Drei Künstler, die wie kaum andere unsere Wahrnehmung geprägt haben von der Zeit, in der sie lebten, werden dieses Jahr in Jubiläen gefeiert.
Marcel Proust wurde vor 150 Jahren geboren, John Heartfield vor 130 Jahren, Natalia Ginzburg erblickte vor 105 Jahren das Licht der Welt. Alle drei waren bedeutende Chronisten ihrer Zeit. Präzise beschrieben sie ihre Umwelt und die sie umgebende Gesellschaft – soziale Verhältnisse, politische Einflussnahmen, schleichende wie auch gewaltsam herbeigeführte Veränderungen. Gemeinsam ist ihnen ein jüdischer Familienhintergrund, und zwar, präziser, ein säkular-aufgeklärtes Elternhaus, das auf den Erwerb des bildungsbürgerlichen Kanons und die Integration in die nichtjüdische heimatliche Mehrheitsgesellschaft höchsten Wert legte. Die drei Lebensgeschichten und ihre künstlerischen Manifestationen spiegeln die Entwicklung der jüdischen Aufklärungstradi- tion (hebr. Haskala) über den Zeitraum eines äusserst bewegten Jahrhunderts, 1850 – 1950, in den kontinentaleuropäischen Leitkulturen: Frankreich, Deutschland und Italien.
Marcel Proust, 1895. Foto: Otto Wegener. Quelle: Wikimedia commons, gemeinfrei: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Marcel_Proust_1895.jpg
Marcel Proust (10. Juli 1871 Paris-Auteuil – 18. November 1922 Paris) ist der Chronist der Belle Époque Frankreichs. Seine in Romanform gegossenen Sinnesassoziationen sind vergleichbar mit der Bewusstseinsstrom-Erzähltechnik des annähernd gleichaltrigen James Joyce (1882 – 1941). Diese lösen, indem sie die jüdische Zachor-Tradition säkular fortschreiben, ein ausgeprägtes Erinnern aus; sie führen uns entlang des Wegs auf der Suche nach der verlorenen Zeit (À la recherche du temps perdu). Ausgangspunkt ist für den Autor die Welt seiner Eltern, die Mutter aus einer der alten Elsässer jüdischen Familien, Jeanne Clémence Weil, der Vater Dr. Adrien Proust Katholik und ein bekannter Pathologe und Epidemologe. Von der Familien-Sommerfrische in Combray (in Wirklichkeit das Städtchen Illiers bei Chartres, das mittlerweile den literarischen Ort als Namenszusatz trägt) aus schweift der Blick des asthmageschwächten Kindes und später des umschwärmten Künstlers zur französischen Oberschicht, zu den ihr dienenden Klassen sowie den assimilationswilligen Aussenseitern. Es ist seine Umgebung, die der Autor misst, bemisst, die eigene Distanz dazu ermisst und mit skalpellfeinen Schnitten in ihre sozial bedingten Einzelbestandteile zerlegt. Proust, als chronisch kranker Allergiker, als Jude und als Homosexueller mehrfach stigmatisiert, setzt sein künstlerisch hochsensibles Sensorium ein, um abzuschätzen, wo er selbst steht, wie er wahrgenommen wird, was dies für ihn bedeutet. Der Justizskandal der gegen den elsässisch-jüdischen Offizier Alfred Dreyfus gerichteten Affaire Dreyfus, der 1893 beginnt und nicht nur die Grande Nation, gerade auch in Hinblick auf die Akzeptanz von Juden, für dreizehn Jahre zutiefst spaltet, wird auch für ihn zum Menetekel der aufgeklärt-postrevolutionären Bürgergesellschaft Frankreichs, in der die Ideale von Liberté-Égalité-Fraternité, zumindest was die Juden des Landes betrifft, zu Grabe getragen werden.
Proust verarbeitete die sich graduell steigernden Schmähungen, denen insbesondere sein Freund, der Kunsthistoriker, Mäzen und Kritiker Charles Ephrussi (1849 Odessa – 1905 Paris) ausgesetzt war, in der Romanfigur Swann.
Edmund de Waal berichtet in seiner Ephrussi-Familienchronik Der Hase mit den Bernsteinaugen, ein Mann habe in jenen Jahren der aufgeheizt antisemitischen Stimmungslagen seinen Kindern, im Vorbeigehen das Haus Ephrussi in der Pariser vornehmen avenue d’Iena bedeutend, eingebleut, hier wohne „Le sale juif“.1 Im ersten Band der Recherche du temps perdu, In Swanns Welt (Du côté de chez Swann, 1913), beschreibt Proust eine jener Abendgesellschaften, auf denen er selbst, aber auch die Brüder Ephrussi vor Ausbruch der Affaire Dreyfus aus und ein zu gehen pflegten, und schildert eine ihrer Begegnungen mit den Lakaien (Balzacs „Tiger“), darunter einem „trutzig“ wirkenden, der „einem Henker auf gewissen Renaissancebildern glich“, welcher Swann die Garderobe abnimmt. Dabei, so der Erzähler über den Diener, „[…] wurde die Härte seines Blicks durch die Weichheit seiner Baumwollhandschuhe kompensiert, sodass es Swann vorkam, als bezeige er zwar Verachtung für seine Person, desto grösseren Respekt jedoch für seinen Hut.“2 Bei der Verachtung sollte es letztlich nicht bleiben, die Familie Ephrussi wurde wie Millionen anderer zu einem Opfer der Shoah.
