Eine Familiengeschichte über Ausgrenzung, Trennung und Emigration
In Krems an der Donau bestand im Mittelalter eine bedeutende Judengemeinde. Sie fand durch die Vertreibung der Juden im Zuge der Wiener Gesera 1420/21 ein jähes Ende. Die Ansiedlung vereinzelter Judenfamilien in Krems und Stein endete mit der Zweiten Vertreibung 1669/71. Danach hatte die Stadt erst wieder ab dem 19. Jahrhundert eine jüdische Gemeinde. Doch auch diese Community wurde in den Jahren nach dem Anschluss 1938 ausgelöscht. Den meisten jüdischen Bürgern gelang 1938-1939 die Flucht, hundertdreissig Juden wurden deportiert und ermordet. In den letzten Jahrzehnten hat sich die Stadt Krems mit engagierten Experten um die Dokumentation der Geschichte und Erhaltung des kulturellen Erbes dieser versunkenen jüdischen Gemeinde bemüht. Bei der Aufarbeitung und digitalen Dokumentation spielt ein Kenner der Materie eine tragende Rolle: Prof. Dr. Robert Streibel, geboren 1959 in Krems, Historiker, Autor, Lyriker und Direktor der Volkhochschule in Wien-Hietzing. Ab 1985 nahm Streibel mit den aus Krems stammenden jüdischen Familien bzw. mit deren Nachkommen in Israel, England oder den USA Kontakt auf. Die Ergebnisse seiner Forschungen sind elektronisch auf einer Website (http://judeninkrems.at/) und analog in mehreren Publikationen dokumentiert.
Quellen zur Geschichte der Familie Brüll
Private Unterlagen jüdischer Familien haben sich nach Vertreibung, Emigration und Vernichtung nur sporadisch erhalten. Im Falle der Familie Brüll waren dies in erster Linie Fotos. Besser steht es um öffentlich verwahrte Unterlagen. Dabei konnten für die Familie Brüll mehrere Archivalien eruiert werden, unter anderem im Kremser Grundbuch und in den Matriken der Israelitischen Kultusgemeinde Wien. Bei Recherchen für das Buch Nach dem „Anschluss“. Berichte österreichischer EmigrantInnen aus dem Archiv der Harvard University (2013) von Margarete Limberg und Hubert Rübsaat fand sich eine 1939 verfasste autobiographische Abhandlung des Dr. Paul Brüll aus Krems. Diese ist für die Geschichte der Familie Brüll von besonderem Wert, ebenso die im Niederösterreichischen Landesarchiv und im Österreichischen Staatsarchiv, Abteilung Archiv der Republik verwahrten Akten über Vermögen, Entschädigungs- und Restitutionsangelegenheiten aus 1938-1945 und 1955-1962. Diese Quellen hat Robert Streibel 2018 in seinem Beitrag Die Familien Brüll und Bieler in Krems an der Donau verwertet. Die Inskriptions- und Promotionsuntererlagen einiger Mitglieder der Familie Brüll fanden sich 2021 im Universitätsarchiv Wien.
Die Familie des Dr. Paul Brüll in Krems
Die Familie des Kremser Rechtsanwalts Dr. Paul Brüll war es, die Streibel dazu veranlasste, sich mit der Geschichte der Juden in Krems in der NS-Zeit zu beschäftigen:
„Mit der Geschichte der Familie Brüll hat mein Interesse für die Jüdinnen und Juden in Krems begonnen, [...] denn das Haus der Familie Brüll liegt einen Steinwurf von meinem Elternhaus in der Schillerstrasse entfernt. [...] Meine Grossmutter hat bei Dr. Brüll als Bedienerin gearbeitet. Sie hat mir schon früh die Geschichte erzählt, wie die Nazis 1938 ins Haus gekommen sind und ihn geprügelt haben. Sie musste das Blut wegwischen. Bei meinem Schulweg habe ich das Haus der Brülls in der Schillerstrasse passiert und immer ein sonderbares Gefühl gehabt, dass sonst niemand dieses und weitere Verbrechen erwähnt hat. [...] Damals als Jugendlicher begann ich nachzufragen und wunderte mich anfangs über die ausweichenden Antworten. Plötzlich waren sie alle weg.“
Es gab mehrere jüdische Familien namens Brüll. Die später in Krems ansässige Familie stammte aus Zawoja (Galizien) an der heutigen Südspitze Polens. Die Söhne des am 18. September 1916 verstorbenen Kaufmannes und Sägewerksbetreibers Salomon Brüll wurden in Zawoja geboren: Josef am 23. April 1885, Paul am 1. Dezember 1894. Josef studierte (mit Muttersprache „polnisch“) an der juridischen Fakultät der Universität Wien und wurde dort am 9. Juli 1910 zum Doctor iuris promoviert. Zwei weitere aus Zawoje gebürtige Söhne des Gutsbesitzers Salomon Brüll, Moritz und Samuel (Muttersprache „deutsch“) studierten ebenfalls an der Wiener juridischen Fakultät.
