Gregor Gatscher-Riedl
Harald Seewann (Hrsg.): Bewegte Jahre. Studentische Auseinandersetzungen an der Wiener Universität in der Zeit des ausgehenden 19. Jahrhunderts bis zum Jahre 1925 im Spiegel der zeitgenössischen Presse.
Graz: Selbstverlag 2018
261 Seiten,16 Abbildungen, zahlreiche Faksimiles.
24,00 Euro
Erhältlich bei Harald Seewann, Resselgasse 26, A-8020 Graz; Email: c.h.seewann@aon.at
Die einhundertjährigen Todestage von Künstlern wie Egon Schiele, Gustav Klimt oder Kolo Moser rücken heuer den Blick neuerlich auf Wien um 1900 – eine Epoche, die ohne den Beitrag des jüdischen Kultur- und Geisteslebens kaum jene Reichweite erlangt hätte, die es rund um den Globus zu einem emblematischen Begriff gemacht haben.
Prof. Harald Seewann, der Altmeister der Geschichtsschreibung des jüdisch-nationalen Korporationsstudententums, liefert mit seiner jüngsten Veröffentlichung „Bewegte Jahre“ eine interessante und viel zu wenig beachtete Facette des Mythos „Wien um 1900“.
Im Mittelpunkt steht die Akademische Verbindung „Kadimah“ als zentraler akademischer Akteur der zionistischen Bewegung. Die 1882 als Verein gegründete Korporation verdankte ihre Entstehung der Begegnung zweier Wiener Studenten – des Mediziners Moritz Tobias Schnirer (1861-1941) und des Juristen Nathan Birnbaum (1864-1937) – mit dem Arzt Ruben Bierer (1835-1931), der in Lemberg Mitbegründer des ersten jüdisch-politischen Vereins Österreich-Ungarns, „Schomer Israel“ gewesen war.
Als prägende intellektuelle Gestalt stiess der Publizist Perez Smolenskin (1842-1885) zu dieser Gruppe, der mit seiner hebräischen Zeitschrift „Ha Schachar“ den Übergang der „Haskalah“ zum modernen jüdischen Nationalismus begleitete. Er gab dem Verein mit dem hebräischen Namen „Kadimah“ einen dichotomen Auftrag mit auf den Weg: „Kadimah ostwärts in die alte Heimat gegen die Assimilation und Kadimah vorwärts gegen Zelotismus in eine neue Freiheit“, so schrieb Isidor Schalit (1871-1954) in der Festschrift zum 50jährigen Bestand der Verbindung 1933.
Dass diese Aufbruchstimmung auf Widerstände stossen würde – sowohl innerhalb als auch ausserhalb der akademischen Welt und jüdischer Einrichtungen – war Teil der Identität dieser Gruppe von Studenten und Absolventen der Wiener Hochschulen, die sich Theodor Herzl und seiner Idee in besonderer Weise verbunden fühlten.
Das Wirken der „Kadimah“ und der von ihr ausgehenden weiteren jüdisch-nationalen Hochschulverbindungen hatte ein breites zeitgenössisches Echo gefunden, das für einzelne studentische Gruppen in diesem Umfang einzigartig war.
Der Herausgeber beleuchtet den konfliktreichen Weg der „Kadimah“ und ihrer Idee aus der Perspektive von 43 unterschiedlichen Zeitungen und Zeitschriften, die das gesamte politische Spektrum der Zeit, von deutschnational über liberal, jüdisch-national bis hin zu sozialdemokratischen Blättern abdecken.
Seewann hat sich dafür entschieden, im chronologisch aufgebauten Faksimileteil die Berichte aus den unterschiedlichen Blättern nebeneinander zu stellen, sodass dem Leser ein Vergleich möglich ist und die Spannungen, die die Existenz „Kadimahs“ bei Befürwortern und den zahlenmässig weit überlegenen Gegnern und weltanschaulichen Kontrahenten deutlich zu Tage treten lassen. Die insgesamt 340 Texte aus dem Zeitraum 1883-1925 bieten dem Leser einen „Blick von aussen“ auf das Wirken der „Kadimah“ und sind auch zugleich eine Chronik antisemitischer Ausschreitungen auf Wiener Hochschulboden.