Daniel Cohn-Bendit und die 68er Bewegung
Der Begriff „68“ ist Sinnbild einer Rebellion, die ganz Europa und die restliche Welt erfasste. Der deutsche Historiker Norbert Frei sieht den Beginn der Protestbewegung im Kampf der Afro-Amerikaner für Gleichberechtigung, der in den 1950er Jahren einsetzte. Auch später wurde der zivile Widerstand durch Aktionen, wie zum Beispiel Sit-ins und Happenings, geprägt. Die Gründe für die Proteste waren von Land zu Land verschieden. Während in Grossbritannien die Pop-Kultur im Vordergrund stand, sind in den USA Proteste gegen den Vietnamkrieg die wichtigsten Motive. Zu den bekanntesten Persönlichkeiten der 68er-Bewegung in Frankreich zählten Pierre Goldman, André Glucksman und Daniel Cohn-Bendit.
Daniel Cohn-Bendit im Europäischen Parlament (2011), Copyright: Parlement Européen
(Quelle: http://www.cohn-bendit.eu/de/press/pressfotos)
Kind der Freiheit
Marc Daniel Cohn-Bendit wird am 4. April 1945 in der südfranzösischen Stadt Montauban geboren – rund einen Monat vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Seine Eltern, Herta und Erich Cohn-Bendit, sind jüdische EmigrantInnen, die Berlin im März 1933 verlassen. Der hauptsächliche Grund für die Auswanderung des Vaters lag vor allem auch im politischen Engagement von Erich Cohn-Bendit, der als Anwalt für die Rote Hilfe Deutschlands arbeitet.1 Die Familie von Herta Cohn-Bendit (geborene David) stammt aus Posen (Poznań) und als die Stadt 1918 zu Polen kommt, wandern die Davids nach Berlin aus, wo die Eltern eine Schuhhandlung eröffnen. Nach der Matura studiert Herta David zunächst Medizin, wechselt aber zum Jura-Studium, dort lernt sie wahrscheinlich Erich Cohn-Bendit und mit ihm auch das linke Milieu kennen. Nach der Flucht wohnt das junge Paar in Paris, später werden Herta und Ernst Cohn-Bendit von mehreren Familien in den südfranzösischen Städten Montauban und Moissac aufgenommen. Als im Juni 1944 die alliierten Truppen in der Normandie landen, können die Cohn-Bendits mit dem 1936 in Paris geborenen Sohn Jean-Gabriel, der Gaby genannt wird, Montauban verlassen, um nach Caily-sur-Eure in der Normandie zu ziehen. Dort leitet das Ehepaar ein Waisenhaus für jüdische Kinder, die »Colonie Juliette«. Zwischen den Rosen im Garten des Heimes steht ein Schild: »Die Blumen haben eine Seele wie du... tritt nicht drauf.«2
1968
Als Daniel sieben Jahre alt ist, verlässt sein Vater die Familie und zieht nach Deutschland, wo er eine erfolgreiche Anwaltskanzlei führen wird. 1958 folgt ihm Herta gemeinsam mit Daniel nach, um den schwerkranken Mann zu pflegen. Von seiner Alkoholkrankheit gezeichnet, stirbt Erich Cohn-Bendit 1959 im Alter von 57 Jahren, Herta im Jahr 1963 im Alter von 55 Jahren.
Im Herbst 1965 beginnt Daniel Cohn-Bendit ein Mathematikstudium an der Universität Paris-Süd, das er aber nach einigen Wochen aufgibt, um Soziologie an der Universität Paris-Nanterre zu studieren. Bald wird er in der Studentenbewegung aktiv und macht Bekanntschaft mit einer anarchistischen Gruppe. Bis zum 2. Juni 1967 ist der Jugendprotest in Deutschland ein weitgehend unpolitischer. Die Erschiessung des deutschen Studenten Benno Ohnesorg durch einen Polizisten wird für viele der MitstreiterInnen zu einer Zäsur.
Beim Internationalen Vietnamkongress im Februar 1968 an der TU Berlin vertritt Daniel Cohn-Bendit die Gruppe „Liaison des Etudiants Anarchistes“ (Bund anarchistischer Studenten) und orientiert sich an den Thesen von Rudi Dutschke.