Unser Proponent Dr. Paul Brüll hatte am Ersten Weltkrieg teilgenommen und nach diversen Angaben in Wien studiert. Überraschender Weise konnte er in den Studien- und Promotionsunterlagen der Universitäten Wien und Prag nicht nachgewiesen werden.1 Nach seinem Studium ging er 1924 als Rechtsanwaltsanwärter von Wien nach Krems und wurde von der Rechtsanwaltskammer Wien am 29. September 1925 mit dem Wohnsitz Krems in die Liste der Rechtsanwälte eingetragen. Dort war er 1925-1938 als Rechtsanwalt tätig. Seine Wiener Kollegen konnten sich anfangs nicht vorstellen, wie man in Krems eine Rechtsanwaltskanzlei eröffnen könne, da diese Stadt seit den 1920er Jahren als Hochburg des Nationalsozialismus galt und nach dem Anschluss zur Gauhauptstadt wurde. Beruflich war Paul mit Krems zufrieden, eine gesellschaftliche Teilhabe ausserhalb der jüdischen Gemeinschaft war für ihn allerdings nicht möglich. Am 14. Juni 1926 eheliche Paul Sabine Mandelberg (geboren am 23. Mai 1899 in Jaroslau/Galizien). Die beiden hatten zwei Töchter: Renate und Susanne. Pauls Bruder, Dr. Josef Brüll (Wien IX., Porzellangasse 20), der im April 1932 Irma Hauser geheiratet hatte, erschoss sich ein knappes Jahr später in seiner Kanzlei.
Susanne Brüll als Jugendliche in der Schweiz, um 1945. Privatbesitz.
Der Rechtsanwalt Dr. Paul Brüll wohnte zunächst in Stein an der Donau, wo auch seine Tochter Susanne geboren wurde. Im Jahre 1932 wird er als Vorstandsmitglied, 1936 als Vizepräsident der Kremser Kultusgemeinde genannt. Am 10. Februar 1934 erwarb er bzw. seine Frau Sabine von dem jüdischen Destillateur und Weinproduktenhändler David Rachmuth das Haus in der Schillerstrasse 10. Im selben Jahr intervenierte er für die im Zuge der Februarkämpfe 1934 verhafteten Kremser Sozialdemokraten. In seiner autobiographischen Abhandlung, die Paul 1939 für die Universität Harvard verfasste, gab er Beispiele für Fehlurteile von politisch besetzten Geschworenengerichten zur Zeit des Ständestaates und beschrieb die Stimmung zwischen Christlichsozialen, Sozialisten und Nationalsozialisten:
„Viele sehr besonnene und an sich kultivierte und das Recht liebende Menschen wurden damals aus Abneigung gegen ein Regierungssystem, das ständig das Recht beugte, in die Reihen der Nationalsozialisten gedrängt.“
Die Ereignisse nach dem Anschluss 1938
Schon vor der nationalsozialistischen Machtübernahme hatte Paul seine Gattin dazu veranlasst, sich wegen einer Bürgschaft an ihren in New York lebenden Bruder zu wenden. Mit 13. März 1938 waren das Ehepaar Paul und Sabine, die Töchter Renate und Susanne sowie Pauls Schwiegermutter Rachel Mandelberg in der Schillerstrasse 10 wohnhaft. In seiner Abhandlung erzählte Paul auch davon, wie er nach dem Anschluss 1938 in seiner Kanzlei überfallen und blutig geschlagen wurde, auch über eine ihm abgepresste Verzichtserklärung auf seine finanziellen Forderungen. Dennoch seien die Verhältnisse für Juden in Krems anfänglich besser gewesen als in Wien. Im Juni 1938 wurde Paul in Krems von der Gestapo