Tätigkeit und Wirksamkeit eines jüdischen Politikers setzen rechtsstaatliche Strukturen und damit auch die Rechtssicherheit der bürgerlichen Demokratien voraus. Diese waren in Ungarn grösstenteils nicht, oder sehr selten und nur eingegrenzt gegeben. Zuerst, nach dem Zweiten Weltkrieg bis zum Jahre 1947, bis zur kommunistischen Machtergreifung, und des Weiteren nach der politischen Wende der 90er Jahre bis zum Jahre 2010. Daher sind jüdische Politiker in Ungarn Kinder eines Landes mit einer deformierten gesellschaftlichen Struktur und erschwerter bürgerlicher Existenz. Ebenso schwierig gestalteten sich auch die Existenz und der Aufstieg der besitzlosen Schichten und Massen. Die Verteilung der Ämter, der Anstellungen an den Schreibtischen erfolgte nicht wegen der persönlichen Eignung oder der nationalen, gesellschaftlichen Rolle, sondern, ab der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts, wegen der Nähe und der Verbindung zum Adel und zur Schicht der Gentry, des untitulierten, niederen Adels. Dies bedeutete das Fortleben des Ständewesens als feudales Überbleibsel.
Ferner möchte ich kurz die Beziehung der jüdischen Politiker zur Assimilation und Integration der Juden in Ungarn schildern. Die Forscher der Geschichte der Juden in Ungarn beschreiben den Weg der Juden als einen Triumphzug der gelungenen Assimilation und der Integration. Dies trifft zweifelsohne auf die kulturgeschichtliche Integration zu. Der kulturelle Beitrag und die Leistungen der jüdischen Kulturschaffenden können sich in der Tat sehen lassen. Bei der Darstellung der Biografien und der Wirksamkeiten der Politiker musste ich eine, vielleicht subjektive Auswahl treffen. Zuerst möchte ich über zwei politische Persönlichkeiten aus dem 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts sprechen.
Moritz Wahrmann, gebürtig Mór Wahrmann (28. Februar 1832 in Pest- 26. November 1892 in Budapest) war ein ungarischer Unternehmer und Politiker. Er kämpfte für die Emanzipation der Juden in Ungarn und wurde 1869 erstes jüdisches Mitglied des ungarischen Parlaments. Er verkörperte den Typ Politiker, der auch noch im Handelswesen und in der Industrie verwurzelt war. Ferner ermöglichten seine jüdisch-religiösen Bindungen, dass er von 1883 an als Präsident der Pester jüdischen Gemeinde amtierte. Er bemühte sich um die Konsolidierung des ungarischen Finanzwesens. Sein Ziel war es den ungarischen Handel zu verstaatlichen und sein Land sowohl finanziell, als auch wirtschaftlich von Österreich unabhängiger zu machen. Um dieses Ziel zu erreichen gründete er grosse Industrie- und Handelsunternehmungen. Im Jahre 1869 wurde Wahrmann zum Repräsentanten des Wahlkreises der Budapester Leopoldstadt im ungarischen Parlament gewählt. Er wurde insgesamt sechs Mal wiedergewählt. Auf Grund seiner Kenntnisse im Finanzwesen war er ein aktives Mitglied des Finanzausschusses. Wahrmann war gleichermassen aktiv in der kommunalen Politik und kämpfte unermüdlich für die bürgerliche Emanzipation der Juden in Ungarn. Im Jahr 1868 war er Vizepräsident des vom Kultusminister einberufenen Allgemeinen Jüdischen Kongresses. (Als Folge des Kongresses ergab sich eine dreifache Spaltung: in orthodoxe Gemeinden, neologe Gemeinden und sogenannte Status-quo-Gemeinden, die sich keiner der beiden Seiten anschlossen.)
