Annemarie Selinko
Wir suchen nach jüdischen Spuren im Hochhaus in der Herrengasse - wir finden sie, kommt doch das Konzept der Errichtung eines zeitgemässen Hochhausbaues dem Selbstverständnis der emanzipierten jüdischen Bevölkerung in der Zeit nach der Katastrophe des Ersten Weltkrieges entgegen: 1932 nach den Plänen der Architekten Theiss&Jaksch, mitten in der Weltwirtschaftskrise, bewusst nicht als Sozialbau, sondern als Ertrags- und Prestigeobjekt, nach neuestem technischem Standard, mit Stahlskelett, im Stil der Neuen Sachlichkeit erbaut, sollte es der Inbegriff des modernen Wohnhauses werden. Das Argument der Arbeitsplatzbeschaffung diente als Alibi für die Verwendung öffentlicher Mittel.
Annemarie Selinko in Wien. Quelle: www.wikimedia.commons.
Als besonders fortschrittlich galt die Art der Wohnungen. Es sollten „Junggesellenwohnungen“ sein, klein, gut ausgestattet, bequem, ganz im Gegensatz zur christlich-sozialen Vorstellung von einer Familienwohnung. Entsprechend höher war auch die Erwartung an die Mieteinnahmen. Das Angebot richtete sich an betuchte Einzelpersonen, insbesondere auch an berufstätige Frauen mit eigenem Einkommen. Die Auseinandersetzungen waren heftig; man fürchtete die Entstehung eines Sündenpfuhls.
So zog das Haus auch Manager, die damals noch nicht so genannt wurden, Ärzte, Schauspieler, Künstler, insbesondere der damals neuen Medien wie Film und Radio, Schriftsteller und Frauen, die ein selbstbestimmtes unabhängiges Leben führen wollten, an.
Annemarie Selinko bezog so eine Wohnung. Sie wurde 1914 geboren. Ihre Familie betrieb das Unternehmen „Brüder Selinko, Grosshandel und mechanische Weberei“; das Vermögen war jedoch durch den Ersten Weltkrieg beträchtlich geschmälert worden. Annemaries Kapital war eine fundierte Bildung und das Talent zum Schreiben; sie wusste es gut zu nutzen und war schon sehr jung einigermassen erfolgreich als Journalistin und als Autorin von aktuellen Reportagen und auch Kurzgeschichten. Sie fand ihren Mentor und Förderer in Hans Habe.
Bald entwickelte sich ihre Wohnung zum Treffpunkt für bedeutende Kulturschaffende, wie die Literaten Franz Theodor Csokor, Joe Lederer, Karl Frucht und Herta Pauli, den Burgschauspieler Heinz Woester, und viele andere, deren Spuren sich verlaufen haben. Die journalistische Ausbeute sind zahlreiche Interviews, so mit Egon Friedell oder Franz Molnár, aber auch mit interessanten Menschen ohne besondere Position in der Gesellschaft. Sie schreibt über Mode, über den Wiener Fasching und verfasst vergnügliche Geschichten über unkonventionelle Originale wie Kartenaufschlägerinnen oder Blumenfrauen. Ihr erstes Buch „Ich war ein hässliches Mädchen“ (1), wurde zum beachtlichen Erfolg.
Literarisch verewigt sie die Zeit im Hochhaus in ihrem Roman „Morgen ist alles besser“ (2). Es ist der etwas abenteuerliche Weg von der fast gescheiterten Maturantin aus verarmter bürgerlicher Familie zur gefragten Radiosprecherin, eines jungen Mädchens das geradezu das Idealbild einer modernen Frau verkörpert. Vor dem Hintergrund der tristen sozialen und wirtschaftlichen Situation der 30-er Jahre schildert sie eindrucksvoll den Tod des Vaters im Krankenhaus. Nunmehr auf sich selbst gestellt, wirft sie die alten Ideale der humanistischen Bildung über Bord und lernt Maschineschreiben, Stenographie und Buchhaltung. Sie arbeitet hart, steigt zum Star des Radios auf und setzt sich auch in dieser unwirtlichen Welt der dünnen Luft durch. Alles spielt, wenn sie nicht auf Reisen ist, im Milieu der kleinen, aber kommunikativen Junggesellenwohnung des Hochhauses.
