Eine juridische Kariere im Alten Österreich
Am 15. Dezember 1848 – in der dritten Sitzung des jüngst berufenen Kabinetts Felix Schwarzenberg – eröffnete der damalige Justizminister Dr. Alexander Bach seinen Kollegen, „dass ihm ein Gesuch von einem Juden um Zulassung zur Gerichtsdienstleistung zugekommen sei“. Die zuständigen Landesbehörden unterstützten zwar dieses Gesuch, doch Bach war der Ansicht, man sollte der Emanzipation der Juden nicht vorgreifen, ausserdem „sei ein besonnener Fortschritt für die Juden weit besser als ein zu präzipitierter“.1 Daher sei er, so der Justizminister, für die Ablehnung dieses Gesuchs. Der Ministerrat stimmte ihm zu.
Die rechtlichen Verhältnisse der jüdischen Untertanen der Habsburgermonarchie waren bis zur Revolution des Jahres 1848 durch viele einzelne, je nach Kronland unterschiedliche Verordnungen und Gesetze – Judenordnungen und Judenpatente – geregelt, die Juden hinsichtlich ihrer politischen und gesellschaftlichen Stellung gegenüber ihren katholischen, aber auch protestantischen und griechisch-orthodoxen Mitbürgern manifest diskriminierten. Bezüglich der eigentlichen Religionsausübung genossen die Juden aber teilweise grössere Freiheiten als die zwei letztgenannten Religionsgruppen. Mit der Märzrevolution von 1848 gerieten die Dinge in Bewegung. Einzelne Massnahmen, wie die Bewilligung der völligen Religionsfreiheit für die Juden in Böhmen und die Aufhebung der Judensteuer im ganzen Reich, brachten spürbare Erleichterungen, und die sogenannte Pillerstorfsche Verfassung vom 25. April 1848 beinhaltete die Emanzipation der Juden vor dem Gesetz, also auch den freien Zutritt zu allen Ämtern und Erwerbszweigen. Diese Verfassung wurde zwar erlassen, trat aber nie in Kraft.
Vor diesem Hintergrund hatte der Ministerrat das Ansuchen des nicht namentlich genannten Juden abgelehnt; die endgültige Entscheidung über die Emanzipation der Juden sollte der nach Kremsier einberufene Reichstag treffen. Hier wurde diese Frage tatsächlich ausführlich und kontroversiell diskutiert. Bevor eine Entscheidung zustande kam, wurde am 4. März 1849 von der Regierung eine Verfassung oktroyiert und der Reichstag aufgelöst. Das kaiserliche Patent über die politischen Rechte vom selben Tag garantierte auch prinzipiell Glaubensfreiheit – mit allen daraus resultierenden Folgen und galt selbstverständlich auch für Juden. Die Regierung behielt sich allerdings nach – auch hier kontroversiell geführten – Debatten vor, die Details, die faktische Umsetzung dieses Prinzips im Falle der Juden durch ein noch zu erlassendes „Judengesetz“ festzulegen. Der mit dieser Aufgabe betraute Justizminister, nun Anton Ritter von Schmerling, empfahl in seinem Gutachten, das er erst im November 1849 präsentierte, ein verbindliches Reichbürgerschaftsgesetz, das die Rechte und Pflichten aller Staatsbürger, also auch der Juden, regeln sollte. Doch Bach, mittlerweile Innenminister, dem die weitere Durchführung oblag, ergriff keine Initiative in dieser Richtung.