Vilmos Wilhelm Vázsonyi, gebürtig Vilmos Weiszfeld (Sümeg 1868– Baden b.Wien 1926) studierte an der Juristischen Fakultät der Universität Budapest und wurde später Rechtsanwalt. Im Jahre 1894 gründete er die Kommunale Demokratische Partei und noch im gleichen Jahr wurde er als Stadtrat von Budapest gewählt. 1900 benannte er seine Partei in Bürgerlich Demokratische Partei um. Diese wurde eine landesweite Organisation. Im Jahre 1901 wurde er zum Parlamentsabgeordneten gewählt und behielt dieses Mandat bis 1918, bis zum Ausbruch der bürgerlichen „Herbstrosenrevolution“. So wurden die Demonstrationen, Unruhen und Streiks von Soldaten und Zivilisten genannt, die in Budapest und anderen Städten Ungarns stattfanden. Er war der erste jüdische Politiker Ungarns, der ein Ministeramt bekleiden durfte und zwar im Jahre 1917. Zuerst war er Justizminister und später ein Minister ohne Geschäftsbereich mit dem Auftrag eine Wahlrechtsreform vorzubereiten. Während der 1918er Revolution emigrierte er nach Wien und kehrte erst 1921 nach Ungarn zurück. Bei den Rückkehrversuchen des Kaisers von Österreich und Königs von Ungarn Karl von Habsburg nach Ungarn, unterstützte er die Gruppe der Legitimisten. 1922 wurde er wieder in die Nationalversammlung (Parlament) gewählt. Der „Franken-Fälschung-Skandal“ brach in Ungarn im Jahr 1925 aus. Hier wollten ungarische rechte Kreise Rache an Frankreich wegen des Friedensvertrags von Trianon üben, indem sie den Tausendfrancschein professionell fälschten und in Umlauf bringen wollten. Vázsonyi vertrat in der Debatte die Meinung der Minderheit, die eine strenge Bestrafung der Verantwortlichen forderte. Er wurde von den nationalistischen und antisemitischen Abgeordneten deshalb scharf attackiert. Er verliess Ungarn wieder und starb 1926 in Baden bei Wien.
Nach dem 1.Weltkrieg hat sich nicht nur die „Grosswetterlage“ in Ungarn radikal verändert. Auch die antisemitische, rassistische Stimmung im Land schwoll an. In der kurzlebigen Räterepublik unter Béla Kun (Szilagycsehi/Siebenbürgen 1886-Moskau 1938) zwischen März und April 1919 waren zahleiche Juden in leitenden Regierungsstellen vertreten.
Ob Béla Kun als jüdischer Politiker definiert werden kann ist äusserst fraglich. Er selber hat sich nie als Juden bezeichnet. Er stammte aus einer jüdischen Familie, aus einfachen Verhältnissen. Er änderte bzw. hungarisierte seinen ursprünglichen Familiennamen Kohn 1906 zu Kun. Er studierte an der Universität Klausenburg und wurde später Angestellter einer „Versicherungskasse der Arbeiter“. Im ersten Weltkrieg wurde er in die Armee eingezogen und geriet 1916 in russische Gefangenschaft. Dort wurde er radikalisiert und Anhänger der Bolschewistischen Fraktion. Im Dezember 1918 entsandte ihn die russische KP nach Ungarn, um eine kommunistische Revolution anzuführen. Jedoch wurde er von der Regierung der „Herbstrosenrevolution“ inhaftiert. Diese Regierung dankte auf Grund der übertriebenen territorialen Forderungen der Entente Mächte am 21.März 1919 ab. Die Führer der Linkssozialisten suchten Béla Kun und seine Genossen im Gefängnis auf und vereinbarten mit ihnen die Machtübernahme, sowie die Ausrufung einer Räterepublik. In dieser wurde Béla Kun lediglich „Volkskommissar der Auswärtigen Beziehungen“ und der „Verteidigungsangelegenheiten.“ Jedoch hatte er das entscheidende Wort im Revolutionsrat. Sein Votum in Staatsangelegenheiten und in der Organisation des Kampfes gegen die Konterrevolution war massgebend. Kun war ein besessener und zügelloser Revolutionär. Während der 133 Tage dauernden Räterepublik liess er etwa 600 Menschen, darunter zahlreiche jüdische Geschäftsleute und Fabrikbesitzer im Schnellverfahren unter der Berufung auf das Kriegsrecht hinrichten. Es wurde ihnen Sabotage vorgeworfen. Besonders hart ging er gegen Bauern und Landbesitzer vor, denen er die Lebensmittelknappheit in der Hauptstadt vorwarf. Kun versuchte während seiner Amtsgewalt die „Diktatur des Proletariats“ zu exportieren. Im Auftrag der Kommunistischen Internationale, Komintern, half er im Juni 1919 die österreichische kommunistische Partei zu gründen.