verhaftet, Bargeld, Sparbücher und Schmuck in der Wohnung der Brülls wurden beschlagnahmt. Paul wurde in Wien von der Gestapo verhört und gedemütigt. Schliesslich zwang man ihn dazu, sich mit der Beschlagnahme seines Vermögens einverstanden zu erklären und Österreich binnen drei Monaten zu verlassen. So wurde die Liegenschaft der Brülls als „jüdisches Eigentum“ beschlagnahmt. Paul Brüll blieb elf Tage in Haft. Nach seiner Haftentlassung versuchte man von mehreren Seiten, ihn mit Druck zum Verkauf seines Hauses zu bewegen. Pauls täglicher Gang zu seiner Kanzlei, an der inzwischen die Bezeichnung „Jüdischer Betrieb“ angebracht war, glich einem Spiessrutenlauf. Mitte Juli 1938 verzichtete er vor der Rechtsanwaltskammer Wien auf die Ausübung der Rechtsanwaltschaft. Die psychische Belastung der Brülls war inzwischen unerträglich, eine Arisierung konnte Paul jedoch mit dem Hinweis auf die Beschlagnahme durch die Gestapo abwenden. „Nach martervollen Wochen“ durfte die Familie „ausreisen“, ohne das Haus verkauft zu haben. „Der Jude Brüll emigrierte nach dem Umsturz nach Amerika“, schrieb der Kremser Bürgermeister 1941 an die Reichsstatthalterei Niederdonau. Im selben Jahr war von der „Angelegenheit der Sabine Sara Brüll“ die Rede, da Pauls Gattin offenbar als Eigentümerin der Liegenschaft Schillerstrasse 10 eingetragen war. In diesem Haus wurde nun die Hitlerjugend untergebracht. Nach dem Ende der NS-Herrschaft wurde den Brülls ihr Haus „rückgestellt“. Doch erst in den 1960er Jahren kam es zur Veräusserung der Liegenschaft durch Pauls Tochter Renate. Dazu existiert ein Foto, aufgenommen vor dem Haus Schillerstrasse 10: Renate Brüll mit ihrer Familie aus den U.S.A. vor dem Elternhaus in Krems, anlässlich des Verkaufs. Noch Jahrzehnte später bezeichnete die neue Hausbesitzerin Dr. Brüll als „Saujud“, weil er sein Haus nach 1945 „nicht so billig“ verkaufen hatte wollen.
Susanne Brüll, 2014 vor dem Haus Verzar, Sonnenhof, Arlesheim, Schweiz.
Emigration: Die Familie in Amerika – Susanne in der Schweiz
Laut Schreiben der Gestapo Wien vom 12. Juni 1942 an das Reichssicherheitshauptamt in Berlin waren „Paul Israel Brüll“ und „Sabine Sara Brüll geb. Mandelberg“ mit 8.9.1938 „unbekannt ins Ausland verzogen“. Tatsächlich hatte die Familie Österreich bereits am 18. August 1938 den Rücken gekehrt. Im September 1938 erfolgte die „Ausreise“ nach Holland, knapp vor Kriegsausbruch ging es mit dem Schiff nach Amerika. Seit dem 13. September 1939 war die Familie in Jersey City wohnhaft – alle, ausser Susanne! Susanne Brüll war seit ihrer Geburt behindert, sie konnte fast nicht sprechen. Eine Auswanderung in die U.S.A. mit einem behinderten Kind war damals rechtlich nicht zulässig, und so fand Paul für das Mädchen einen Platz im Behindertenheim Sonnenhof zu Arlesheim in der Schweiz. Nach Kriegsende wurde Susanne als Österreicherin von Arlesheim nach Klagenfurt gebracht. Die Betreuung dort war mit der in Arlesheim nicht vergleichbar. So wurde Susanne – offenbar halb verhungert – zum Sonnenhof zurückgebracht.