John Heartfield vor seinem Sommerhaus in Waldsieversdorf um 1960. Foto: Aussenmacher. Quelle: Wikimedia commons, gemeinfrei: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Waldsieversdorf_John_Heartfield_vor_seinem_Sommerhaus_um_1960.JPG?uselang=de
John Heartfield, als Helmut Herzfeld geboren (19. Juni 1891 Berlin-Schmargendorf – 16. April 1968 Ost-Berlin), und sein Bruder Wieland Herzfelde (1896 – 1988) zählen zu den herausragenden Künstler- und Verlegerpersönlichkeiten der Weimarer Republik, die im Angesicht der zunehmend Nationalsozialismus-affinen deutschen Gesellschaft der Zwischenkriegszeit als ausgesprochene Kommunisten einen besonders kämpferischen politischen Anspruch vertraten. Die beiden Brüder gründeten den Berliner Malik Verlag, der bald auch zu einem Sprachrohr der Dada-Bewegung wurde. Während Wieland, der Schriftsteller, sein Unbehagen über die politische und gesellschaftliche Entwicklung seiner Heimat mittels verlegerischer Unterstützung der Sowjetunion artikulierte, bediente sich der Grafiker, Maler und Fotograf John Heartfield der politischen Fotomontage, um seine Mitbürger aufzurütteln und zu ideologiebewusster Gegenwehr zu motivieren. 1938 flohen die Brüder nach London, ein Jahr später weiter in die U.S.A., nach dem Krieg kehrten sie ins mittlerweile kommunistische Ost-Berlin zurück.
So weit, so geläufig.
Weniger bekannt ist, dass die Brüder als kleine Kinder zwischen 1896 und 1899 mit den Eltern und zwei weiteren Geschwistern in einer Almhütte auf dem Gaisberg (Salzburg-Aigen) gelebt hatten. Ihr Vater, ein ausgebildeter Jurist und anarchistischer Schriftsteller namens Franz Held (recte Herzfeld, 1862 Düsseldorf – 1908 Rankweil, Vorarlberg), aus der westfälischen Baumwollfabrikantendynastie Herzfeld in Neuss am Rhein, war in einer der führenden rheinischen Unternehmerfamilien aufgewachsen, die sich politisch äusserst engagiert betätigte. Im Haus des republikanisch gesinnten Grossvaters verkehrte Karl Marx, der Bruder des Grossvaters, Onkel Joseph Herzfeld (gest. 1901) fungierte 1848 als Vorsitzender des „Demokratischen Klubs“ und verschaffte Ferdinand Lassalle Auftritte vor tausenden Zuhörern. Der jüngste Sohn Franz lebte mit der Arbeiterin und Anarchistin Alice Stolzenberg zusammen in Berlin. Das Paar setzte vier Kinder in die Welt, das älteste war Helmut, das jüngste Wieland. Wegen „G’tteslästerung“ wurde Franz 1895 angeklagt, daraufhin gingen die Anarchisteneltern samt Kindern in den Untergrund. Die Familie floh in die Schweiz, wurde von dort ausgewiesen und fand Zuflucht in besagter Almhütte auf dem Salzburger Gaisberg. Franz und Alice liessen ihre vier kleinen Kinder 1899 dort alleine zurück. Der Vater verstarb neun Jahre später in der Nervenheilanstalt Valduna in Rankweil (Vorarlberg). Glücklicherweise kümmerte sich der Aigner Bürgermeister um die Kinder und stellte zum ältesten Bruder des Vaters, dem Rechtsanwalt und Reichstagsabgeordneten für SDP und danach KPD Joseph Herzfeld (1853 Neuss – 1939 Ritten bei Bozen) Kontakt her. Dieser sprang ein und stellte die Versorgung der verwaisten Kinder sicher. Es ist eine merkwürdige Familiengeschichte, in der die antibürgerlich rebellischen Nachkommen einer aufgeklärten Unternehmerdynastie, angesichts von Verfolgung und Unterdrückung ebenso unbeirrt wie ihre Vorfahren, anstelle der althergebrachten, strengen jüdischen Gesetze mit nahezu religiösem Eifer ihren ideologischen Glauben verfochten.
