Christoph Tepperberg
Jérôme Segal: Judentum über die Religion hinaus.
Wien/Hamburg: Edition Kulturen 2017
Aus dem Französischen von Georg Hauptfeld.
168 Seiten, Euro 26,80
ISBN 978-3-902968-26-5
Originaltitel: Athée & Juif. Fécondité d’un paradoxe apparent. Paris: Éditions Matériologiques 2016
Der Autor: Jérôme Segal, geboren 1970, begann zunächst ein Ingenieurstudium an der École Centrale in Lyon. 1993 ging er nach Berlin, wechselte dort zu den Geisteswissenschaften und promovierte über den Informationsbegriff und die Geschichte der Kybernetik. Danach arbeitete er als Postdoc am Berliner Max-Blanck-Institut für Wissenschaftsgeschichte, ab 2000 als Dozent an der Universität Paris Sorbonne (ESPE Paris). 2004 ging er nach Wien (von wo sein Grossvater 1938 hatte fliehen müssen). Hier wirkte er als Wissenschaftsattaché an der französischen Botschaft und in verschiedenen universitären bzw. wissenschaftlichen Funktionen. Heute pendelt Segal zwischen Paris und Wien. Er publiziert in österreichischen Zeitschriften zu aktuellen Themen aus Religion, Politik und Kultur, u. a. über die extreme Rechte in Österreich, Kino und Film oder die Lage der Roma in Europa. Jérôme Segal hält regelmässig Vorträge. Zu Beginn des Jahres 2018 sprach er an der Universität Wien über Einladung des Instituts für Judaistik zu seinem aktuellen Thema: „Ein Judentum jenseits der Religion“.
Hinter dem Buchtitel „Judentum über die Religion hinaus“ verbirgt sich eigentlich die Frage: „Was bedeutet es Jude zu sein?“ – ein Thema das in seinen verschiedenen religiösen, historischen und sozialen Ausformungen von Juden und Nichtjuden seit Jahrhunderten durchaus kontroversiell diskutiert wird. So unterschiedlich die Erlebens- und Geisteswelten, so unterschiedlich sind auch die Antworten auf diese fundamentale Frage. Der Autor liefert dazu einen bemerkenswerten Diskussionsbeitrag. Jérôme Segal ist Mitglied der Israelitischen Kultusgemeinde in Wien, obschon er sich im Melderegister der Gemeinde Wien als „ohne Bekenntnis“ aufnehmen liess (S. 46). Damit ist bereits angedeutet, dass die Frage nach dem „Jude-Sein“ weit über die nach dem Religionsbekenntnis hinausgeht. Jüdische Selbstreflexion entspringt einem tiefen Bedürfnis der Judenheit nach Standortbestimmung, insbesondere in der europäischen Diaspora.
Segal blickt auf das Judentum und die Judenheit sowohl als Beteiligter als auch von einer Metaebene. Er verfolgt dabei primär das säkulare Judentum, jüdisches Leben und Kultur – vom Rationalismus Spinozas über die Aufklärung, die Französische Revolution und den Zweiten Weltkrieg bis ins 21. Jahrhundert, inklusive der Aspekte Biologismus, Rassismus und Sexismus. Dabei zitiert er aus der Tora und der Rabbinischen Literatur, lässt Zeugen wie Voltaire, Sigmund Freud, Emmanuel Levinas und Daniel Cohn-Bendit zu Wort kommen.
Der Inhalt des Buches im Detail: Vorwort zur deutschen Ausgabe (S. 9-10); Vorwort von Jacques Le Rider (S. 11-13); Prolog (S. 15-21); Einleitung (S. 23-25); Vom Judaismus zum Judentum (S. 27-44); Judaismus, Biologismus und Sexismus (S. 45-60); Die Beschneidung aus jüdischer und humanistischer Sicht (S. 61-77); Jude sein nach dem Zweiten Weltkrieg (S. 78-91); Solidarität als ontologische Dimension (S. 92-112); Wie sich Israel als jüdischer Staat versteht (S. 113-129); Judentum, Moderne und Kosmopolitismus (S. 130-146); Judentum im Kino (S. 147-155); Schluss: Ein offener Weg (S. 157-159); Anmerkungen (S. 161-167).