Durch das Hilfsfondsgesetz (Bundesgesetz vom 18. Jänner 1956, womit Bundesmittel zur Hilfeleistung an politisch Verfolgte, die ihren Wohnsitz und ständigen Aufenthalt im Ausland haben, zur Verfügung gestellt werden) konnten die betroffenen Personen beim Hilfsfonds ihre Anträge auf Entschädigung stellen. Im Österreichischen Staatsarchiv erliegt die Korrespondenz der Brülls mit dem Hilfsfonds. Als Dr. Paul Brüll am 10. Juli 1956 seinen Antrag an den Hilfsfonds richtete, waren in seinem Haushalt in 89, Romaine Avenue, Jersey City 6, NJ, U.S.A. nur noch das Ehepaar Brüll und Pauls Schwiegermutter Rachel Mandelberg wohnhaft. Paul schrieb damals an den Fonds: er sei seit 1952 in niederer Stellung bei den Vereinten Nationen angestellt, habe in Abendkursen Rechnungsprüfung studiert und ein Master Degree in Accounting erworben. Er erläuterte die Umstände, die zur Einlieferung seiner Tochter Susanne in das Heim in der Schweiz geführt hatten:
„Meine Tochter Susanne, geboren 7. June 1930, ist seit Geburt schwachsinnig. Meine Bemühungen, ein amerikanisches Einreisevisa für sie zu erhalten, waren erfolglos, da nach dem amerikanischen Einreisegesetz die Einreise von Schwachsinnigen nicht erlaubt ist: Ich brachte sie in einem Heim in Wien vorläufig unter. Da es mir jedoch klar war, dass sie im Zuge der Amtshandlung des Dritten Reiches getötet werden würde, setzte ich mich – von Holland, wo ich auf die Überreise wartete – mit dem Kinderheim „Sonnenhof“ in Arlesheim, Kanton Baselland in Verbindung. Der Vorsteher des Kinderheimes [...] verschaffte für Susanne eine Einreisebewilligung in die Schweiz und brachte sie ins Heim. Susanne ist noch immer dort, da alle meine Bemühungen Susanne nach Amerika zu bringen, am Widerstand des amerikanischen Konsulats in Zürich scheiterten. [...]“
Der Historiker Robert Streibel erforscht das jüdische Krems.
Er habe dem Sonnenhof bislang an die 40.000 Schweizer Franken bezahlt. Um für seine Tochter aufkommen zu können, habe er zwei Jobs annehmen und – auch am Abend – schwer arbeiten müssen. Durch diese Anstrengungen sei er inzwischen schwer erkrankt und in ständiger ärztlicher Behandlung. Er ersuchte daher den Hilfsfonds dies bei der Entschädigung zu berücksichtigen und ihm neben dem Betrag für den „Berufsverlust“ noch einen Betrag zur „teilweisen Gutmachung dieses Härtefalles“ zu gewähren. In die Rolle des höflichen Bittstellers gezwungen, wie man sie auch aus entsprechenden Anträgen in der NS-Zeit kennt, fragte Paul 1958 beim Hilfsfonds nach, ob er bald mit einer Zahlung rechnen könne. Andere aus seiner Gruppe hätten bereits Zahlungen erhalten. Er sei deswegen „einigermassen beunruhigt“, bedauere aber zugleich die Arbeitsüberlastung der Behörde.