Die Familie Manzoni auf einer Reise nach Florenz. Zeichnung aus Alessandro Manzonis Tagebuch. Foto: Giovanni Galavresi Sforza. Quelle: Wikimedia commons, gemeinfrei: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Famiglia_Manzoni.jpg
Die bekannte italienische Schriftstellerin Natalia Ginzburg (14. Juli 1916 Palermo – 7. Oktober 1991 Rom) wuchs in Turin als Tochter des Arztes Giuseppe Levi in einer bewusst jüdisch geprägten Umgebung auf. Ihre Schilderungen der Kindheitswelt, des aufkommenden Faschismus und der Verfolgung des Vaters ebenso wie der drei Brüder und ihres Ehemannes als Juden und als im Widerstand politisch aktive Linke während des Zweiten Weltkriegs, die Verbannung in die Abruzzen, die Ermordung ihres Ehemannes, des Literaturhistorikers Leone Ginzburg (1909 Odessa – 1944 Rom, von der Gestapo zu Tode gefoltert) und die folgende Notsituation als Frau und politisch Verfolgte alleine mit zwei kleinen Kindern (eines von ihnen der Historiker Carlo Ginzburg), wurden zurecht vielfach mit Literaturpreisen bedacht und haben für Italiens Auseinandersetzung mit der Zeit des Faschismus den gleichen Stellenwert wie Carlo Levis Christus kam nur bis Eboli (1945).
Ginzburg arbeitete ab 1945 als Lektorin, bald auch Autorin für den links geprägten Turiner Einaudi Verlag in der Künstlergruppe um Cesare Pavese (1908 – 1950) und übersetzte Marcels Prousts Recherche du temps perdu. Im Stil des italienischen Neoverismo schuf sie mehrere literarische Werke, in denen sie sich mit der durch Krieg und Faschismus sozial aufgebrochenen italienischen Gesellschaft auseinandersetzt. Einen letzten Höhepunkt erreichte Ginzburgs literarisches Schaffen mit der Biografie des italienischen Nationaldichters Alessandro Manzoni (1785 – 1873), die unter dem Titel Die Familie Manzoni (La famiglia Manzoni, 1983) erschien, gleichsam ein Gegengewicht zu ihrem Familienlexikon von 1963 (Lessico famigliare) bildet, Ginzburgs Lebensweg als Chronistin der italienischen Gesellschaft über die einhundert Jahre seit der Einigung Italiens abrundet und zu einem tief nachdenklichen Abschluss bringt. Die Familie Manzoni versammelt wesentlich mehr Frauen als Männer, die stets in vollkommener Abhängigkeit vom berühmten pater familias, dem Künstler, gehalten werden, nicht zuletzt ökonomisch, aber ebenso psychisch wie in der innerfamiliären Dynamik. Es ist ein niederschmetterndes Zeugnis eines Nationalhelden, das Natalia Ginzburg hier anhand der erhaltenen und, quasi als kostbarer Schatz der italienischen Selbstbefreiung und Bürgerlichkeit gehüteten Familienkorrespondenz vorlegt.
So schön die Freiheit für männliche, wohlhabende Bürger Italiens wohl war, so vorsintflutlich patriarchal geprägt sah der Umgang mit zentralen anderen gesellschaftlichen Teilen – Angehörigen untergeordneter sozialer Gruppen, aber vor allem innerhalb der eigenen Familie mit jenen des anderen Geschlechts, aus. Die Freiheit entpuppt sich als exklusiv, die gängige selbstdefinierte, stolz-aufklärerische Identität Italiens aber wird, in den Augen Ginzburgs, ob der Enge und Herzlosigkeit des andauernden Männer-Elitendenkens prekär.
Anmerkungen:
1 Edmund de Waal, Der Hase mit den Bernsteinaugen, S. 111f.
2 Marcel Proust, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Teil 1: In Swanns Welt, S. 427.
Nachlese:
Marcel Proust, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. 7 Teile. Deutsch: 10 Bände, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1981. (Originalausgabe u.d.T. À la recherche du temps perdu Paris. Paris: Gallimard Verlag 1919)
Edmund de Waal, Der Hase mit den Bernsteinaugen. Wien-Paul Zsolnay Verlag 2011.
Edmund White, Proust. München: Claassen Verlag 2001.
Natalia Ginzburg, Alle unsere Gestern. Übersetzt von Maja Pflug. Berlin: Wagenbach Verlag 2002. (Originalausgabe u.d.T. Tutti i nostri ieri, Torino: Giulio Einaudi Editore 1952)
Dies., Die kleinen Tugenden. Übersetzt von Maja Pflug und Alice Vollenweider. Berlin: Wagenbach Verlag 2001. (Originalausgabe u.d.T. Le piccole virtú. Torino: Giulio Einaudi Editore 1962)
Dies., Familienlexikon. Übersetzt von Alice Vollenweider. Berlin: Wagenbach Verlag 2007. (Originalausgabe u.d.T. Lessico famigliare, Torino: Giulio Einaudi Editore 1963)
Dies., Die Familie Manzoni. Übersetzt von Maja Pflug. Berlin: Wagenbach Verlag 2001. (Originalausgabe u.d.T. La famiglia Manzoni, Torino: Giulio Einaudi Editore 1983)
„Es fällt schwer, von sich selbst zu sprechen, aber es ist schön.“ Natalia Ginzburgs Leben in Selbstzeugnissen, zusammengestellt von Maja Pflug. Berlin: Wagenbach Verlag 2001. (Originalausgabe u.d.T. È difficile parlare di sé, Torino: Giulio Einaudi Editore 1999)