Die Ausrufung der Slowakischen Räterepublik mit Kuns Hilfe am 16. Juni 1919 in Prešov und eine mögliche weitere Ausdehnung der „ungarischen Revolution“ hatten in der ersten Junihälfte 1919 diplomatische Noten der Ententemächte an die Ungarische Räteregierung zur Folge. Es war Kuns Verdienst, dass er auf Grund der umfangreichen Gebietsforderungen der Ententemächte in der Bevölkerung Sympathien und Unterstützung für die Verteidigungs-Anstrengungen der Räterepublik erwirkte. Kun organisierte die Ungarische Rote Armee, der aus patriotischen Gründen auch zahlreiche Offiziere und Soldaten der K.u.K. Armee beitraten. Im Juni 1919 gelang es schliesslich die tschechischen und rumänischen Invasoren vorläufig zu stoppen und im Zuge einer Gegenoffensive im Norden weite Teile Oberungarns, heute Slowakei, zurückzuerobern. Die Antwort des Oberkommandos der Entente liess nicht lange auf sich warten. Sie forderte die sofortige Einstellung der Kampfhandlungen und den Rückzug der Roten Armee hinter die, auf der Pariser Friedenskonferenz festgelegte Demarkationslinie. Die Annahme dieser Forderungen seitens Bela Kuns, die ihm eine Einladung zur Pariser Friedenskonferenz in Aussicht gestellt hätte, wurde von den Soldaten und Offizieren der Roten Armee, aber auch von der Bevölkerung mit Verbitterung und Unverständnis aufgenommen. Dieser erzwungene Rückzug bewirkte innerhalb der Bevölkerung eine irreparable Schädigung des Ansehens der Räteregierung und letzten Endes auch Kuns. Schliesslich kam die Räterepublik auf Grund des von der Entente begünstigten Vormarsches der tschechischen und rumänischen Streitkräfte ins Wanken. Am 1. August 1919 kapitulierte die Rote Armee und Béla Kun ergriff mit vielen Mitgliedern seiner Regierung die Flucht nach Österreich. Von dort floh er weiter in die Sowjetunion, wo er in den nächsten Jahren für die KPdSU in verschiedenen Funktionen tätig war. Zwischen 1921 und 1924 nahm er sogar an der Arbeiterrevolte, den sogenannten Märzkämpfen in Mitteldeutschland teil. In den 1930er Jahren lebte er vorwiegend in der Sowjetunion. Im Rahmen des dortigen Bürgerkrieges wurde er mit der Bekämpfung der Weissgardisten der ehemaligen Zaristischen Armee beauftragt. Er liess mehrere tausend Gefangene auf der Krim und Tataren erbarmungslos hinrichten. Seine Rücksichtslosigkeit haben sogar Lenin und Trotzki verurteilt. In der zweiten Hälfte der 1930er Jahre wurde er auf Befehl von Stalin verhaftet und im Rahmen der stalinistischen Schauprozesse verurteilt und hingerichtet. In der Ära Chruschtschow wurde er im Jahre 1955 rehabilitiert.
Nach der Niederschlagung der Räterepublik am 1. August 1919 fanden landesweit gewalttätige Exzesse und Pogrome gegen Juden und Linksliberale statt. Um die Proteste aus den Entente Mächten – wenn diese auch recht schwach waren – zu beschwichtigen, hat Ungarn zwei jüdische Vertreter im ungarischen Oberhaus zugelassen. Nach dem einvernehmlichen Beschluss der Gemeindevorstände wurden 1928 der neologe Oberrabbiner Immanuel Löw sowie der orthodoxe Rabbiner Koppel Reich als Vertreter im Oberhaus des Parlaments ernannt.
Die Zeit zwischen beiden Weltkriegen hat den kommunistischen und sozialistischen Führungskader in die Illegalität gezwungen. Vielen aber gelang auch die Flucht in die Sowjetunion. Von jenen Politikern, die nach dem Zweiten Weltkrieg aus der Sowjetunion heimkehrten und in Ungarn halfen die kommunistische Herrschaft wirtschaftlich und politisch zu festigen, sei Matthias Mátyás Rákosi erwähnt, dessen ursprünglicher Name Rosenfeld war (14. März 1892 in Ada, Österreich-Ungarn - 5. Februar 1971 in Gorki, Sowjetunion). Er war ein rücksichtsloser kommunistischer Politiker und von 1949 bis 1956 der stalinistische Diktator Ungarns. Er leitete die Verstaatlichung aller Privatbetriebe und Geschäfte ein. Ferner liess er in Ungarn, wie in der Sowjetunion, Schauprozesse und Hinrichtungen gegen seine unbequemen bürgerlichen Gegner durchführen. In Folge des Ungarnaufstandes im Jahre 1956 kehrte er in die Sowjetunion zurück, wo er auch starb.
