Menschen sterben mussten. Mitte August 1944 wurde die Côte d’Azur von westalliierten Truppen im Zuge der Operation Dragoon befreit. Siebenundsechzig Bewohner von Nizza werden heute zu den Gerechten unter den Völkern gezählt.
Entwicklungen seit 1945
Nach der Befreiung bauten die überlebenden Juden die Gemeindestrukturen wieder auf. In den 1960er Jahren kamen weitere Zuwanderer aus Nordafrika hinzu, sodass am Ende des Jahrzehnts die jüdische Bevölkerung der Stadt und ihrer Umgebung auf 2.000 angewachsen war. Einen neuen Höhepunkt mit 20.000 jüdischen Einwohnern erreichte Nizza nach der Jahrtausendwende. Diese Zahl dürfte sich aufgrund der Terroranschläge und der darauffolgenden Abwanderung mittlerweile halbiert haben.
Neben der Grossen Synagoge und ihrer Kongregation verzeichnet die Nizzaer Regionalvertretung der jüdischen Gemeinden, des Consistoire, wie die von Napoleon geschaffene Organisation der jüdischen Konfession in Frankreich heisst, vierzehn weitere Synagogen und Bethäuser in Nizza. Zu ihnen zählt neben Michelet, Yehouda Halévy, Corniche Fleurie und Merkaz Viterbo auch seit 1996 Maayane Or (hebr. Quelle des Lichts), eine 1996 in Nizza gegründete konservative Gemeinde, die zu Massorti France gehört, sowie die aschkenasische Synagoge ACI Ashkénaze de Nice Ezrat A’him in der rue Blacas 1. Die aschkenasische Synagogengemeinde war von Flüchtlingen aus den osteuropäischen Ländern am 20. November 1930 gegründet worden und erlebte ihren grössten Zulauf zur Zeit des Zweiten Weltkriegs. Bereits im Dezember 1944 feierte sie ihre erste Nachkriegs-Bar Mitzwah in der Synagoge am boulevard Dubouchage, zehn Jahre darauf übersiedelte sie an die jetzige Adresse. Die Gründungsväter dieser neuen Schul stammten wie Paul Weil, Willy Tugendhaft und Michael Poznanski aus Deutschland, Belgien und den osteuropäischen Ländern, während in der Grossen Synagoge vor allem Nachkommen französischer und italienischer Juden dominierten. Zum Einzugsbereich des Nizzaer Consistoire gehören ausserdem elf Synagogen in der Region, und zwar Antibes, Bastia (Korsika), Cagnes s/Mer, Cannes, Draguignan, Fréjus, Grasse, Menton, Monaco, St. Laurent du Var sowie Valbonne.
In Nizza bestehen heute neben den Synagogen, einer Mikwe und einem Gemeindezentrum, drei jüdischen Schulen, mehreren koscheren Restaurants und dem Musée Marc Chagall für den berühmten jüdischen Maler auch eine Reihe weiterer jüdischer Einrichtungen, wie der bereits 1685 gegründete Wohltätigkeitsverein Société de Bienfaisance Israélite de Nice (SBIN) zur Unterstützung verarmter und bedürftiger Juden, das Spital, die Vierteljahrschrift Nitsan oder der Radiosender Chalom Nitsan auf FM 89,3. 

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Strassenschild der ehemaligen Judengasse in Nizza, im lokalen Dialekt Judaria, in der jüdischen Variante Giudaria genannt. Foto: Patrice Semeria. Quelle: wiki,edia commons, abgerufen am 02.06.2021, gemeinfrei: https://commons.wikimedia.org/wiki/
File:NIK-2007-_042bunico_JudariaPlaq.jpg

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Mahnmal für die Opfer der Shoah auf dem jüdischen Friedhof von Nizza. Foto: T. Walzer, mit freundlicher Genehmigung.

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Blick über den jüdischen Friedhof, errichtet im Jahr 1783 auf dem Festungshügel hoch über der Stadt Nizza. Foto: T. Walzer, mit freundlicher Genehmigung.
 