Gesellschaftlich wirksamer als jüdische Selbstreflexion ist die nichtjüdische Fremdbetrachtung. „Die Eigenschaft, Jude zu sein, wird einer Person oft von aussen zugeschrieben“ (S. 47). Während des Mittelalters und der Frühen Neuzeit war die Eigenschaft Jude zu sein klar durch das Festhalten an der jüdischen Religion in Beziehung zur christlichen Umwelt definiert. Dies änderte sich nachhaltig durch den Rasseantisemitismus des 19. und 20. Jahrhunderts, der sich auf scheinbar objektive Erkenntnisse der modernen Naturwissenschaften berief. Diese neuen Vorstellungen manifestierten sich im Alltagsantisemitismus des Fin de Siècle und der Zwischenkriegszeit, nicht nur gegenüber Menschen jüdischen Glaubens, sondern nunmehr auch gegenüber jüdischen Konvertiten, von denen nicht wenige als Kulturschaffende und Intellektuelle die österreichische Gesellschaft nachhaltig prägten (S. 46-47).
Die Betroffenen selbst versuchten ihre Herkunft vielfach in den Hintergrund zu schieben. Jérôme Segal zitiert in diesem Zusammenhang die ungarische Philosophin Ágnes Heller (*1929): „Das war eine unbekümmerte Familie, sie hatten viel übrig für die fröhlichen Seiten des Lebens. Rituale zählten nicht, es gab weder Weihnachten noch Chanukka. Eine typisch aufgeklärte deutsch-österreichische Familie [...] Das jüdische Ethos lebte in ihnen unabhängig von der jüdischen Religion“ (S. 49-50).
Doch beim Rasseantisemitismus gibt es kein Entrinnen. Der von den Nationalsozialisten abgewandelte Ausspruch Georg Ritter von Schönerers brachte es auf den Punkt: „Was der Jude glaubt, ist einerlei, in der Rasse liegt die Schweinerei!“, ebenso die gönnerhaften Äusserungen Karl Luegers bzw. Hermann Görings: „Wer ein Jud‘ ist, bestimme ich!“ Die Vorstellungen einer rassischen Zuordnung waren derart prägend, dass sie über den Holocaust hinaus bis heute in unserer westlichen Gesellschaft wirksam sind, und das nicht nur in den Köpfen von Antisemiten.
Ein besonderes Anliegen des Buches ist die kritische Betrachtung der rituellen Beschneidung (S. 61-77). Jérôme Segal hatte sich mit dieser Thematik bereits anderweitig beschäftigt, u. a. in seinem Artikel: Die Beschneidung aus jüdisch-humanistischer Perspektive. In: Matthias Franz (Hrsg.): Die Beschneidung von Jungen. Ein trauriges Vermächtnis. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2014, S. 211-227. Zwar gibt es heute jüdische Familien, deren Söhne sich später selbst für oder gegen den Glauben und das Ritual der Beschneidung entscheiden können, dennoch wird die Zirkumzision mehrheitlich als das von G'tt gebotene Zeichen für die Zugehörigkeit männlicher Juden zum Volk Israel angesehen und praktiziert. Jérôme Segal ist ein erklärter Gegner der Beschneidung. Er versucht die vom traditionellen Judentum für die Zirkumzision vorgebrachten religiösen Argumente durch säkulare (soziale und medizinische) Gegenargumente zu relativieren.
Eine weitere zentrale Materie des Buches ist die Frage „Wie sich Israel als jüdischer Staat versteht“ (S. 113-129) mit dem Unterkapitel „Zionismus, Nationalismus und Antizonismus“ (S. 113-119).