In Paris demonstrieren am 21. März Studenten und Studentinnen der Universität Nanterre gegen den Vietnamkrieg. Wie stark dieses Thema auch in Europa verankert ist, zeigt das Engagement vieler Künstlerinnen und Künstler im Protest gegen den Krieg. Unter ihnen befindet sich auch der Regisseur Jean-Luc Godard, der 1968 schreibt: „Ich habe Kino gemacht. Das Beste, was ich machen kann für Vietnam ist, statt es mit meiner Hochherzigkeit zu überschütten, mich von ihm ergreifen zu lassen, mir klarzumachen, welchen Platz es in unserem täglichen Lebens einnimmt, überall. (...) Vietnam ist heute ein Symbol des Widerstands“.3
Als einige Mitglieder des CVN (Comité Viêtnam National) von der Polizei verhaftet werden, weil sie die Scheiben des Pariser Büros von American Express einschlugen, besetzen Daniel Cohn-Bendit und einige andere Studierende die Räumlichkeiten des Universitätssenats. Studenten und Studentinnen aus verschiedenen Gruppierungen – anarchistische, situationistische, trotzkistische und maoistische – schliessen sich zur Gruppe „Bewegung 22. März“ zusammen. Daniel Cohn-Bendit, der damals seinen Spitznamen Dany le Rouge erhielt, fungiert als Sprecher der Gruppierung. Vertreter und Vertreterinnen der „Bewegung 22. März“ besetzen Hörsäle, um Lehrveranstaltungen zu verhindern und stattdessen Diskussionen über den Vietnamkrieg zu führen. Nach dem Attentat auf Rudi Dutschke am 11. April lädt Daniel Cohn-Bendit Kurt Dietrich Wolff, den Vorsitzenden des SDS (Sozialistischer Deutscher Studentenbund), zu einem Vortrag an die Sorbonne ein. Nach Wolffs Rede werden die Verwaltungsräume der Universität von Studierenden gestürmt. Am 2. Mai ruft der Universitätsdekan die Polizei und am nächsten Tag werden Daniel Cohn-Bendit und sieben weitere Mitstreiter vor die Disziplinarkommission der Sorbonne zitiert. Am 13. Mai kommt es zu einer Grossdemonstration von 20 000 Studenten und Studentinnen, die von der Polizei mit massiver Gewalt aufgelöst wird. Als Reaktion rufen der Französische Studentenverband, ein wichtiger Hochschullehrerverband und die Gewerkschaften aus Solidarität mit den Protestierenden einen Generalstreik aus. Diesem Auruf folgen am 19. Mai zwischen sieben und zehn Millionen Menschen in ganz Frankreich. Nach einer Rede Daniel Cohn-Bendits bei einer Kundgebung des Berliner SDS am 21. Mai, verbieten ihm die französischen Behörden die Wiedereinreise und ein Aufenthaltsverbot in Frankreich wird erlassen. Die Ausweisung ist möglich, weil Daniel Cohn-Bendit nicht die französische Staatsbürgerschaft besitzt, da er als Staatenloser geboren wurde.