Der wichtigste „Kampfgenosse“ Rákosis war Ernő Gerő, der ursprünglich Ernő Singer hiess (8. Juli 1898 in Terbegec- 12. März 1980 in Budapest). In den 50er Jahren übernahm Gerö das Wirtschaftsministerium und setzte unnachgiebig die Einführung der kurzsichtigen Planwirtschaft in Ungarn durch. Ebenso die Kollektivierung der ungarischen Landwirtschaft, wodurch er viele florierende Bauernhöfe und ihre Landwirte durch ständiges Requirieren von Lebensmitteln in den Abgrund trieb. 1956 war er kurzzeitig Parteichef der Ungarischen Kommunistischen Partei der Ungarischen Werktätigen und in der gesamten ungarischen Stalin-Ära einer der am meisten gefürchteten Repräsentanten des Unterdrückungsapparates. Wahrscheinlich war er es, der am 23. Oktober 1956 der Staatssicherheitspolizei den Schiessbefehl auf die Demonstranten erteilte, was als einer der Hauptauslöser des Ungarischen Volksaufstandes gilt. Nach dem Aufstand zwang ihn die Regierung János Kádár in die innere Emigration und er wurde später sogar aus der KP ausgeschlossen. Er starb 1980 völlig isoliert.
Das Leben schreibt doch die besten Geschichten. Hier eine recht aktuelle Begebenheit, ebenfalls aus Ungarn: die Partei der Rechtsextremisten „JOBBIK“ hatte ein führendes Mitglied in ihren Reihen, das sie auch in das Europäische Parlament delegierte, namens Csanád Szegedi (geb.1982). Er verkündete zumeist in seiner Parteiuniform die rassistischen Slogans der Partei gegen Sinti, Roma und Juden.
Eines Tages jedoch begannen die ungarischen Medien darüber zu munkeln, dass der Abgeordnete nicht ganz „sauber“ wäre, - aus Rassegründen. Es wurde recherchiert, dass seine Grossmutter, die Auschwitz überlebt hatte und sogar seine Mutter Jüdinnen waren. Der bis dahin ahnungslose Abgeordnete verteidigte sich damit, dass seine Eltern es unterlassen hatten, ihm seine jüdische Herkunft mitzuteilen. Ferner würde dieser „Makel“ seine „nationale Gesinnung“ keineswegs beeinträchtigen. Doch die Parteibonzen liessen sich nicht beirren und entfernten ihn flugs aus ihren Reihen. Der nun parteilos gewordene Volksvertreter geriet in eine Identitätskrise. Hilfesuchend wandte er sich an einen jungen Rabbiner in Budapest und bat um ein Gespräch und seine „neuen Glaubensgenossen“ um Vergebung. Die Journalisten jedoch wollten diese Begebenheit nicht so einfach ad acta legen und stellten fest: der Rabbiner hatte ihn nicht deswegen empfangen, weil er späte Reue empfand, auch nicht, weil seine „Karriere“ als Rassist nun zu Ende war, sondern einzig und allein wegen seiner Abstammung durch seine Mutter. Für den Rabbiner war er also Jude, ganz egal, zu welcher Identität er sich selber in der Vergangenheit bekannt hatte. Gebrandmarkt in seiner Partei, diskriminiert als heuchlerischer Rückkehrer in die jüdische Gemeinde, ist er für die Gesellschaft zu einer Art Zwitterwesen mit unbestimmter Identität geworden. Und ironischerweise wird seine jüdische Identität nur von zwei Stellen ganz klar anerkannt: nämlich von seinen ehemaligen Neonazi-Parteigenossen und von dem jungen, idealistischen Budapester Rabbiner. Dieser jüngste jüdische Politiker Ungarns wurde während seiner aktiven Zeit bei JOBBIK 2007 als Mitbegründer der ultranationalistischen paramilitärischen Ungarischen Garde bekannt. Heute ist er Mitglied der Chabad-Lubawitsch Bewegung in Budapest, einer chassidischen Gruppierung innerhalb des gesetzestreuen Judentums.