Der jüdische Friedhof liegt seit 1783 am alten Festungshügel neben dem christlichen Friedhof, dem cimetière du Chateau. Die namensgebende Zitadelle hatte bereits Ludwig XIV. schleifen lassen, zurück war ein Trümmerfeld geblieben. Der Begräbnisplatz liegt atemberaubend, überblickt er doch die Altstadt bis hin zu den Bergketten am Horizont ebenso wie das azurblaue Mittelmeer. Gleich beim Eingang zum jüdischen Teil erinnert seit 1951 ein Kenotaph an die Opfer der Shoah. Unter den vielen interessanten Monumenten findet sich hier auch die Grabstätte von Alfred van Cleef (1872 – 1938), einem der Gründungsväter des Juwelierimperiums Van Cleef & Arpels. Die ältesten Grabsteine stammen vom Vorgängerareal und wurden hierher mitgenommen. Auf dem allgemeinen Friedhofsteil nebenan liegen weitere berühmte jüdische Persönlichkeiten begraben, wie der Astérix-Autor René Goscinny (1926 – 1977), und der Autopionier Emil Mercédès-Jellinek (1853 – 1918), und am Nizzaer Friedhof La Caucade der Soziologe Magnus Hirschfeld (1868 – 1935). In unmittelbarer Nachbarschaft zum jüdischen Friedhof am Festungshügel findet sich die Allée des Justes parmi les Nations mit einem Mahnmal für die Gerechten unter den Völkern aus Nizza.

Seit 2016 wurde Nizza mehrmals von Terroranschlägen erschüttert, die auch unter der jüdischen Bevölkerung Todesopfer forderten. Die bis in die Gegenwart nicht abreissenden Anschlagsserien in ganz Frankreich haben dazu geführt, dass viele Juden in Erwägung gezogen haben, Frankreich zu verlassen. Nach Israel hat sich der Zuzug von Juden aus Frankreich in den vergangenen Jahren klar verstärkt. Es ist nicht abzusehen, wie weit diese Entwicklung die Zukunft der französischen jüdischen Gemeinden noch gefährden wird.

Nachlese:
Bernhard Blumenkranz (Hg.), Histoire des Juifs en France. Toulouse 1972. (= Collection Franco-Judaica, hg.v. Commission Française des Archives Juives, Bd. I)
www.consistoirenice.org, http://synablacas.net, http://ezratahim.fr, www.vianissa.com, https://jewish-heritage-europe.eu/have-your-say/exploring-jewish-nice/, https://jguideeurope.org/fr/region/france/provence/nice/, https://www.jewishvirtuallibrary.org/nice, https://museedupatrimoine.fr, https://monumentum.fr/synagogue-temple-israelite-pa06000030.html, Cnaan Liphshiz, “Hit by terror and a sluggish economy, Nice’s once-vibrant Jewish community faces uncertain future,” JTA, September 26, 2019, abgerufen am 27.042021. Bernhard Schmidt, Nizza nach dem Terror. In: Jüdische Allgemeine, 18.7.2016, angerufen am 27.04.2021. Robert B. Fishman, Suppenküche an der Côte d‘ Azur. In: Jüdische Allgemeine, 25.2.2014, abgerufen am 27.04.2021. Stadtführungen Jüdisches Nizza werden angeboten von Robert Levitt, dem Gründer der historisch-archivalischen Gesellschaft Vianissa, Kontakt: robert.levitt@vianissa.com, Tel. +33 6 59 87 96 69.

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Beim jüdischen Friedhof wurde auf dem Festungshügel Nizzas ein Strassenzug Allée des Justes parmi les Nations benannt. 
Foto: T. Walzer, mit freundlicher Genehmigung. 

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Grabmal Alfred Van Cleef, jüdischer Friedhof Nizza. Foto: T. Walzer, mit freundlicher Genehmigung.

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Auf dem christlichen Friedhof am Festungshügel, dem cimetière du  Chateau, liegt unter anderem der Astérix-Schöpfer  René Goscinny bestattet. Foto: Hartmut Riehm. Quelle: wikimedia commins, abgerufen am 02.06.2021, gemeinfrei: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:GoscinnyRenéGrabstein.JPG 
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Nizzas Gerechte unter den Völkern werden auf dieser Erinnerungstafel gewürdigt. Foto: T. Walzer, mit freundlicher Genehmigung.