1896 erschien das Büchlein „Der Judenstaat“ von Theodor Herzl, worin die Judenheit aufgefordert wurde, Europa Richtung Palästina zu verlassen. (Der Untertitel: „Versuch einer modernen Lösung der Judenfrage“ berührt heute unangenehm, war jedoch damals eine auch von Juden benutzte gängige Formulierung innerhalb einer antisemitischen Umwelt.) Zwar gab es seit dem 19. Jahrhundert eine verstärkte jüdische Zuwanderung nach Palästina, die Ideen des Zionismus sickerten jedoch nur langsam in die Köpfe der Juden der europäischen Diaspora. Im Gegenteil, der Zionismus stiess als Gegenkonzept zur Assimilation zunächst auf heftige Kritik. Eindrucksvoll schildert Stefan Zweig in seinen autobiographischen Aufzeichnungen „Die Welt von gestern“ die Reaktion der Wiener Juden auf die Ideen und Forderungen Theodor Herzls:
„Ich [...] kann mich aber der allgemeinen Verblüffung und Verärgerung der Wiener bürgerlich-jüdischen Kreise wohl erinnern. Was ist, sagten sie unwirsch, in diesen sonst so gescheiten, witzigen und kultivierten Schriftsteller gefahren? Was treibt und schreibt er für Narrheiten? Warum sollen wir nach Palästina? Unsere Sprache ist deutsch und nicht hebräisch, unsere Heimat das schöne Österreich. Geht es uns nicht vortrefflich unter dem guten Kaiser Franz Joseph? Haben wir nicht unser anständiges Fortkommen, unsere gesicherte Stellung? Sind wir nicht gleichberechtigte Staatsangehörige, nicht eingesessene und treue Bürger dieses geliebten Wien? Und leben wir nicht in einer fortschrittlichen Zeit, welche alle konfessionellen Vorurteile in ein paar Jahrzehnten beseitigen wird? Warum gibt er, der doch als Jude spricht und dem Judentum helfen will, unseren bösesten Feinden Argumente in die Hand und versucht uns zu sondern, da doch jeder Tag uns näher und inniger der deutschen Welt verbindet? Die Rabbiner ereiferten sich von den Kanzeln, der Leiter der ›Neuen Freien Presse‹ verbot, das Wort Zionismus in seiner ›fortschrittlichen‹ Zeitung auch nur zu erwähnen.“ (S. 116-117)
Viele der jüdischen Emigranten kamen nicht unbedingt als Zionisten nach Palästina, trugen aber implizit zur Verwirklichung der zionistischen Idee bei. Weniger bekannt ist die Tatsache, dass sich Herzl seinen Jüdischen Staat nicht nur in Palästina, sondern auch in Argentinien oder Uganda vorstellte konnte (S. 117). Auf jeden Fall war der Zionismus primär eine durch den europäischen Antisemitismus initiierte säkulare Solidarbewegung, wie sich ja auch der Staat Israel als eine solche Solidargemeinschaft versteht.
Genauso wenig wie sich das jüdische Wiener Bürgertum eine Rückkehr in das biblische Palästina vorstellen wollte, genauso wenig konnte man sich die Verfolgung und Vernichtung des europäischen Judentums durch die Nationalsozialisten vorstellen. Letztlich verinnerlichten erst die Überlebenden des Holocaust und deren Nachkommen den zionistischen Gedanken und erkannten im jüdischen Staat einen sicheren Garanten für die Existenz der Judenheit.
Bedauerlicher Weise beförderte die Holocausterfahrung gerade in Israel einen sowohl säkular als auch religiös motivierten Rassismus. So äusserte die israelische Regierungschefin Golda Meir im Jahre 1972 über gemischte Ehen: „Wer einen Nichtjuden oder eine Nichtjüdin heiratet, trägt zu den sechs Millionen bei“ Natürlich steht der Autor solchen Entwicklungen durchaus kritisch gegenüber (S. 49-56).
Jérôme Segal wendet sich eigentlich gegen alle Formen religiöser und gesellschaftlicher Extreme. Er wünscht sich im Grunde ein humanistisches, kosmopolitisches Judentum, vergleichbar etwa mit der Ethik eines Ludwig Zamenhof oder eines Hans Küng. Er fordert sozusagen einen „Humanismus über die Religion hinaus“. Nicht von Ungefähr widmete er sein Buch dem arabischen Internet-Aktivisten Raif Badawi „in der Hoffnung, dass er bald aus dem saudiarabischen Gefängnis befreit wird und vielleicht sogar zu einem Buch ›Islam über die Religion hinaus‹ beitragen kann.“