Annemaries Selinkos Zeit im Hochhaus endet wie sie enden musste: Wenngleich sie durch ihre noch im Juni 1938 geschlossene Ehe mit dem dänischen Diplomaten Kerking Kristiansen in Sicherheit ist, hilft sie ihren Freunden bei der Flucht vor den Nazis. So manchen waren die letzten konspirativen Treffen in der Herrengasse hilfreich, vielen jedoch nicht.
Sie schreibt im dänischen Exil die bewegte Geschichte mit zeithistorischem Hintergrund „Heut heiratet mein Mann“ (3), erfolgreich und nach dem Krieg verfilmt.
Die Krönung von Annemarie Selinkos literarischem Schaffen war der in Form eines Tagebuchs geschriebene Roman „Desirée“ (4). Wir alle – nunmehr Grossmütter und ältere Damen – haben ihn in den 50erund 6oer Jahren gelesen – die Geschichte der Marseiller Seidenhändlerstochter, die es von der verlassenen Verlobten Napoleon Bonapartes zur Königin von Schweden brachte. Ich war noch nicht einmal Teenager als ich – unerlaubt und bei gedämpftem Licht - dieses Buch in einigen Nächten geradezu verschlang.
Niemand ahnte, welcher Mensch hinter der Autorin von Desirée stand. Niemand wollte es ahnen. Ich wurde nur stutzig über einen Satz am Deckblatt, mit dem sie das Buch ihrer Schwester widmet, die so früh sterben musste. Ich konnte damit nichts anfangen, ich war nur berührt. Erst Jahrzehnte später wurde mir der tragische Hintergrund klar: Annemarie Selinkos Schwester Liselotte war Opfer des Holocaust. Mutter Grete Selinko kann Annemarie noch nach Dänemark folgen, nicht jedoch ihre Grossmütter Ida Wolf und Irene Selinko, die beide in Theresienstadt sterben. Schwester Liselotte, Schwager Kurt Roeders und die kleine Nichte Antoinette – Toni - werden in Auschwitz ermordet. Sie hatten noch Zuflucht in den Niederlanden gefunden, konnten jedoch der Deportation im Oktober 1944 nicht entrinnen. Grete Selinko, begeht als spätes Opfer aus Verzweiflung 1946 Selbstmord in London.
Wenngleich die Lekture des Tagebuchromans dies in keinem Satz erahnen lässt, ist der Bezug Annemarie Selinkos zu Desiree biographisch: 1943 wird Dänemark von den Deutschen besetzt, Sie schliesst sich dem Widerstand an und ist nicht mehr in Sicherheit. Sie gerät kurz in Gestapo-Haft und flieht in einem Fischerboot nach Schweden. Sie arbeitet für das Rote Kreuz und setzt sich tatkräftig bei der Rettungsaktion von Graf Folke Bernadotte für Überlebende der Konzentrationslager ein. 30.000 Menschen konnten in teils waghalsigen Manövern auf Fischerbooten nach Schweden gebracht werden. Hier erfährt sie in direktem Gespräch mit den Überlebenden hautnah vom Leid und den Grausamkeiten, von der Qual, von den Tötungen und den medizinischen Experimenten in den NS-Lagern.
Sie ist ihrer neuen Heimat dankbar und fühlt sich für viele Verfolgte in der Schuld Graf Bernadottes. Schweden und ihm zu danken war Motiv für den Roman. Wer die Hintergründe kennt, weiss von diesen Zusammenhängen und kann sie auch aus dem Buch herauslesen – erschütternd, dass sich dies den Lesern nicht erschlossen hat. Die Zeit nach dem Ende des Krieges war eine Zeit der Sorg- und Gedankenlosigkeit und des Verdrängens. Sich als Opfer zu sehen war leichter als die eigene Schuld einzusehen.
Es ging zu Herzen, das Los der Desirée, es schillerte zwischen Historie und Kitsch – und doch war es so anders als die damals überall verfügbaren trivialen Geschichten von Sissi, Soraya, Prinzessin Margaret und Co., anders auch als die damals so populären historischen Romane. Und erst der Film, Historienfilm in bester Hollywood-Manier der 50-er Jahre, mit Marlon Brando als Napoleon und Jean Simmons als Desirée, ein Liebesfilm, ein Kostümschinken mit eindrucksvollen Massenszenen und gefühlvoll-dramatischen Grossaufnahmen! Und dennoch, der Film von Henry Koster liess mich irgendwie enttäuscht zurück, kam er doch nicht an die Aussagekraft und an den Handlungsreichtum des Buches heran.