1963 erhielt Brüll ein Schreiben, worin ihm vom Fonds wegen erlittenen Berufsverbots eine Entschädigung zugesprochen wurde. Die Auszahlung hat Paul offenbar nicht mehr erlebt. Denn im August 1965 teilte Sabine Brüll mit, ihr Mann sei bereits verstorben. Sie bestätigte die eingelangte Überweisung von 190,14 U.S. Dollar und fragte nach, ob sie noch weitere Zahlungen zu erwarten habe. Zudem erläuterte sie die dem Fonds Situation ihrer Tochter Susanne in der Schweiz: „Seit 3 Jahren ist sie [...] an Tuberkulose erkrankt und musste ins Hospital. Das war mit grossen Kosten verbunden und wir konnten nicht mehr den Zahlungen nachkommen. Ich schulde daher eine grosse Summe dem Kinderheim.“ Erst 1978 wurde Sabine schliesslich mitgeteilt, dass ihr ein Betrag von 9.200 Schilling zustehe.
Die Aktenlage dokumentiert auch den schleppenden Geschäftsgang in Österreich bei der Entschädigung von NS-Opfern. Heute weiss man, dass damals die Entschädigung von „Emigranten“ für die Regierung kein vorrangiges Problem darstellte. Die Verhältnisse sollten letztendlich erst durch den 1995 gegründeten Nationalfonds nachhaltig verbessert werden. Aus der Korrespondenz lässt sich auch die angespannte Lebenssituation der Familie Brüll erkennen, die ihr Los mit vielen jüdischen Flüchtlingen in einem Land mit fremder Sprache und fremden Lebensgewohnheiten teilte. Anders als etwa Handwerker oder Mediziner konnten Juristen wegen der erforderlichen hohen Sprachstandards bei gleichzeitigem Ausbildungsdefizit ihre bisherigen Berufskarrieren nicht fortsetzen. Sie mussten minder qualifiziere und schlechter bezahlte Jobs annehmen. Bei Paul Brüll kamen zu seiner ohnehin schon schwierigen Lebenssituation gesundheitliche Probleme und die ständige finanzielle Last zur Versorgung seiner behinderten Tochter.
Robert Streibel bei Susanne Brüll – Eine berührende Begegnung in der Schweiz
Susanne lebte seit dem 10. Dezember 1938 im Behindertenheim Sonnenhof. Ein Wiedersehen mit ihren Eltern hat es danach nicht mehr gegeben. Abgesehen von der prekären finanziellen und gesundheitlichen Situation ihres Vaters in New Jersey hätte wohl eine temporäre Begegnung bei Susanne mehr Irritation als Freude hervorgerufen. Nach Jahren der Suche konnte Robert Streibel durch Zufall mit dem Sonnenhof in Kontakt treten. Er erhielt ein E-Mail von Markus Hausherr aus der Schweiz. Dieser stellte sich ihm als von der Gemeinde Arlesheim eingesetzter Beistand vor und bat um Mithilfe bei der Beibringung von Unterlagen für seine Klientin: „Frau Susanne Brüll wohnt seit ihrer Kindheit im Behindertenheim Sonnenhof, Arlesheim, Obere Gasse 10, CH-4144 Arlesheim/Schweiz.“
Darauf entschloss sich Streibel, Susanne Brüll in der Schweiz zu besuchen. Arlesheim, mit rund 9.200 Einwohnern der Zentralort des gleichnamigen Bezirks, zählt zu den wohlhabenderen Vororten der Stadt Basel und gilt als bevorzugte Wohn- und Villengemeinde des Kantons Basel-Landschaft. Streibel flog am 23. Juli 2014 nach Zürich, reiste mit der Bahn nach Basel, mit der Strassenbahn nach Arlesheim Dorf. Am Bahnsteig wurde er von einer Frau im Rollstuhl und ihrer Betreuerin erwartet. Streibel war, seit sie ihr Vater am 10. Dezember 1938 hierher bringen liess, der erste Besucher aus Krems. Das 1924 gegründete Sonnenhof – Zentrum für Menschen mit Behinderung in Arlesheim ist eine nach anthroposophischen Gesichtspunkten geführte Einrichtung. Susanne war 2014 die zweitälteste Bewohnerin des Sonnenhofs und damit eine historische Persönlichkeit. Susanne wohnte im Haus Verzar. „Angrenzend an das Areal des Odilien- und Hollenhauses liegt das ‚Haus Verzar‘. In dieser grosszügigen Villa leben 7 Senioren und Seniorinnen mit Unterstützungsbedarf, die ihren Ruhestand geniessen dürfen und an kulturellen Veranstaltungen teilnehmen können,“ erfährt man aus der Website des Sonnenhofs.