»Wir alle sind deutschen Juden«
Als Daniel Cohn-Bendit am 21. Mai 1968 die Wiedereinreise nach Frankeich untersagt wird, kommt es zu starken Protesten gegen Staatspräsident Charles de Gaulle. Tausende rufen: »Nous sommes tous des juifs allemands« (»Wir alle sind deutsche Juden«) und zeigen Plakate mit dem Spruch: »Nous sommes tous indésirables« (»Wir alle sind unerwünscht«), da Daniel Cohn-Bendit sowohl von (partei)kommunistischer als auch gaullistischer Seite als „unfranzösisch“ diffamiert wird. Bis zu diesem Zeitpunkt spielt seine familiäre Herkunft keine Rolle und Daniel Cohn-Bendit erinnert sich: “Die Tatsache, dass meine Eltern Deutschland verlassen mussten, habe ich verdrängt. Als ich aber aus Frankreich ausgewiesen wurde, lautete die Parole (...) »Wir alle sind deutsche Juden«. Die Wirkung der Parole macht deutlich, dass mich in Frankreich sehr viele Menschen in dieser Weise wahrgenommen haben.“4
Was bleibt für Frankreich vom Jahr 1968? Norbert Frei zieht in seinem Buch: 1968. Jugendrevolte und globaler Protest folgende Bilanz: „Ein Jahr danach, so scheint es, sind die Ereignisse des Pariser Mai nur noch eine ferne Erinnerung. So plötzlich, wie die verspätete Revolte losgebrochen war, so plötzlich war sie verloschen. Und obwohl der Protest der Studenten in Frankreich am Anfang vielleicht auf mehr Verständnis traf als irgendwo sonst, obwohl der Brückenschlag gerade zu jungen Fabriksarbeitern mancherorts und streckenweise durchaus gelang, stand am Ende auch hier mitnichten der Umsturz der Verhältnisse.“5
Die Politik bleibt
In den 1970er Jahren engagiert sich Daniel Cohn-Bendit in der Sponti-Szene von Frankfurt am Main und wird Herausgeber des Magazins Pflasterstrand, dessen Motto „Unter dem Pflaster liegt der Strand“ lautet. Ab 1978 wird er in der noch jungen Partei der Grünen aktiv und wird zu einem Verfechter der „Realo-Linie“. Von 1989 bis 1997 leitet er das Dezernat des Amtes für multikulturelle Angelegenheiten. Während seiner Mitgliedschaft im Europäischen Parlament (1994 bis 2014) ist er ab 2002 Co-Vorsitzender der Fraktion der Grünen/Europäische Freie Allianz und kandidiert abwechselnd für die deutschen Grünen und die französischen Grünen (Les Verts). Aus gesundheitlichen Gründen kündigt er 2013 an, dass er kein Mandat mehr anstreben werde und steigt aus der aktiven Politik aus. Seit 1997 ist er mit Ingrid Apel verheiratet und 1991 wird Sohn Béla geboren.
Jude sein
In einem Interview aus dem Jahre 2015 spricht Daniel Cohn-Bendit auch über sein Judentum. Der Vater war Atheist und die Mutter arbeitete als Wirtschaftsleiterin in einem jüdischen Gymnasium in Paris, wo der kleine Daniel auch an Pessach-Feiern teilnahm: „Aber meine Eltern sind früh gestorben, sodass ich nie wirklich bewusst einen Sederabend miterlebt hätte. Als ich vor drei Jahren während Pessach in Israel zu Besuch war, bin ich nach Jaffa in ein arabisches Restaurant gegangen. Ich bin sicherlich ein atypischer Jude. Auch das gehört zum Judentum.“6
Als Kind weigert Daniel sich, gegen den Wunsch seiner Mutter Herta, die Bar Mizwa zu feiern und sich beschneiden zu lassen. „Der Vater ist auf seiner Seite: »Wir sind eben jüdisch, wie wir rothaarig sind.«7 Daniel Cohn-Bendit sieht sich als Diaspora-Jude, „aber ich identifiziere mich mit bestimmten Momenten der jüdischen Geschichte.“8 Als Daniel Cohn-Bendit 18 Jahre ist, meldet ihn die Mutter zu einer Reise nach Israel an, wo er in einem Kibbuz arbeitet. Während ihm der Aufenthalt dort viel Spass macht, kommt es immer wieder zu Diskussionen mit israelischen Jugendlichen, die nicht verstehen können, wieso ein Jude nach 1945 überhaupt noch in Europa leben kann. Als er 1989 Dezernent für multikulturelle Angelegenheiten in Frankfurt am Main wird, bekommt er antisemitische Anfeindungen zu spüren. „Ein Jude kümmert sich um die Belange von Nicht-Deutschen, das ist manchen zu viel, und so erreichen ihn Beschimpfungen wie »Du (...) rotes Judenschwein«. Solche Schmähungen, gar Drohungen erhält er häufiger.