Desirée lernt als sehr junge Tochter des reichen Seidenhändlers Francois Clary in Marseille Napoleon und die gesamte Bonaparte-Familie kennen. Napoleon verlobt sich mit ihr, Liebe mag im Spiel gewesen sein, wohl mehr aber die Aussicht auf eine reichhaltige und karrierefördernde Mitgift. Es kam, wie es kommen musste, Desirée verliert ihn an die diesbezüglich noch nützlichere Josephine de Beauharnais. Ihre Schwester Julie war da erfolgreicher: Sie heiratet Joseph Bonaparte und steigt zur Königin von Neapel und Spanien auf. Desirée indes wird die Frau des Generals Jean Baptiste Bernadotte, der es vom Revolutionsgeneral und genialen Strategen Napoleons letztlich durch Adoption zum König von Schweden brachte. Desirée ist somit Stammmutter der schwedischen Königsdynastie und Urgrossmutter von Folke Bernadotte.
Hochhaus Herrengasse 6-8, 1010 Wien. Copyright 2013-2018, mit freundlicher Genehmigung I. Nowotny.
Ich werde nie vergessen, wie fasziniert und intensiv ich die Französische Revolution, ihre Folgen, ja, das Entstehen eines neuen Zeitalters, die napoleonischen Kriege in einem stimmige und opulenten Zeitgemälde erlebte. Die volle historische und vor allem politische Dimension konnte ich damals noch nicht erfassen, mir war doch, bewusst oder unbewusst, die Besonderheit dieses Buches klar: Hier ging es nicht nur um die berührende Geschichte einer Frau in einer bewegten Zeit, nicht nur um grosse Gefühle, sondern um mehr, um die Darstellung einer sozialen Umwälzung, um Gewinner und Verlierer, um die spannende Geschichte von Macht und Machtgier, um Sieger und Besiegte, ja, auch um Gewalt und Krieg, um Kraft zum Überleben und zum Neuanfang. Vielleicht lag das Faszinosum darin, dass Annemarie Selinko die Macht der Demagogie und die Reaktion der Massen auf Manipulation mit der grössten Leichtigkeit schildern konnte: Das Volk von Paris hat die Revolutionäre genau so angestachelt und nach der Guillotine für die Aristokraten geschrieen wie es später die Machtergreifung Napoleons unterstützt und seiner Kaiserkrönung zugejubelt hat. Erschreckend wie scharfsinnig hier die Autorin mit den Mitteln des einfachen Narrativs die Macht von Demagogie und Propaganda vor Augen führt. Wie eindringlich zeichnet sie auch die Banalität der Charaktere von Verrätern und Wendehälsen, ihre Uneinsichtigkeit und ihre Verdrängung von Unrecht. Der Bezug zur damals zeitnahen nationalsozialistischen Szenerie und ihrer Wirkungsmacht liegt unausgesprochen auf der Hand; ebenso zur Gleichgültigkeit den Opfern gegenüber nach dem Holocaust und dem Ende der Katastrophe. Ob sie auch die Dramaturgie des heutigen Populismus vorausgeahnt hat? Unwillkürlich drängt sich der Vergleich auf.
Zurück zum Hochhaus in der Herrengasse und zu einer anderen jüdischen Spur: Annemarie Selinko traf hier mit einem anderen Bewohner, mit der schillernden Figur Lev Abramovic Nussimbaum, alias Essad Bey, aus Baku zusammen. Er gilt unter dem Pseudonym Kurban Said als Autor des georgisch-aserbaidschanischen Liebesepos „Ali und Nino“. Doch davon in einer der nächsten Folgen des DAVID.
Anmerkungen:
(1) Ich war ein hässliches Mädchen, Wien 1937
(2) Morgen ist alles besser, Wien 1938
(3) Heut heiratet mein Mann, Amsterdam 1940
(4) Desirée, Amsterdam 1951, Köln/Berlin 1951, in viele Sprachen übersetzt.
Quellen:
Friedrich Achleitner, Österreichische Architektur im 20. Jahrhundert, Wien 1990
Marie Theres Arnbom, Damals war Heimat, Die Welt des jüdischen Grossbürgertums, Wien 2014.