Robert Streibel verbrachte mit Susanne Brüll einen denkwürdigen Tag. Er erlebte ihre Wahrnehmungen und ihre Sprache, die wie „ein Knurren“ klang. Ihre Stimme ist auch auf dem damals entstandenen Kurzfilm zu hören. Er erlebte auch ihre Vorlieben: Sie liebte Puppen, spielte mit Bauklötzen und malte bunte Bilder. Ihre grosse Leidenschaft aber waren Spazierfahrten im Rollstuhl und Autofahrten auf dem Beifahrersitz. Anderseits hatte Susanne ausgeprägte Verlassensängste. Kein Wunder, nachdem sie als Achtjährige ins Behindertenheim gekommen war und seither von ihrer Familie getrennt leben musste! Als Kind habe sie viel geschrien, wusste die Betreuerin zu berichten. Ansonsten aber hatte sie wohl am Sonnenhof ein gutes Leben. Susanne Brüll starb am 21. Oktober 2019, bis zuletzt liebevoll umsorgt und gepflegt.
Quellen (Archivalien):
Österreichisches Staatsarchiv / Archiv der Republik:
Signatur AT-OeStA/AdR E-uReang VVSt VA B 29183 (Paul, geb. 1.12.1894)
Signatur AT-OeStA/AdR E-uReang VVSt VA B 29184 (Sabine, geb. 23.05.1899)
Signatur AT-OeStA/AdR E-uReang AHF B Brüll Paul Dr.
Niederösterreichisches Landesarchiv:
Signatur RStH ND Ia-10 K 61/079-1942: Zuweisung eines Hauses in Krems (Besitzer: Jüdin Sabine Brüll) an HJ
Signatur RStH ND IVd-8 VA/B210: Brüll Sabine Krems an der Donau)
Universitätsarchiv Wien:
Nationale der Studierenden der Juridischen Fakultät;
Promotionsprotokoll für das Doktorat der Rechtswissenschaften: Bd. 6 (1908-1911), Signatur M 32.6-960 Brüll, Josef (09.07.1910) Geburtsort: Zawoja/Galizien
Literaturhinweise (Auswahl):
Robert Streibel: Die Familien Brüll und Bieler in Krems an der Donau. Es gibt keinen Schlussstrich, die Geschichte macht manchmal nur eine Pause. In: Friedrich Polleross (Hrsg.): Jüdische Familien im Waldviertel und ihr Schicksal (= Schriftenreihe des Waldviertler Heimatbundes 58), Waidhofen an der Thaya: 2018, S. 370- 389, bes. S. 370 -383.
Paul Brüll: Wie aus Recht Unrecht wurde. In: Margarete Limberg, Hubert Rübsaal (Hrsg.): Nach dem „Anschluss“. Berichte österreichischer EmigrantInnen aus dem Archiv der Harvard University. Mandelbaum-Verlag, Wien: 2013, S. 63-84.
Robert Streibel: Susanne Brüll in Basel gestorben. In: Juden in Krems
(http://judeninkrems.at/susanne-bruell-in-basel-gestorben/; http://judeninkrems.at/news/)
Robert Streibel: Susanne Brüll in Basel gestorben. In: Mein Bezirk. Krems, 3. November 2019
(https://www.meinbezirk.at/krems/c-lokales/susanne-bruell-in-basel-gestorben_a3729693)
Robert Streibel: Zu Besuch bei Susanne. Kurzfilm, 28.07.2014.
(https://www.youtube.com/watch?v=5bglIzDvOR4)
Robert Streibel: Krems 1938–1945. Eine Geschichte von Anpassung, Verrat und Widerstand. Verlag Bibliothek der Provinz, Weitra: 2014.