“9 Auf die Frage, warum gerade konservative Politiker nur allzu gerne die jüdisch-christliche Wertegemeinschaft des Abendlandes beschwören, meint Daniel Cohn-Bendit: „Diese Politiker sollten sich einmal vergegenwärtigen, dass ihre Vorgänger mitgeholfen haben, das Judentum in Europa auszulöschen. Die jüdisch-christliche Wertegemeinschaft in allen Ehren: Da sollte man uns Juden – Stichwort Holocaust, Stichwort Pogrome – bitte nicht instrumentalisieren.“10
»Wir haben sie so geliebt...«
im Vorwort zur französischen Ausgabe seines Buches Wir haben sie so geliebt, die Revolution schreibt Daniel Cohn-Bendit: „Ich weiss, dass der Mai 68 heute auch auf Ablehnung stösst, aber diese so junge Vergangenheit lässt keinen, selbst wenn sie vergessen, verdrängt und verleugnet wird, gleichgültig. Im Laufe der Jahre habe ich beobachtet, wie sich die Weigerung, auf die Bewegung der 60er Jahre zu rekurrieren, entwickelt hat, und zwar besonders bei denen, die die linken Gruppen geprägt haben. Eine gewisse Scheu ist nicht zu übersehen, diese Zeit wachzurufen und auch ein vages Schuldgefühl. Die Bezeichnung »Achtundsechziger« hat einen negativen Beigeschmack bekommen (...). 1968 fing der Planet Feuer, wie auf ein weltweites Zeichen hin. In Paris wie in Berlin, in Rom oder Turin wurden die Strasse und der Pflasterstein Symbol einer Generation im Aufstand. We want the world and we want it now, sang Jim Morrison.“11
Literatur
Cohn-Bendit, Daniel: Wir haben sie so geliebt, die Revolution. Frankfurt am Main: Athenäum Verlag 1987
Frei, Norbert: 1968. Jugendrevolte und globaler Protest. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 2008
Godard, Jean-Luc: Vietnam in uns. In: Sievers, Rudolf (Hg.): 1968 – Eine Enzyklopädie. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 2004, S. 206-209
Majic, Danijel: »Die Freiheit nehme ich mir«. Daniel Cohn-Bendit über seinen Abschied von der Politik, Pessach in Israel und seinen 70. Geburtstag. In: Jüdische Allgemeine, 3. April 2015, http://www.juedische-allgemeine.de/article/view/id/21943 (aufgerufen: 23. April 2018)
Stamer, Sabine: Cohn-Bendit. Die Biographie. Hamburg/Wien: Europa Verlag 2001
Voigt, Sebastian: Der jüdische Mai 68. Pierre Goldman, Daniel Cohn-Bendit und André Glucksman im Nachkriegsfrankreich. Schriften des Simon-Dubnow-Instituts, Band 22. Herausgegeben von Dan Diner, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2016
Anmerkungen
1 Die Rote Hilfe Deutschlands war eine politische Hilfsorganisation, die von 1924 bis 1936 existierte und der Kommunistischen Partei Deutschlands nahe stand.
2 Stamer, Sabine: Cohn-Bendit. Die Biographie. Hamburg/Wien 2001, S. 38f.
3 Godard, Jean-Luc: Vietnam in uns. In: Sievers, Rudolf (Hg.): 1968 – Eine Enzyklopädie. Frankfurt am Main 2004, S. 208
4 Voigt, Sebastian: Der jüdische Mai 68. Pierre Goldman, Daniel Cohn-Bendit und André Glucksman im Nachkriegsfrankreich. Schriften des Simon-Dubnow-Instituts, Band 22. Göttingen 2016, S. 10
5 Frei, Norbert: 1968. Jugendrevolte und globaler Protest. München 2008, S. 28f.
6 Majic, Danijel: »Die Freiheit nehme ich mir«. Daniel Cohn-Bendit über seinen Abschied von der Politik, Pessach in Israel und seinen 70. Geburtstag. In: Jüdische Allgemeine, 3. April 2015
7 Stamer, Sabine: Cohn-Bendit. Die Biographie. Hamburg/Wien 2001, S. 110f.
8 Majic, D.: »Die Freiheit nehme ich mir«
9 Stamer, S: Cohn-Bendit. 2001, S. 117
10 Majic, D.: »Die Freiheit nehme ich mir«
11 Cohn-Bendit, Daniel: Wir haben sie so geliebt, die Revolution. Frankfurt am Main 1987, S. 7f.