Initiativ geworden war allerdings Justizminister Schmerling. Wie wir aus dem Protokoll des österreichischen Ministerrates vom 16. März 1850 erfahren, war folgendes geschehen: Das Brünner Appellationsgericht hatte das Ersuchen des eingangs erwähnten Juden, Salomon Lemberger, um Zulassung zur Richteramtsprüfung mit der Begründung abgelehnt, dass „der Bittwerber die Prüfung aus dem kanonischen Recht nicht abgelegt hat“. Das konnte er auch nicht. Seit 1790 war den Juden zwar gestattet, die Würde eines Doctor iuris civilis zu erlangen, nicht aber das Doktorat des kanonischen Rechtes. Sie durften auf Grund einiger Dekrete aus dem Vormärz dann Vorlesungen über das kanonische Recht besuchen, waren aber nicht zu Prüfungen zugelassen und erhielten auch keine Frequentationszeugnisse. Schmerling hatte den Minister für Kultus und Unterricht, Leo Graf von Thun und Hohenstein, über den Fall Lemberger informiert, worauf Thun Mitte Jänner 1850 die Universitäten angewiesen hatte, Juden zu Prüfungen des kanonischen Rechtes zuzulassen. Und Schmerling hatte mit Erlass vom 1. März 1850 verfügt, dass Juden auch ohne Prüfungszeugnisse aus dem Kirchenrecht „transitorisch“, das heisst, bis zur Erlassung eines neuen Gesetzes über die Staatsprüfungen, Richteramtsprüfungen ablegen durften. Lemberger, so die Mitteilung Schmerlings an seine Ministerkollegen, hatte sowohl die Prüfung aus dem kanonischen Recht als auch die Auskultantenprüfung2 bereits abgelegt. Auch die Frage der allfälligen Eidesablegung, Dienst- oder Amtseid wie bei christlichen Bewerbern oder nur Privateid, war schon gelöst: Lemberger hätte den bei den Christen üblichen Amtseid zu leisten, allerdings auf die Thora. Doch die Mehrheit im Ministerrat sprach sich „gegen die Aufnahme von Juden zu den Richteramtsposten“ aus. In Provinzen mit grösserem jüdischem Bevölkerungsanteil wie Böhmen, Mähren oder Galizien erschienen – zumindest in den Städten – Juden als Richter akzeptabel. Aber in Tirol, Steiermark oder Oberösterreich? Zudem bestimmte die allgemeine, nach wie vor gültige Gerichtsordnung aus dem Jahre 1781, „dass die Juden gegen die Christen bedenkliche Zeugen sind“.3
Erst über ein halbes Jahr später unternahm Schmerling einen neuen Versuch einen Juden in den Justizdienst aufzunehmen. Im Ministerrat vom 23. November 1850 brachte er den Fall Lemberger erneut zur Sprache. Dieser, so argumentierte der Justizminister habe „seine Studien durchaus mit Vorzugsklassen absolviert, […], die Richteramtsprüfung mit dem Kalkül vorzüglicher Fähigkeit bestanden“; zudem lege er „ein untadelhaftes bescheidenes Betragen“ an den Tag. Mit einem Wort – der ideale Kandidat für einen wichtigen Justizposten. Und siehe da, was vor sieben Monaten für die Mehrzahl der Minister noch ein Ablehnungsgrund war, nämlich befürchtete Vorurteile seitens der Bevölkerung, war auf einmal nur noch für eine Minderheit des Ministerrates ausschlaggebend: der Mehrheitsbeschluss folgte dem Antrag des Justizministers.
Tatsächlich wurde Lemberger Ende 1850 zum Auskultanten für Mähren und Schlesien ernannt und verblieb in dieser Stellung, zuletzt als Staatsanwaltsubstitut in Troppau (Opava), über drei Jahre. Die politische Situation im Habsburgerreich hatte sich allerdings mit der Herausgabe der sogenannten Silvesterpatente nachhaltig verändert, die Ära des Neoabsolutismus hatte begonnen. Diese Patente stellten einen veritablen gesellschaftlich-politischen Rückschritt dar; sie hoben unter anderem die Verfassung und die geltenden Grundrechte der Staatsbürger auf. Zwar blieben die freie Religionsausübung der anerkannten Glaubensgemeinschaften und die Gleichheit vor dem Gesetz weiter garantiert, nicht aber die Gleichberechtigung der Juden. Das klang nicht nur verwirrend, das war es auch. Offizielle Stellen, auch Ministerien, behandelten die sogenannten „Judenangelegenheiten“ in der Praxis auf recht verschiedene Art und Weise.
Salomon Lemberger verlor zwar nicht seine Stelle als Auskultant, entschloss sich aber, seine berufliche Laufbahn als Advokat fortzusetzen. Sein Gesuch um die Erlangung einer Advokatenstelle in Böhmen, Mähren und Schlesien wurde von staatlichen Stellen wärmstens unterstützt, seine bisherige Dienstleistung und sein Charakter auf das höchste gelobt; gleichzeitig wurde angemerkt, dass „im Richterstande aber das Religionsbekenntnis eines Juden häufig der Anlass zur Verhinderung bei richterlichen Funktionen bleiben werde“. Selbst der Justizminister war der Meinung, „dass ein Jude, vermöge seines Religionsbekenntnisses bei Ausübung des Richteramtes öfter in Kollision kommen muss, und es daher nie dabei zu einer selbständigen Stellung bringen kann“. Daher wäre für den Antragsteller die Fortsetzung seiner Kariere als Advokat die beste Lösung.