Robert Streibel: Und plötzlich waren sie alle weg. Die Juden der Gauhauptstadt Krems und „ihre“ Mitbürger.
Picus Verlag, Wien: 1989 (http://judeninkrems.at/und-plotzlich-waren-sie-alle-weg-2/)
Robert Streibel: Alltagschronik 1938-1945 „Krems im dritten Reich“. Picus Verlag, Wien: 1993.
(http://judeninkrems.at/mein-besuch/)
Robert Streibel: Krems und der „Wein des Vergessens“. Die Juden: eine fast dreissigjährige Spurensuche. In: DAVID, Heft 119 (2018) (https://davidkultur.at/artikel/krems-und-der-wein-des-vergessens)
Anna Lambert: Du kannst vor nichts davonlaufen. Erinnerungen einer auf sich selbst gestellten Frau. Aus dem Englischen von Alexander Potyka. Hrsg. Robert Streibel. Picus Verlag, Wien: 1992. (http://judeninkrems.at/?s=Anna+Lambert; http://judeninkrems.at/1-anna-lambert-du-kannst-vor-nichts-davonlaufen/)
Hannelore Hruschka: Die Geschichte der Juden in Krems an der Donau von den Anfängen bis 1938. Dissertation, Wien: 1979.
Juden in Krems von A bis Z: Brüll. In: Juden in Krems (http://judeninkrems.at/b-wie-bass/)
Die vertriebenen Kremser Juden: Brüll. In: Juden in Krems (http://judeninkrems.at/anhang/)
Krems (Niederösterreich). In: Aus der Geschichte der jüdischen Gemeinden im deutschen Sprachraum (https://www.jüdische-gemeinden.de/index.php/gemeinden/k-l/1116-krems-niederoesterreich)
Geschichte der Juden in Krems. In: Wikipedia (https://de.wikipedia.org/wiki/Geschichte_der_Juden_in_Krems)
Das Haus Verzar, eine Seniorenvilla in Sonnenhof – Zentrum für Menschen mit Behinderung in Arlesheim (https://www.sonnenhofschweiz.ch/; https://www.sonnenhofschweiz.ch/erwachsene/wohnen/verzar/)
Gemeinde Arlesheim (https://www.arlesheim.ch/de/)
Gertrude Enderle-Burcel: Antisemitismus in den Regierungen Figl und Raab (1945 - 1961). In: DAVID Heft 127 (2020) https://davidkultur.at/artikel/antisemitismus-in-den-regierungen-figl-und-raab-1945-1961
Barbara Serloth: Nach der Shoah. Politik und Antisemitismus in Österreich nach 1945. Mandelbaum Verlag, Wien-Berlin: 2019, Leseprobe https://www.mandelbaum.at/extracts/leseprobe-serloth-kern.pdf
Weitere Literaturhinweise und online-Artikel siehe unter: (http://judeninkrems.at/bucher/; https://davidkultur.at/)
1 Dort ist lediglich ein anderer Paul Brüll nachweisbar. Dieser wurde am 24.5.1893 in Wien als Sohn des jüdischen Branntweingeschäftspächters Max Brüll geboren, wohnte in Wien XVII, Clemens Hofbauerplatz 9 und wurde am 7. Mai 1920 an der Juridischen Fakultät der Universität Wien zum Doktor Juris promoviert. Ich danke an dieser Stelle folgenden Kolleginnen und Kollegen für ihre wertvollen Hinweise: Astrid Desput (Administrative Bibliothek des Bundes), Maria Bader, Renate Domnanich, Stefan Mach und Robert Rill (Österreichisches Staatsarchiv), Werner Berthold (Niederösterreichisches Landesarchiv), Nina Knieling (Universitätsarchiv Wien) und Michaela Laichmann (Wiener Stadt- und Landesarchiv) und Thomas Schneeberger (Sonnenhof Arlesheim AG).
Alle Abbildungen: Robert Streibel, mit freundlicher Genehmigung.