Lemberger wurde als „rechtsgültiger“ Advokat bestätigt und erhielt Mitte 1854 die Advokatenstelle in Bielitz4 verliehen; kurz darauf quittierte er die staatliche Auskultantenstelle. Er starb, erst 42jährig, im April 1862, wie wir aus einem Nachruf erfahren, „ein eifriger Verfechter des Judentumes, der alle ihm dargebotenen Würdenämter standhaft ausschlug, um seinen Glauben nicht untreu zu werden, um Jude im schönsten Sinne des Wortes zu bleiben.“
Thomas Kletečka, geb. 1949 in Prag. Studium der Psychologie, Slawistik und Geschichte. Historiker, langjähriger Mitarbeiter an der Edition „Die Protokolle des österreichischen Ministerrates 1848-1867“, zuletzt an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Forschungsschwerpunkte: Österreichische und tschechische Geschichte des 19. Jahrhunderts; Nationalitätenproblematik; Revolutionsepoche 1848/49 und Beginn des Neoabsolutismus in der Habsburgermonarchie.
Quellen- und Literaturhinweise
DIE PROTOKOLLE DES ÖSTERREICHISCHEN MINISTERRATES 1848-1867 II/1: Das Ministerium Schwarzenberg, 5. Dezember 1848 – 7. Jänner 1850, bearbeitet und eingeleitet von Thomas Kletečka (Wien 2002); II/2: Das Ministerium Schwarzenberg, 8. Jänner 1850 – 30. April 1850, bearbeitet und eingeleitet von Thomas Kletečka und Anatol Schmied-Kowarzik unter Mitarbeit von Andreas Gottsmann (Wien 2005); II/4: Das Ministerium Schwarzenberg, 14. Oktober 1850 – 30. Mai 1851, bearbeitet und eingeleitet von Thomas Kletečka unter Mitarbeit von Anatol Schmied-Kowarzik (Wien 2011).
Die Neuzeit. Wochenschrift für politische, religiöse und Cultur-Interessen. 2. Jg. 1862. Österreichisches Staatsarchiv: Haus-, Hof- und Staatsarchiv, Kabinettskanzlei.Österreichisches Staatsarchiv: Allgemeines Verwaltungsarchiv, Justiz, Justizministerium Allgemeine Reihe. Österreichisches Staatsarchiv: Allgemeines Verwaltungsarchiv, Nachlässe, Nachlass Bach.
BIHL, Wolfdieter: Die Juden. In: Adam Wandruszka/Peter Urbanitsch (Hg.), Die Habsburger-monarchie 1848-1918, Bd. III: Die Völker des Reiches 2 (Wien 1980), S. 880-948.
FRANKL-GRÜN, Adolph: Geschichte der Juden in Kremsier mit Rücksicht auf die Nachbargemeinden, 3 Teile in 2 Bänden (Breslau 1896/1901).
HÄUSLER, Wolfgang: Das österreichische Judentum zwischen Beharrung und Fortschritt. In: Adam Wandruszka/Peter Urbanitsch (Hg.), Die Habsburgermonarchie 1848-1918, Bd. IV: Die Konfessionen (Wien 1985), S. 633-669.
LEITNER, Rudolf: Die Judenpolitik der österreichischen Regierung in den Jahren 1848-1859 (phil. Diss., Wien 1924).
Moravští Židé v rakousko-uherské monarchii (1780-1918) / Mährische Juden in der österreichisch-ungarischen Monarchie (1780-1918) (= Mikulovská sympozia 26, Brno 2000).
WEISS, Heinrich: Die Judengesetzgebung der österreichischen Regierung in Bezug auf den Realitätenbesitz, Ehe und Taufe vom Jahre 1848-1867 (phil. Diss., Wien 1928).
DUBNOW, Simon: Die neueste Geschichte des jüdischen Volkes. Das Zeitalter der ersten Reaktion und der zweiten Emanzipation (= DUBNOW, Simon: Weltgeschichte des jüdischen Volkes 9, Berlin 1929).
WOLF, Gerson: Zur Culturgeschichte in Österreich-Ungarn (1848-1888) (Wien 1888).
1 Präzipitiert = übereilt.
2 Auskultant = die erste (weitgehend unbezahlte) gerichtliche Ausbildungsstelle für Juristen nach Absolvierung der Universität.
3 Diese Bestimmung wurde erst 1860 aufgehoben!
4 Bielitz, damals eine Stadt von 26.000 Einwohnern mit Bezirksamt und Bezirksgericht in Österreichisch Schlesien; heute Bielsko, Teil der polnischen Stadt Bielsko-Biała nahe der tschechischen und slowakischen Grenze.